Heft 2/1998 - Bildbegriffe, Bildproduktion


Visibility Blues

Eine Cultural Studies-Konferenz in Milton Keynes behandelte das Werk Stuart Halls und Fragen der multikulturellen Sichtbarkeit

Christian Höller


Die verschiedenen Schichten freilegen, die eine Archäologie des eigenen Lebens zutage fördert; die Plateaus und Bruchlinien herauspräparieren, die der lange Weg durch verschiedene Kulturen, Institutionen und mannigfache Theorien durchschritten und vor allem auch miterzeugt hat - so rekapitulierte Stuart Hall das zweitägige Diskurspanorama, das sich anläßlich seiner Emeritierung Mitte Mai an der Open University in Milton Keynes Ausschnitt für Ausschnitt zusammengefügt hatte. Daß diese gebrochenen, ineinander verschobenen und immer wieder neu überlagerten Schichten einer intellektuellen Biographie aufs engste mit dem Projekt der Cultural Studies verknüpft sind, ja in sich noch einmal diese seit gut drei Jahrzehnten anhaltende »Politisierung von Theorie« und »Theoretisierung der Politik« widerspiegeln, dies machte Halls Abschlußstatement ebenso deutlich wie die zehn ausgewählten Beiträge des Treffens. Ein »phantomartiges Kollektiv« (Hall), das der lose Cultural Studies-Verbund immer gewesen ist und immer bleiben wird, hatte sich zusammengefunden, um gerade angesichts ihrer globalisierten Verstreutheit den geänderten Bedingungen solch »imaginierter Gemeinschaften« nachzugehen. Was längst nicht mehr behauptet werden kann, nämlich daß dieser politisierte Theoriekonnex ein unsichtbares, ja marginales Dasein am Rand des akademischen Komplexes fristen müsse, legt im Gegenzug die Frage nahe, wie im Lichte dieser neuen Sichtbarkeit, einer Art »Hyper-Sichtbarkeit«, der historisch antreibende Impuls der Intervention und Dissidenz bewahrt werden kann.

Die Antworten darauf führen in jene Felder zurück, die Hall seit seiner Zeit am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) stets abzustecken versucht hat. Eines dieser Felder ist der Diskurs um »Race, Culture and Difference«; und Paul Gilroy machte in seinem Keynote-Vortrag deutlich, daß der Begriff der Ethnizität gegenwärtig eine grundlegende Transformation erfährt. Nicht mehr die - sichtbaren - Zeichen von Differenz, auch nicht die der »kulturellen« und damit oft neorassistischen, bestimmen die gegenwärtigen Rückschläge gegen einen demokratisch-relationalen Multikulturalismus - schließlich gehören die weithin zirkulierenden Bilder von »Blackness«, ob in der Pop- , Film- oder der Sportwelt, lange schon zum Repertoire einer globalen Kulturvermarktung. Vielmehr ist es ein gen- und biotechnologischer Determinismus, der auf viel unsichtbarerer, weil mikroskopischer Ebene ansetzt und hinter den Masken der Multikultur die alten Säuberungsideologien fortschreibt. Das zentrale Problem eines anderen, ethnisch offenen Europas liegt laut Gilroy darin, daß der neoliberale Leviathan drauf und dran ist, positiv besetzte Paradoxa wie jenes einer »black Britishness« samt und sonders zu verschlucken und jede neue, gerechtere Sozialpolitik dem wiederbelebten Biologismus zu opfern. Schließlich kann aber nur eine neue, postkolonial und translokal verortete Generation, ganz im Sinne Frantz Fanons, einen »neuen Zyklus der Befreiung« in Gang setzen und den Weg zu diesem »anderen Europa« weisen.

Dieser Übergang, den auch Homi Bhabha in seiner Dekonstruktion der Begriffe von Zugehörigkeit und Zuhause einmal mehr mit den »unkontrollierbaren Innovationen« der Dislozierten unterlegte, bleibt aber unhintergehbar an die Bedingungen von Sichtbar- und Unsichtbarmachung geknüpft. Diesen Punkt, so klassisch er mittlerweile im Cultural Studies-Feld erscheinen mag, belegte Kobena Mercer mit seiner Infragestellung der Young British Art (YBA) unter den - sonst meist ausgeblendeten - Vorzeichen von Ethnizität und Internationalismus. Die YBA, ein ironisches Amalgam aus Popkultur, (schlechter) Kunst und Modeversessenheit, beruht nach Mercer in ihrer überwiegend regressiven Weltflucht auf einem ganz bestimmten - ideologischen - blinden Fleck: der ausgeblendeten Frage der Ethnizität und einem unkritisch gesetzten Britentum. So sind schwarze KünstlerInnen weder in der Kategorie YBA enthalten noch dezidiert von ihr ausgeschlossen - ein weiterer Beleg für den geänderten Umgang mit Ethnizität. In den neunziger Jahren sind Differenzen sichtbarer denn je, ja geradezu zu einer Art »Hyper-Blackness« beziehungsweise voll integrierten Sichtbarkeit gesteigert, während sozialpolitisch der offizielle Zuspruch verstärkt in Richtung Zuhältermentalität und Selbstverantwortlichkeit geht. Dieser neuen Stufe der »multikulturellen Normalisierung«, einer sichtbaren Koexistenz innerhalb medialer Repräsentationsregimes, die jene von Stuart Hall immer wieder angesprochene »doppelte (kulturelle) Einschreibung« längst inkorporiert hätten, fehlt also jedes gesellschaftliche Backup. Weiterhin ausständig bleiben damit aber auch Antworten auf die Frage, wie mit Differenz und Antagonismen diesseits der Medienlandschaft zu leben sei.

So wie die bisherige Geschichte der Cultural Studies mit den (unsichtbaren) Spuren der Entkolonialisierung des britischen Königreiches einherging - worauf Bill Schwarz in seinem Beitrag hinwies -, so wird dieses Feld wohl auch in Zukunft als entkolonialisierende Praxis bestimmt bleiben. Schließlich war nicht nur Stuart Halls eigener Transfer von Jamaika nach Großbritannien, sondern die ganze Nachkriegsgenealogie der Jugendkultur(studien) eine »Phantomgeschichte« in Sachen Ethnizität und anti-imperialer Öffnung. Angela McRobbie versuchte diesem Punkt Nachdruck zu verleihen, indem sie emphatisch auf die strategische Offenheit der institutionalisierten CS verwies, eine Offenheit, die Stuart Hall immer gegenüber den Eliteansprüchen britischer Universitäten betont hatte. McRobbies gegenwärtige Beschäftigung mit der Modeindustrie exemplifiziert diese Wahl: In der oft als affirmativ und populistisch kritisierten Beschäftigung der CS mit »Mags, Ads and Soaps« sei immer auch die Kehrseite der Produktion, ob nun Sweatshop oder soziales Außenseitertum, im Auge zu behalten. Ihre Lanze für den - immer noch - emanzipatorischen Wert der Popkultur brach McRobbie, indem sie die »hybriden, verwirrenden Rhythmen« von Drum'n'Bass und hier vor allem Talvin Singhs »Calcutta Cyber Cafe« als konkretes Labor eines postkolonialen dritten Raumes umriß.

Aber dieser gebrochene Internationalismus, auf dessen schweren Stand Kobena Mercer mit seinen Ausführungen zur Frage, »why nobody likes 'black art' (as a category)« verwies, wird sich in Hinkunft - auf Großbritannien bezogen - wohl oder übel am neuen Diktat des »cool Britannia« messen müssen. So kamen schließlich in einer eigenen Sektion die Versprechen von New Labour zur Sprache, deren Einschätzung erwartungsgemäß trübe bis desaströs ausfiel. Seit Stuart Hall 1978 den Begriff Thatcherism geprägt und analysiert hat (»The Great Moving Right Show«), sind die Bestimmungsstücke dieser »neuen Zeiten«, auch unter dem »Just do it«-Deckmantel von Tony Blair, nicht wieder verschwunden: Auflösung der fordistischen Produktionslogik, großräumige Veränderung der Klassenstruktur, schließlich eine immer feinteiligere Lifestyle-Diversität. Daß diese historische Kontinuität zwischen Thatcher und Blair auf nichts anderes als eine verlorene historische Chance hinausläuft, unterstrichen sowohl »Marxism Today«-Herausgeber Martin Jacques als auch Chantal Mouffe in ihrem Beitrag über »'Blairism' als Thatchers letztem großen Sieg«. Der »dritte Weg«, den Blair zwischen ungehemmter Marktwirtschaft und hemmendem Sozialismus sucht - und der im übrigen nichts mit Homi Bhabhas postkolonialem »dritten Raum« zu tun hat -, kann weder auf eine kohärente Ideologie zurückgreifen noch konkrete sozialpolitische Entscheidungen vorweisen, so Jacques. Die Akzeptanz von Thatchers Wirtschaftspolitik gehe hier nur eine neue, nicht weniger perfide Koalition mit scheinbarer kultureller Offenheit und einem »privaten Multikulturalismus« (Mouffe) ein. In dieser Hinsicht bleibt auch Blairs »weicher Populismus« eine theoretische Herausforderung, zumal das Wort Ethnizität - und damit auch jedes sichtbare Zeichen eines anderen Großbritannien beziehungsweise Europas - nicht ein einziges Mal im Regierungsprogramm von Labour vorkomme, wie Paul Gilroy bereits eingangs vermerkt hatte.

Wie autoritär oder nichtautoritär dieser neue Populismus tatsächlich ist, wollte aber auch Anthony Giddens, mittlerweile Chefberater von Tony Blair und Proponent der »radikalen Mitte«, nicht beantworten. Giddens, der sich selbstironisch als Apparatschik bezeichnete, erging sich stattdessen in großzügigen Gegenwartsdiagnosen: Von der Überwindung der Postmoderne und vom Ende des Neoliberalismus sprach er und behielt wohl letztendlich in einem recht - wie verfehlt es nämlich ist, vorschnell von irgendeinem Ende zu sprechen, da das soziale Gefüge stets in Transformation begriffen ist. Letzteres läßt sich auch auf den CS-Diskurs und insbesondere Stuart Halls Beiträge beziehen: So prekär es nämlich wäre, in die gängige Kritik an CS als einer undisziplinierten, populistischen Feier des Ephemeren einzustimmen und so deren baldiges Ende heraufzubeschwören, so relevant bleibt es, gerade in neokolonialen Zeiten ein spezifisch entkolonialisierendes Moment sichtbar am Le-ben zu erhalten; nicht in Begriffen des bislang Erreichten und Etablierten also, sondern in steten Übergängen zu denken - auch wenn oder vielleicht gerade weil diesen eine rahmende Verbildlichung noch fehlt.

 

 

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