Issue 2/2025


Solidarities

Editorial


„Festmachen“, „stärken“, „gemeinsam haften“ lauten die ursprünglichen Bedeutungen des Begriffs „Solidarität“, der heute mehr denn je durch vielerlei Diskurse geistert. Tagtäglich finden Solidaritätsbekundungen unterschiedlichster gesellschaftlicher Akteur*innen statt, mit diesem oder jenem Anliegen, oft fernab der eigenen Lebensrealität. Fast könnte man meinen, in einer höchst solidaritätsaffinen Zeit zu leben – und doch bleibt der schale Nachgeschmack, dass hier mitunter ein sinnentleerter Signifikant im Mund geführt wird. Oder anders: Dass hier eine Floskel bemüht wird, ohne dass konkret-inhaltlich etwas auf dem Spiel stünde, außer die eigene Rechtschaffenheit zu demonstrieren.
Auch künstlerische Praktiken ergehen sich zusehends in Solidaritätsansinnen – wenn nicht werkimmanent, so doch vielfach (kultur-)institutionell, was auf der anderen Seite immer wieder zu Parteilichkeitsvorwürfen führt. Kunst, die solidarisch sein möchte, solle sich lieber auf die Reflexion und Ausgestaltung ihrer ureigensten Mittel beschränken, lautet ein diesbezüglich häufig vorgebrachtes Argument. Kunst, die schamlos „pro dies“ oder „anti jenes“ eintrete, lasse sich zu sehr instrumentalisieren, lautet ein anderes.
Doch wie könnte eine tragfähige Idee von Solidarität aussehen, die Kunst und Nicht-Kunst, soziale Akteur*innen quer durch alle Schichten und über kulturelle Grenzen hinweg miteinander verbindet? Wie ist es um das Konzept einer „transformatorischen“ Solidarität bestellt, die sich nicht mit Lippenbekenntnissen begnügt, sondern die verändernde Kraft planetarischer Interdependenz im Blick hat? Kurzum: Wie lässt sich der Begriff retten oder mit neuem Leben erfüllen?
Vielleicht, indem man ihn zurückholt in die Sphäre des Konflikts – dorthin, wo er nicht von vorneherein Konsens markiert, sondern Konfrontation, eine mitunter unbequeme Beziehung über alle möglichen Differenzen hinweg. Leah Hunt-Hendrix und Astra Taylor vertreten in dieser Ausgabe genau diese Ansicht, wenn sie Solidarität nicht als Einverständnis, sondern als relationale Kraft verstehen. Dabei unterscheiden sie zwischen reaktionärer Solidarität – die auf Ausschluss zielt bzw. ein fest umrissenes „Wir“ im Auge hat – und transformativer Solidarität – die den Möglichkeitsraum erweitert und neue Querverbindungen herzustellen versucht. Doch wer transformativ agieren möchte, stößt unweigerlich an die Bruchkanten gegenwärtiger Verhältnisse. Reale Angriffe auf solidarisches Handeln gibt es zuhauf – sei es in Form staatlicher Repression, zunehmender Willkürgesetzgebung oder medialer Diffamierung, allesamt basierend auf der strukturellen Müdigkeit eines erschöpften Neoliberalismus.
Jeremy Gilbert führt demgegenüber einen nahezu vergessenen Aspekt ins Treffen, nämlich die Bereitschaft, sich in ein Verhältnis gegenseitiger Verantwortung zu setzen. Es geht weniger um ein Handeln von Gleichgesinnten als vielmehr eines von miteinander „Verwickelten“ – Menschen, die Unterschiedliches wollen, aber genug gemeinsam haben, um sich gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen. Alexander Behr geht diesem Gedanken auf globaler Ebene nach: Seine Analyse der „imperialen Lebensweise“ zeigt, wie tief eingebettet westlicher Wohlstand in transnationale, ja koloniale Ausbeutungsverhältnisse bleibt. Was es daher braucht, sind neue Formen globaler Bündnisse, neue Arbeitsteilungen, Handlungsformen, die nicht auf karitativen Gesten beruhen, sondern auf gerechtem Ressourcenausgleich und strategischer Kompliz*innenschaft. Darin zeigen sich auch die Bruchlinien gegenwärtiger Solidarität: Wer darf sich solidarisch zeigen – und mit wem? Wer wird gehört, wer ignoriert? Welche Solidaritäten werden institutionell anerkannt – und welche kriminalisiert?
Bojana Piškur erinnert in diesem Zusammenhang an die Venedig-Biennale 1974 – als der Sturz der Allende-Regierung in Chile nicht mit diplomatischer Zurückhaltung, sondern mit klarer antifaschistischer Positionierung beantwortet wurde. Solidarität nicht als abstrakte Größe, sondern als künstlerisches Handeln mit gezieltem Risiko. In eine ähnliche Richtung geht Bert Rebhandls Rekurs auf die Geschichte des Kinos: von Jean-Luc Godards Blick nach Algerien und Palästina über das revolutionäre Erbe Guinea-Bissaus bei Filipa César bis hin zu dem grenzüberschreitenden Dokumentarfilm No Other Land – Solidarität erscheint hier nirgends als abstrakte Idee, sondern als konkrete Praxis – filmisch vermittelt, transnational gedacht und stets verwoben mit Kämpfen um Befreiung und Gerechtigkeit.
Indessen sollen auch die genaueren Begrifflichkeiten, in denen Solidarität gedacht wird, nicht unbeachtet bleiben, ebenso wie die Widersprüche, die darin aufbrechen. So thematisieren Ana Teixeira Pinto und Sven Lütticken im Gespräch die diesbezüglich zutage tretenden Ambivalenzen, etwa wenn Identitätspolitik vorschnell abgewertet wird und wie dies dem kulturkämpferischen Eifer der extremen Rechten in die Hände spielt. Dass die Angst vor „Wokeness“ zum kontinetübergreifenden Vehikel des neuen Autoritarismus geworden ist, zeigt sich vielerorts – von amerikanischen Universitäten bis hin zu europäischen Ausstellungshäusern. Und doch wird oftmals übersehen, dass es gerade diese diffamierten Bewegungen waren – gegen Rassismus, gegen patriarchale Gewalt, für queeres Leben –, die solidarische Praxis zu neuem Leben erweckt haben. Nicht als homogene Masse, sondern als Differenzgemeinschaft, mit geteiltem Risiko.
Die Ausgabe versammelt Stimmen, die all diese Konflikte ernst nehmen – nicht um sie ein für alle Mal zu lösen, sondern sichtbar zu machen (etwas, das auch die Bildbeiträge von Michaela Melián, des Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise / CATPC oder von Roee Rosen auf ihre je spezifische Weise tun). Es geht um Formen, in denen Differenz nicht nivelliert, sondern verhandelt wird. Um Allianzen, die brüchig sind und gerade deshalb produktiv. Und um die Frage, ob Solidarität vielleicht nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt von Veränderung sein könnte.