Issue 1/2001


Editorial


Orte, Szenen, geografische Brennpunkte: Seit geraumer Zeit hat sich im Kunst- und Diskursbetrieb eine neue Nachfrage nach dem Lokalen entwickelt. Dieser gesteigerte Bedarf nach örtlicher Spezifik und/oder regionaler Differenz geht im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurück, die einander wechselseitig bedingen. Zunächst ist dies der wachsende Druck überregionaler, ja übernationaler Mächte, unter deren Gewicht - so eine lange gehegte Vermutung - das Lokale und damit scheinbar Abgeschirmte immer mehr zurückgedrängt wird. Zeichen solcher Verdrängung sind im globalen »Labeling« urbaner und suburbaner Oberflächen, aber auch in der Ausbildung von immer stärker nivellierten Diskursstandards zuhauf erkennbar. Dem entspricht auf der anderen Seite eine immer feinteiligere Ausdifferenzierung globaler Waren- und Kulturangebote, die auf örtliche Nischenbildungen und Lokalisierungsprozesse großen Wert legen. Auf den Kunst- und Diskursmarkt bezogen heißt dies nicht zuletzt, dass im ominösen Bedrohungsbild einer gleichmacherischen Globalkultur immer auch der Etablierungswunsch »devianter«, lokalspezifischer Praktiken und Ansätze mitschwingt. Im Gegenzug wird den weltgeografisch »abweichenden«, sich szenemäßig different gebenden Positionen häufig eingeräumt, dass sie besonders gut gewappnete Widerstandsbastionen gegen einen totalitär verstandenen Mainstream seien. Ob dem tatsächlich jemals so sein könnte - diese Frage verschwindet oftmals hinter der vordergründigen Setzung von lokalspezifischer Dichte und Besonderheit gegenüber ort- und profilloser Indifferenz. Scheinbar unauflösbare Differenzen zwischen Lokalem und Globalem, zwischen Orten und Nicht-Orten sind häufig die Folge.

Das Heft »Lokale Szenen« geht dem Status des Ortsgebundenen sowie einzelnen, in Form von Szenezusammenhängen lokalisierten Positionen nach. »Ungleiche geografische Entwicklung« lautet eine Formel, mit der etwa der Theoretiker David Harvey Globalisierungsphänomene auf kritischer Basis zurechtrücken möchte. Im springerin-Interview erläutert Harvey seine Sichtweise des Lokalen angesichts einer immer krasseren Koexistenz von sozialen Unterschieden auf engstem Raum. Dass ein lokales (Produktions-)Flair etwa in Bezug auf afrikanische Kunst zu einem wichtigen Marketinginstrument geworden ist, im Grunde aber eine umstrittene Kategorie bleibt, legt Christian Kravagna in seinem Beitrag dar, der die klare Abgrenzbarkeit von Terrains wie Gegenwartskunst, Anthropologie und Globalismuskritik zunehmend in Frage gestellt sieht. Ein Panorama aktueller, auf geografische Räume bezogene Ausstellungen und damit einhergehender Problematiken - von afrikanischen Befreiungsbewegungen über südamerikanische Kunst bis zu gegenwärtigen Positionen aus der Konfliktzone Naher Osten - führt konkrete Einzelszenarien vor: In welchem Verhältnis stehen individueller Ansatz, Lokalkolorit und die darüber hinausweisende geopolitische Einbettung? Welche lokalpolitischen Argumente lassen sich umgekehrt aus der heterogenen Vielzahl nicht-westlicher künstlerischer Positionen ableiten?

Eine Reihe weiterer Beiträge beschäftigt sich mit der praktischen Konsistenz nicht-hegemonialer Orte. Anhand eines aktuellen kulturpolitischen Querschnitts durch die Moskauer Szene wird nicht nur deutlich, wie verflochten die Verbindungen zwischen Underground und Mainstream mittlerweile sein können, sondern auch, welchen Hindernissen der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen nach dem Zusammenbruch eines verbindlichen Systemrahmens ausgesetzt ist. Ähnlich komplex muss die Neugründung kritischer Institutionen an einem Ort wie Belgrad verlaufen, wo die Geschichte von macht- und regimekritischen Unternehmungen stets mit der Unmöglichkeit konfrontiert war, lokale, regionale, nationale und internationale Maßstäbe miteinander zu vermitteln. Das in diesem Heft diskutierte Modell einer »Schule für Geschichte und Theorie der Bilder« belegt dies anschaulich.

Schließlich noch der Sprung von einer progressiven Konzeption und möglichen Neugestaltung realer Orte zur realen Ausgestaltung »unmöglicher Orte«: Gemeint sind damit utopische Potenziale, wie sie sich an einer Vielzahl gegenwärtiger (Protest-)Schauplätze, sei es im Kulturleben oder im dezidiert aktivistischen Kontext, festmachen lassen. Nicht bloß an den Schnittstellen zu historischen Utopien und deren konkreten Formenrepertoires wären solche ideengebende Potenziale zu suchen. Auch anhand einer Reformulierung des Politischen, wie dies Brian Holmes im Anschluss an den französischen Philosophen Jacques Rancière versucht, lässt sich ermessen, welch konkreten Utopismus die Idee einer anonymen Selbstermächtigung von unten befördern könnte. Dass deren Ort immer zwischen den konkreten Zwängen des Hier und Jetzt und der notwendig misslingenden - globalen - Identifikationen liegt, heißt nicht, dass das Lokale immer schon überwunden ist. Es bedeutet aber ebensowenig, dass die lokale Einbettung der allein gültige Horizont sein kann.