Noch ist keineswegs klar, mit wie viel Recht man von einer Diskursverschiebung sprechen kann, oder gar von einem Paradigmenwechsel. Dennoch läßt sich an der zeitgenössischen Fotografie und den Formen ihrer medialen Aufbereitung ein Phänomen beobachten, das in Richtung einer EntProblematisierung bzw. Re-»Naturalisierung« des fotografischen Blicks weist. Der künstlerische Blick auf die Welt, noch ehe dieser näher spezifiziert ist, erweist sich in den Produktionsformen, von denen hier die Rede ist, in einer Weise als »unmittelbar«, »unkompliziert« und direkt, die nicht ganz losgelöst von dem Hintergrund einer allgemeinen »Entkrampfung« politischer Diskursformen und kultureller Praktiken zu sehen ist, welche in der mancherorts verspürten Erleichterung im Zuge des Backlash gegen PC nur ihren markantesten Ausdruck findet. Kulturproduzenten wie andere Akteure des öffentlichen Lebens fühlen sich wieder freier von den Beschränkungen, die sie ihrem Sprechen und Handeln von anti-diskriminatorischen Vereinbarungen auferlegt sahen.
Das künstlerische Feld im engeren Sinne zeigt in vielerlei Hinsicht Tendenzen, den »intellektualistischen« Praktiken der vergangenen Jahre auf subjektivistische Weise gegenzusteuern und deren politisch-gesellschaftskritische Ansätze durch eine neuerliche Orientierung am produzierenden Individuum und seinen persönlichen Perspektiven zu ersetzen. Wie weit es gerechtfertigt ist, Oppositionen dieser Art im Sinne einer historischen Abfolge zu begreifen, wird sich erst mittelfristig erweisen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt existieren allzu viele, teilweise äußerst differente Modelle nebeneinander, sodaß für den Augenblick nur von momentanen Akzentverschiebungen und noch nicht von einer endgültiger Wachablöse gesprochen werden kann.
Der Versuch, einige für die aktuelle Umbruchsphase signifikant erachtete Reformulierungen künstlerischer Positionen gerade am Beispiel der Fotografie nachzuzeichnen, gründet sich einerseits auf die zentrale Rolle, die das fotografische Bild im Gesamtrahmen visueller Repräsentation nach wie vor spielt. Andererseits berücksichtigt er den ebenso zentralen Stellenwert von künstlerischen Praktiken, die sich der Fotografie bedienten, in der Repräsentationskritik der späten siebziger/frühen achtziger Jahre. Die grundlegende Einsicht in die Vermitteltheit der Erfahrung und des Begreifens von Welt durch den immer schon wirksamen Bildfundus der Medien, der Werbung, der Künste usw. ließ die Stützpfeiler modernistischer Vorstellungen, wie Autorenschaft, Subjektstatus, Originalität, fragwürdig erscheinen. Die Neutralität, Evidenz oder Wahrheit künstlerischer Bilder konnte ab dem Moment nicht weiter vertreten werden, wo die ideologischen Funktionsweisen der Bilder im allgemeinen, ihre Verflechtung in ökonomische und politische Interessen, als eine Tatsache der spätkapitalistischen Gesellschaften erkannt wurde. Die »Politik der Repräsentation« wurde zum bevorzugten Arbeitsfeld von KünstlerInnen wie Victor Burgin, Cindy Sherman, Richard Prince, Sherrie Levine, Barbara Kruger u.v.a. Nicht die Produktion »eigener« Bilder war das vordringliche Anliegen der - zumindest im amerikanischen Diskurs - als »postmodern« apostrophierten Strategien von Appropriation, Wiederholung, Inszenierung, Simulation, sondern die Analyse, Kontextualisierung und Kritik herrschender Repräsentationsformen. Es ging (und geht vielfach noch) um die Dekonstruktion der Machtverhältnisse, die sich in die Produktion, Verbreitung und Rezeption öffentlicher Bilder einschreiben.
Meine Hypothese geht nun dahin, daß sich gegenwärtig ein Prozeß in Richtung einer Re-Subjektivierung des fotografischen Blicks abzeichnet. KünstlerInnen wie ihre Interpreten scheinen sich mehr und mehr der Filter entledigen zu wollen, die die künstlerische und theoretische Repräsentationskritik zwischen das wahrnehmende Subjekt und die Objekte seiner Wahrnehmung eingezogen hatte. Der Forderung nach einem »politisierten Sehen«, wie sie die kritischen fotografischen Praktiken der späten siebziger und achtziger Jahre erhoben, steht ein unkompliziertes Verhältnis zum Blick auf die Welt und die anderen entgegen. Dabei kommt es vielfach zur Rekonsolidierung zwischenzeitlich erschütterter Instanzen sowie zu beunruhigenden Komplizenschaften mit revisionistischen Entwicklungen auf gesellschaftspolitischer Ebene.
»Ich habe ziemlich viel Übung darin, möglichst diskret und unauffällig zu sein.« - Beat Streuli
Ich möchte mit einem Künstler beginnen, dessen durchschlagender Erfolg während der vergangenen Jahre insofern von besonderem Interesse ist, als seiner Kunst keinerlei besonders spektakuläre oder provokante Inhalte oder Methoden abzulesen sind. Ganz im Gegenteil: der Erfolg von Beat Streulis Fotografien alltäglicher Szenen in den Straßen und Plätzen westlicher Großstädte scheint mit einer weitverbreiteten Sehnsucht nach dem »Normalen« zu tun zu haben, einem Bedürfnis nach Bildern unserer Lebenswelten, die weder anklagen noch irritieren noch überwältigen, sondern einfach festhalten wollen. Streulis urbane Momentaufnahmen haben etwas von der Gelassenheit des Impressionismus, von seiner Konzentration auf die Oberfläche der visuellen Erscheinung. Auch in den formalen Mitteln zeigen die Fotos Parallelen zu den Bildern der Maler des modernen Lebens. Die angeschnittenen Figuren, das Flüchtige ihrer Bewegungen, die Auflösung ihres Umfelds in Licht und Farbe suggerieren ein Vorbeigleiten der Menge am aufmerksamen, aber gleichgültigen Beobachter. Streulis Bilder verweisen auf einen desinteressierten, neutralen Blick, der die Figur des Flâneurs wiederbelebt. Hatte die marxistische und feministische Dekonstruktion dieses Heroen der Moderne ihn als eine durch Klasse und Geschlecht definierte Subjektmetapher ausgewiesen und die modernistische Gleichsetzung des bürgerlichen, männlichen Blicks mit dem »reinen«, »neutralen« Blick als ideologische Konstruktion entlarvt, so kommt er nun wieder erstaunlich unhinterfragt zu Ehren.
Streulis Fotos sind zweifellos von formaler Brillanz, und gerade sie ist es, die ihre Konstruktionsprinzipien verschleiert. Die Streuli-Literatur feiert ein Baudelaire-Revival und übersieht die Selektionsmechanismen, die dem »reinen, fotografischen Blick, (dem) Sehen an sich«1 zugrundeliegen. So zeigen die Aufnahmen fast durchwegs junge, schlanke, gutaussehende Menschen, die überwiegende Mehrzahl von ihnen Frauen. Sie werden mit dem Teleobjektiv aus der Distanz der unbeobachteten Betrachterposition herangeholt und immer wieder ein Stück ihres Weges verfolgt. Der Fotograf hat mittlerweile »ziemlich viel Übung darin, möglichst diskret und unauffällig zu sein«2. Er sucht sich seine Objekte vor allem in den Stadtzentren und ihren Fußgängerzonen, von denen wohl nicht alle sagen können, daß sie »95% unseres Lebens prägen«3, wie das der Künstler tut. Schließlich sind die Bilder grundsätzlich bei starkem Sonnenlicht aufgenommen, was ihren malerischen Charakter verstärkt und den Fotos eine durchwegs heitere Ausstrahlung verleiht. Auf dieser Bühne kommen häufig Menschen verschiedener Hautfarben ins Bild, die, »obwohl sie Minderheiten angehören, keine Zeichen von Marginalisierung zeigen.«4 Die vorgeblich »neutralen Leute« werden durch die (bewußten oder unbewußten) Prinzipien ihrer Auswahl und die harmonisierende Ästhetik ihrer Darstellung zu Statisten eines Gesellschaftsbildes, welches das Bestehende als schön affirmiert und dabei soziale und geschlechtliche Gegensätze verschleiert. So stehen »diese fast schon utopischen Bilder einer multikulturellen Gesellschaft«5 gerade wegen ihrer scheinbaren Objektivität für einen konservativen Humanismus.
Die politisch reflektierte fotografische Praxis der vergangenen zwanzig Jahre war sich der Tatsache bewußt, daß insbesondere die Straßenfotografie »eine Form fotografischer Produktion ist, die sowohl von Männern dominiert ist als auch auf der Annahme basiert, daß Sinn zufällig in der Welt gefunden und im Bild gerahmt wird.«6 Streuli-Interpreten, die nicht, wie die meisten unter ihnen, diese Geschichte völlig verdrängt haben, können seine unkomplizierten Bilder zum offenen Gegenschlag gegen die, manchen unangenehmen, dekonstruktiven Foto-Diskurse nützen. »Considering the vast body of feminist photographic practice based around >the gaze<, schreibt Adrian Dannatt, »what a treat is it to find a vibrantly, defiantly heterosexual male prepared to enjoy all the ambiguities of watching and photographing the opposite sex.«7 So bietet sich die Identifikation an mit einem re-installierten transzendenten (Betrachter-)Subjekt, das kein Interesse an »such old fashioned artistic notions«8 wie der Reflexion jener Machtverhältnisse hat, die sich in ihm verkörpern.
Die Autorität der Beobachtung und die verborgene Macht des »screen« - Andres Serrano
Dem flaneurhaften Distanz-Blick von Streuli lassen sich mit Andres Serrano und Nobuyoshi Araki zwei Modelle gegenüberstellen, die in Teilen und einen Moment lang, die blinden Stellen des »reinen Sehens« zu kompensieren scheinen.
Serranos neuere Serien »Budapest« und »Nomads« fallen auch in die Kategorie Städtebilder, doch wenden sie sich den von Streuli vernachlässigten Orten und Menschen zu. Sie können gewissermaßen als die Schattenbilder zu Streulis heiteren Lichtspielen gelesen werden. Im Gegensatz zur Kamera als positivistischem Registrierapparat, der einfach festhält, was ihm vor die Linse kommt, sind Serranos Sujets offensichtlich gesucht. Die von ihm dargestellten Menschen nehmen daher immer schon über das Sichtbare hinausgehenden symbolischen Charakter an. Der Blick, der sich auf Obdachlose in U-Bahnen oder Szenen aus dem Prostituiertenmilieu richtet, ist zwar mehr an seinen Objekten interessiert, doch ist er durch und durch von jener Klassendifferenz markiert, die aus einer niemals tangierten Position des Wissens und der Kontrolle soziographische Studien betreibt. Die Unterwerfung der Subjekte aus Randgruppen und Unterwelten unter die Autorität der Beobachtung und Aufzeichnung erinnert unweigerlich an die Frühgeschichte der Fotografie, die, auf der ideologischen Grundlage der Evidenz garantierenden technischen Apparatur, den institutionalisierten Formen der Überwachung und Regulierung von Beginn an bedeutende Dienste erwies.
Das Bewußtsein über die strukturellen Zusammenhänge des fotografischen »Wahrheitscharakters« mit den Operationen der Macht hatte KünstlerInnen der siebziger Jahre zu einem grundsätzlichen Überdenken der Repräsentationspraktiken bewogen. Im Zusammenhang von Serranos Sozialvoyeurismus, der ungebrochen auf den Aussagewert von Bildern setzt, kann etwa an Martha Roslers »Bowery«-Serie erinnert werden, die explizit auf das Genre der Sozialreportage reflektiert.
Rosler stellt das New Yorker Alkoholikerviertel in »Two Inadequate Descriptive Systems«, dem visuellen und dem sprachlichen, dar. Die Serie konfrontiert Fotos der einschlägigen Geschäftslokale mit einem Lexikon der Trunkenheit. Bild und Text evozieren ausreichend bekannte und klischeehafte Vorstellungen, diese lassen sich aber infragestellen, da sie eben nicht noch ein weiteres mal festgeschrieben werden. Der bewußte Verzicht auf die Darstellung der »Opfer« ist Ausdruck des Wissens um ihre Spektakularisierung in Praktiken, wie sie Serrano verfolgt. In seinen Bildern manifestiert sich unwillkürlich die Wirkmacht des »screen« der kulturell etablierten Vorstellungen, dem die kritische Aufmerksamkeit des dekonstruktiven Fotografiediskurses galt.
»Ich-bringe-mich-in-meiner-ganzen-Leiblichkeit-mit-ein« - Araki
Seit einigen Jahren herrscht in Europa und Amerika ein regelrechter Araki-Boom. Die Mechanismen der westlichen Rezeption des japanischen Fotografen rechtfertigen seine Berücksichtigung im Zusammenhang neuerer Positionen, obwohl Araki als Vertreter einer älteren Generation diesen nicht eigentlich zuzurechnen ist. Neben einem gewissen Exotik-Bonus, der verhindert, daß die fragwürdigen Seiten seiner Kunst nach denselben Maßstäben gemessen werden wie jene westlicher Künstler, zeichnet Arakis Praxis eine scheinbare Qualität aus, die sowohl Streulis Flaneur-Blick als auch der Voyeurismus Serranos vermissen lassen. Nämlich so etwas wie die persönliche Verstrickung in die dargestellten Szenerien, eine verkörperlichte Betrachterperspektive.
Während Fotografen wie Streuli und Serrano in Interviews immer wieder auf die mit Schwierigkeiten verbundene Vorgangsweise des unsichtbaren Beobachtens hinweisen, beruht die Araki zugestandene »Authentizität« gerade auf einer intensiven Beziehung zu seinen Modellen. »My relationship with my subjects is extremely important to me - I value that time and space of communication between myself and the subject when I´m working - so the more sensual the photograph is, the better.«9 Aus dem Wissen um die Problematik des transzendenten Betrachter-Subjekts meint die Araki-Rezeption in der teilnehmenden Perspektive eine »partnerschaftliche« Praxis zu erkennen, die den Fotografen irgendwo in die Nähe Larry Clarks stellt.
Arakis »Ich-bringe-mich-in-meiner-ganzen-Leiblichkeit-mit-ein« hat jedoch nichts mit einem zumindest streckenweise geteilten Leben zu tun, es reduziert sich schnell auf die Gleichsetzung von erotischer oder sexueller Begegnung mit dem fotografischen Akt. Ein klassisches Muster der Beziehung männlicher Künstler/weibliches Modell entbirgt sich in Aussagen wie »If you take a camera as >man<, it´s as if you throw four or five men at a women« oder der Rede von »fotografischen Dauerejakulationen«10. Wie ungebrochen, ja lustvoll, die dem fotografischen Blick immer wieder angelastete Mortifikation seiner Objekte hier ausgelebt wird, demonstrieren die gefesselten nackten Frauenkörper in Arakis Bildern, die den Effekt der Apparatur schon auf der Ebene der Inszenierung anlegen.
Bemerkenswert ist weniger die Existenz künstlerisch ausgelebter Männerphantasien als die Argumentation, mit der naheliegende Sexismus-Vorwürfe entkräftet werden sollen. »I´m sure some will find it misogynist«, schreibt Nan Goldin, wichtige Araki-Vermittlerin in Amerika, um dann die Ebene der Repräsentation mit jener der Person zu verwechseln: »I don´t, but perhaps that´s I´ve seen and known his generosity and curiosity about people and about life, his love for and appreciation of women...His work is colored by love, and meant as hommage - to women and to beauty and to his own desires.«11 Der Westen scheint in Araki eine künstlerische Praxis zu genießen, die, völlig unbekümmert um kritische Diskurse und gesellschaftliche Funktionsweisen von Bildern, noch aus der Fülle des Lebens schöpft - eine Praxis, die er sich im eigenen Umfeld nur mehr schwer leisten kann.
»Die Angst, entdeckt zu werden« - Merry Alpern
»To rule is to render visible«, schreibt Kaja Silverman mit Bezug auf die kolonialistische (Polizei-)Fotografie.12 Die markante Formulierung hat jedoch relative Allgemeingültigkeit für den Zusammenhang von Fotografie und Macht, von der Haussmanisierung über die Slum Clearance-Programme bis zu aktuellen Überwachungstechniken. Auch wenn die Gesellschaft der Überwachung nicht mehr vornehmlich über visuelle Regime zu definieren ist, so bleiben diese dennoch weiterhin wirksam. Die Komplizenschaft künstlerischer Vorgangsweisen, welche die Prozesse von Beobachtung und Aufzeichnung zu entproblematisieren suchen, mit dem Ordnung und Sicherheit versprechenden Panoptismus ist nicht von der Hand zu weisen. Als ein extremes Beispiel dafür sei die Serie von »Dirty Windows« der Künstlerin Merry Alpern angeführt. Alpern beobachtete durch ein gegenüber gelegenes Fenster die Toilette eines illegalen Sex-Clubs in der Wall Street. Unter nach und nach gesteigerten Vorsichtsmaßnahmen (Verdunkelung, schwarze Kleidung) aus der Angst heraus, entdeckt zu werden, registrierte sie mit einem starken Teleobjektiv Prostituierte und Kunden bei verbotenen Handlungen. Was manche Kritiker zur Begeisterung über eine »Wahrhaftigkeit« veranlaßt, »die in einer gestellten Szene niemals zu erreichen wäre«13 , unterscheidet sich in nichts von staatspolizeilichen Observierungsmethoden. Vince Leo verweist in diesem Zusammenhang auf den Fall eines Paares, das von Nachbarn bei (visuell) ungeschütztem Sex mittels Videokamera beobachtet, in der Folge angezeigt, angeklagt und medial skandalisiert wurde, was mit dem Selbstmordversuch der Frau endete. »Surveillance is nothing new«, schreibt Leo, »but...cheap telephotos have now made it possible for everyone´s next-door neighbour to act out the paranoia, naked competition, and puritanical fear of physical contact that govern social relations today.«14
Der Voyeurismus des fotografischen Blicks, den »Dirty Windows« in hemmungsloser Weise auslebt, war in seinen unterschiedlichen Facetten Gegenstand von künstlerischen Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte - vom exotistischen Blick auf fremde Kulturen (Trinh T. Minh-ha bis Andrea Fraser) über die Subversion rassistischer Sehweisen (Lorna Simpson) bis zur Verknüpfung von museal inszenierter Schaulust mit dem sexuellen Voyeurismus (Zoe Leonard). Keine dieser Untersuchungen kam ohne »Umwege« über bereits existierende und gesellschaftlich wirksame Repräsentationen aus, kaum eine ohne »Rahmung« des Visuellen durch verbale, schriftliche oder installative Kommentierung.
In der Rolle des geheimnisvollen Unbekannten« - Sam Samore
Von besonderem Interesse für die hier skizzierte Verschiebung von dekonstruktiven zu entproblematisierten Foto-Praktiken scheint mir ein Künstler wie Sam Samore zu sein, da er - wenn der Schein nicht trügt - diese Verschiebung in persona verkörpert. Samores Arbeiten der frühen neunziger Jahre konnten als überzeugende Thematisierungen des illegitimen Blicks aus dem Verborgenen gelesen werden. Samore beauftragte Fotografen mit der Observierung fremder Personen und kam so zu grobkörnigen, unscharfen Telefotos, die Ähnlichkeit mit den Sensationsfotos von heimlich beobachteten Prominenten oder den Stills von Überwachungskameras hatten. Waren diese Bilder durch ihre technischen Mängel als illegitim ausgewiesen, so präsentieren sich die aktuellen Nahaufnahmen schöner Frauen ohne diese Trübungen. Die »Allegories of Beauty« scheinen den transparenten Voyeurismus in Richtung des fetischistischen Frauen-Bildes der Mode- und Werbefotografie umzulenken. Die in sich gekehrten »verträumt-verschlossenen« Gesichtsausdrücke bilden die klassische Projektionsfläche für männliches Begehren.
Da sich Sam Samore als Künstlerfigur gerne in der Rolle des geheimnisvollen Unbekannten gibt, ist aus Mangel an »Hintergrundwissen« ein gültiges Urteil schwer zu fällen. Aber gerade in dieser Hinsicht ist ein Vergleich mit den Bildern japanischer Frauen von Christopher Williams aufschlußreich. Die Fotos von Williams unterscheiden sich als solche in ihren Stimmungslagen kaum von denen Samores. Sie werden jedoch nicht als selbständige Werke präsentiert, sondern etwa unter dem Ausstellungstitel »Die Welt ist schön« zusammen mit anderen Arbeiten gezeigt, wodurch die Fotos von vornherein im Rahmen einer Reflexion von Welt-Bildern ansiedelt sind. Williams, der wie Samore seine Bilder von Profis anfertigen läßt, ist nur durch Kommentar und Kontextualisierung imstande, jene Brechung des fetischistischen Blicks erzeugen, die der rein visuelle Ebene nicht gelingt.
Vielleicht ist es paranoid, das gegenwärtige Wiederaufleben ent-problematisierter, re-»naturalisierter«, »subjektiver« Operationen des fotografischen Blicks überzubewerten. Der schleichende Verlust der Reflexion von sozialer, kultureller und geschlechtlicher Positionierung der Betrachter-Subjekte tendiert jedoch dazu, die Ideologie der Unschuld und Neutralität von Bildern wieder in Stand zu setzen. Damit geraten die Machtverhältnisse aus den Augen, mit denen die visuellen Evidenzen Allianzen bilden.
1 Beat Streuli im Gespräch mit Alexander Braun, in:Kunstforum 133, 1996, S.249.
2,3 Ebd.
4 Giorgio Verzotti, in: Artforum, XXXIV, 1, S.71. (Übers.:C.K.)
5 Streuli, wie Anm. 1, S.251.
6 Abigail Solomon-Godeau: Photography After Art Photography. In: Brian Wallis (Hg.): After the Modernism. Rethinking Representation. New York/Boston 1984, S.83. (Übers. C.K.)
7 Adrian Dannatt über Beat Streuli, In: Flash Art, XXVIII, 185, 1995, S.119.
8 Ebd.
9 Araki im Gespräch mit Nan Goldin, in: Artforum, XXVIII, 185, 1995, S.119.
10 Ebd.bzw. Araki-Interview von Roland Hagenberg/Walter Vogel, in: Camera Austria, 45, 1993, S.14.
11 Nan Goldin in der Einleitung zum Interview, wie 9, S.56.
12 Kaja Silvermann: The Threshold of the Visible World. New York/ London 1996, S. 147.
13 Martha Schwendener über Marry Alpern, in: Flash Art, XXIX, 186, S.99.
14 Vince Leo: Neighbourhood Watch, in: Frieze, 27, 1996.