Heft 1/2023


Zuhören


Lange stellte in der Welt der Kunst das Primat des Sehens bzw. des Visuellen eine unhinterfragte Grundannahme dar. Zwar wurde immer wieder Kritik am „Okularzentrismus“ oder, allgemeiner gefasst, an der Errichtung des westlichen Weltbildes auf der Basis unbewusst-optischer Koordinaten laut. Doch diese Hinterfragung der Priorität des Visuellen schien, vor allem was weitreichendere kulturelle Kontexte anging, nie wirklich konsequent vorangetrieben. Selten auch wurde die grundlegende Rezeptivität, die jedes Kunst- und Kulturverständnis unweigerlich ausmacht, auf eine andere sensuelle Basis als diejenige des Sehens zurückzuführen versucht. Grund genug, um nach den Bedingungen, wenn nicht der Notwendigkeit, einer Kunst des Hörens zu fragen. Oder besser: einer Kunst des "Zuhörens". Schließlich belegen viele kulturelle Konfliktherde der Gegenwart, dass schlichtweg nicht mehr zugehört wird. Gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen sind zu einem Musterbeispiel partikularistischer bzw. sektiererischer Rechthaberei geworden. Das sozial-medial vernetzte Subjekt ist aller vermeintlichen Weltoffenheit zum Trotz überwiegend im Widerhall der eigenen Stimme gefangen. Und die im kulturellen Geschehen allseits propagierte Diversität erfährt dort ihren Härtetest, wo es darum geht, dem/den Anderen tatsächlich Gehör zu schenken. Wollte man eine Gemeinschaft der/des Heterogenen begründen, müssten erst einmal die Stimmen und sonstigen Bekundungen des Fremden und Uneinheitlichen vernommen werden – ohne von vornherein schon zu wissen, was der/die Andere kann, will, muss oder soll. Zuhören, oder Zuhören-Lernen, als komplexe, gemeinschaftsbildende Praxis: Diesem Versuchsszenario möchte die erste Ausgabe 2023 nachgehen, von wahrnehmungstheoretisch-medialen Überlegungen über interpersonelle bzw. -subjektive Aspekte bis hin zur großen Frage, wo sich im großen globalen Stimmengewirr so etwas wie Verständnis (um nicht zu sagen Einverständnis) ausmachen lässt.

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