Heft 3/1998 - Medien-Orte-Kontext
Ein Gespräch mit Stan Douglas über Raum, Macht und Moderne, gescheiterte Utopien, Momente des Modernismus und über deren Verortung in einem »epischen Videotheater«
Die neue, mit dem Salzburger Kunstverein produzierte Videoinstallation des kanadischen Medienkünstlers Stan Douglas handelt von den Disziplinierungsmethoden der fordistischen Wirtschaft im Nordamerika des zweiten Nachkriegsjahrzehnts sowie ihren Auswirkungen auf die Ökonomien von Raum und Individuum. In »Win, Place or Show« entwikkelt sich eine komplexe Kritik am Modernismus im Format eines Kammerspiels. Wie dieses Projekt sich innerhalb des Werkes von Douglas verortet, läßt sich diesen Herbst in Österreich nachvollziehen, zeigt doch die den Nachbildern des Kinos in der Kunst gewidmete Ausstellung »ghost story« im Wiener Künstlerhaus drei der großen Installationen und die Festwochenausstellung »Crossings« in der Wiener Kunsthalle mit der Doppelprojektion »Hors-champs« ein weiteres Hauptwerk des Künstlers. georg schöllhammer: Mit »Win, Place or Show« scheint sich in ihrer bisherigen Arbeit so etwas wie eine Trilogie über soziale und politische Raumkonzeptionen der Moderne aufzubauen: In »Der Sandmann« stellten sie die Effekte sozialreformerischer Ideen im Deutschland der frühen Industrialisierung - die Kleingartenbewegung Daniel Schrebers, deren Anlagen bis heute die Resträume vieler Städte besetzen und erst jetzt ökonomisch als städtische Raumressourcen verwertet werden - in Zusammenhang mit einer Erzählung der deutschen Hochromantik, die das bürgerliche Grauen vor der Rationalität der Maschine und deren Zugriff aufs Subjekt zum Inhalt hat. In »Nu·tka·« ging es dann unter anderem um die kulturellen Blick- und die realen Machtraumwechsel, den die Kolonisation Nordamerikas auslöste. In »Win, Place or Show« nun ist das Feld ihrer Modernekritik Mitte dieses Jahrhunderts angesiedelt. Es geht wieder um Macht und Raum, diesmal in den Medien Stadtplanung und Fernsehen.
stan douglas: Ich würde sagen, es sind mehr als diese drei Arbeiten, die sich mit bestimmten Aspekten von Moderne, ihrer Verbreitung über die Welt und ihrer Transformation in eine globalisierende Bewegung beschäftigen. Aber meine zwei letzten Videoinstallationen sind sicher die spezifischsten in diesem Projekt. Früher habe ich meine Arbeit oft als Reflexionen über Momente des Scheiterns von Utopien beschrieben. Mir wurde vielleicht erst im Lauf der Zeit bewußt, daß es in Arbeiten wie »Pursuit, Fear, Catastrophe: Ruskin B.C.«, »Der Sandmann« und »Hors-champs« immer auch um das Abstecken von potentiellen Linien in der Entwicklung von Moderne und Modernismus ging; um Momente dieser Entwicklung, in denen für Gesellschaften die Entscheidung offen war, einen anderen Weg einzuschla- gen, paradigmatische Kreuzungspunkte gleichsam. Die beiden letzten Arbeiten, »Nu·tka·« und »Win, Place or Show« beziehen sich in diesem Sinn exemplarisch auf spezifische Orte der Nordwestküste des amerikanischen Kontinents, auf den Raum Vancouver, wo ich lebe. Sie rahmen gleichermaßen den Anfang und das Ende der Moderne dort: das erste Auftauchen von Kolonisatoren in »Nu·tka·« und deren Fehlschlag beim ersten Versuch, diesen Ort in Besitz zu nehmen. »Win, Place or Show« zeigt eine Art Science-Fiction-Version eines modernistischen Wohnbauprojektes und das totalitäre Raumkonzept dahinter. In der Nachkriegszeit wurde eine Reihe der utopischen Ideen, welche die Architektur der Moderne für den individuellen und öffentlichen Wohnbau entwickelt hatte, von privaten Developern aufgenommen - und transformiert. Die Wohnanlage, auf die ich mich beziehe, ist eine Art Mischung aus beidem und vielem vergleichbar, was man aus dem utilitaristischen öffentlichen Wohnbau sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Osteuropa dieser Jahre kennt.
»Nu·tka·« und »Win, Place or Show« handeln von bestimmten, von spezifischen Orten. Welches Konzept von Ortsbezogenheit liegt ihrer Arbeit zugrunde?
Zumindest oberflächlich gesehen, läßt sich eine Tendenz von einer sehr abstrakten Verortung ihrer Werke auf Aspekte von Medien-, Kultur-, oder Technikgeschichte in den Arbeiten der achtziger Jahre zu direkten räumlich-biografischen Bezügen in den jüngsten Arbeiten bemerken. Dennoch werden diese konkreten Bezüge in den Installationen dann wieder vielfach gebrochen, aufgehoben. Die letzten verwirklichten Projekte sind auf eigenartige Weise nahe an den Orten meiner Biografie, aber sie beziehen sich viel komplexer auf die allgemeinen Bedingungen des heutigen Lebens, als das Dinge aus meinem frühen Werk taten. An »Nu·tka·« habe ich zu arbeiten begonnen, als ich von einem einjährigen Berlin-Aufenthalt wieder nach Hause kam. In Deutschland war ich immer wieder mit dem Gemeinplatz konfrontiert gewesen, verglichen mit Europa, das so reich an Geschichte wäre, sei Kanada eine historische Brache. Also begann ich die ersten Fotos dieses fünftausend Jahre besiedelten Ortes an der Westküste zu machen. Ich wollte herausfinden, was das Spezifische dieses Ortes war und wie es dazu kam, daß er so ist, wie er ist, um dann genauer auf einen entscheidenden Punkt seiner Geschichte, auf Dinge, die im 18. Jahrhundert dort geschahen, einzugehen. Das Unheimliche an »Nu·tka·«, das man in dieser Arbeit hört - obwohl man den Bruch sozusagen auch auf der Leinwand sieht, die genau den Ort zeigt, an dem die Spanische Landnahme stattfand - ist, daß die Europäer ihren Ort sozusagen mitbrachten und den realen Ort nicht sehen konnten, weil sie so sehr damit beschäftigt waren, ein Spiegelbild des Ortes, von dem sie kamen, zu errichten. Natürlich gehe ich immer vom Faktum der Konstruiertheit von Orten aus. Der Ort von »Win, Place or Show« ist schon historisch ein vielfach konstruierter und fragmentierter. Vom ursprünglichen Masterplan der Anlage aus den fünfziger Jahren wurden nur zwei Wohnblöcke errichtet. Die beiden Objekte bestimmen die Nachbarschaft, in der mein Haus steht. In diesen Gebäuden, gegenüber deren historischer Zeichenhaftigkeit ich lange blind war, erkannte ich plötzlich Stellvertreter jener modernistischen, entleerten Utopien der radialen Stadt in der Nachfolge Corbusiers, die sich in den Nachkriegsjahren global verwirklichen sollten. Zurück zur Idee des Bruches, der Trennung, und der Idee der gespaltenen Persönlichkeiten. Die Naht, die Trennung, die in den Doppelprojektionen zu sehen ist, ist auch eine metaphorische. Das Konzept zieht sich durch meine Arbeit, obwohl ich immer versucht habe, daraus kein Stilmittel werden zu lassen. Ich bin daran interessiert, diese Differenz zu nutzen, um auf ganz einfache Weise eine dialogische Situation entstehen zu lassen, eine Art von Polyphonie. Ich denke oft an die musikalische Idee der Vielstimmigkeit, der Verdoppelung von Stimmen als Mittel, um Identitäten in ihrer Konstruiertheit, in verschiedenen Layern zeigen zu können.
Ebenso auffällig wie Ihre Hinwendung zu biografisch legierten Arbeiten scheint mir, daß vieles an den visuellen Anspielungen, die Sie gerade in »Win, Place or Show« verwenden, genau dann sehr di-rekt ist, wenn es um die Formgeschichte der Moderne geht: das Mobiliar, das Radio, der Klee an der Wand. Geht es hingegen um die soziale Dimension, die Dimension der Beziehungen der beiden Protagonisten zu ihrer sozialen Wirklichkeit als Dockarbeiter an einem konkreten Ort in den sechziger Jahren, verblaßt die Bildkraft der Verweise, Details verschwinden. Sie machen aus den Dialogen - zumindest in der deutschen Fassung- idiomfreie Theaterdialoge, die Stimmen klingen wie Schauspielerstimmen, die Bewegungen der beiden Protagonisten sind stilisiert, die Mimik überhöht, ihre Tätlichkeiten sind alles andere als realistisch dargestellt. Warum diese Trennung von direkten Anspielungen im Objekt und indirekten im Schauspiel?
Das, was wie ein Klee aussieht, ist kein Klee, sondern das Bild eines lokalen Modernisten aus Vancouver, der auch als Architekt und Grafik-Designer gearbeitet hat. Die beiden Arbeiter schauen aus und sind gekleidet wie die Schauspieler, die in TV-Serien der Sechziger Arbeiter spielten. Ich beziehe mich ausdrücklich auf eine Fernsehserie, die ein Jahr lang in Vancouver im Fernsehen lief. Auch die Kostüme und die Charaktere kommen dort her. Zur Dialogregie: In der deutschen Version hören sie Theaterdeutsch, wie sie es in den Sechzigern auch in den Synchronfassungen amerikanischer Fernsehserien im deutschen Fernsehen hören konnten. Die Arbeit handelt also auch vom Fernsehen und dessen lokalen Sprachen und translokaler Verbreitung. Der Originaltext des Plots ist sehr formal und auch in der Serie, auf die ich mich beziehe, waren die meisten Darsteller Bühnenschauspieler. Es geht in »Win, Place or Show« um Konventionen.
Sie gehen dabei sozusagen vom Gewöhnlichen, vom Alltäglichen aus, überschreiten es aber im-mer, sodaß aus der Konstruiertheit der Bilder selbst etwas nicht Greifbares, nahezu Unheimliches zu sprechen beginnt. Der ästhetische Raum, den Sie in den Installationen erzeugen (wollen), ist einer jenseits der reinen Referenzen, jenseits des direkten Verweises auf ein Reales von Geschichte. Mit den seriellen Schnitten, aus denen der Computer in »Win, Place or Show« aus sechs Minuten Material eine fünfzehnstündige Sequenz variiert, die das Mikrodrama ständig aus anderen Blickwinkeln zusammenbaut, scheinen so etwas wie das Konzept der Wiederholung abbilden zu wollen, ein zentrales Konzept dessen, was man fordistische Moderne nennt. Darüber hinaus baut sich im Laufe des Betrachtens auch ein sehr gegenwärtiges Raum-Modell auf, eines des fragmentierten und vielfach wert- und blickbesetzten Raumes.
Es gibt einen weiteren Bezugspunkt zu einem sehr fordistischen Strukturmoment, nämlich die Verräumlichung von Zeit: der Aufbau der narrativen Linie. Auch sie wird ja durch den Computer zerteilt und immer wieder neu zusammengesetzt, montiert. In einem Sinn ist es in Relation zum Raum immer dieselbe Geschichte, die zu sehen ist. Aber sie ist immer auch eine andere - so wie ja die verschiedenen Situationen und Lebensumstände in diesem totalitären Raum Variationen einer Geschichte sind. Auch der zweite Soundtrack, das Radio, in dem man in Echtzeit einen Salzburger Sender hört, hat - wie auch der Blick aus dem Apartment, den man hin und wieder sieht - die Funktion, das »Außen« zu repräsentieren, das in diese private Welt, auch in die des Kunstvereins, dringt und in ihrer ebenso nahezu geschlossenen Struktur beginnt, seine Normen durchzusetzen. All das bildet ja auch die Bedingungen ab, unter denen diese Leute in den Nachkriegsjahren lebten, die sie zu ertragen hatten, nämlich die extremen Kontrollinstitutionen, welche im Gegensatz zu den bürgerlichen Idealen der zivilen Gesellschaft, des städtischen und des öffentlichen Raums stehen, wie sie etwa den Utopien der Gartenstadtbewegung des 19. Jahrhunderts zugrunde lagen, die der Masterplan der Siedlung karikiert. Dann hört man diese zwei Leute, die keinerlei Zugang zu den rationalen Formen der Selbstdarstellung innerhalb einer solchen Gesellschaft haben, reden. Sie reden über Zufall, Chancen, Spiel- und Konspirationstheorie. Das ist eine fast okkulte Situation.
Ihre Settings selbst sind, was die Geschlossenheit des Aufbaus betrifft, sehr dicht und komplex. Sie haben einmal gesagt, Kunst im öffentlichen Raum, das interessiere Sie nicht. Haben Sie je daran gedacht, das Publikum direkter in eine Ihrer Arbeiten einzubinden, es zur Interaktion im wörtlichen Sinn aufzufordern, zum Beispiel mit Hilfe einer interaktiven CD-ROM? Sie verwenden schließlich die Möglichkeiten vieldimensionalen Bildaufbaues mittels Computer.
Ich bin nicht an »Public Art« interessiert, die nicht auch mit dem Gewöhnlichen, dem Alltäglichen, zu tun hat. Zu oft sieht man einfach irgendwelche Dinge aus dem Galeriekontext auf die Straße verlagert, die sich dort dann nicht vermitteln. In den Monodramen, kleinen TV-Spots, habe ich das versucht. Ich habe die Sprache und die Konventionen des Fernsehens verwendet, als ich in ihm gearbeitet habe. Im Museumskontext, glaube ich, sollte ich die Freiheit haben, so komplex und kompliziert zu sein, wie immer ich das will. »Win, Place or Show« funktioniert, denke ich, dramaturgisch gut genug, um den Leuten jenes Gefühl von Klaustrophobie, das ich aufbauen wollte, zu vermitteln. Aber dahinter gibt es noch eine Reihe von Layers. Alles, was die Arbeit sagt, sagt sie durch Mittel der Repräsentation. Bilder, Worte, Klänge - mein Werk vertraut auf Mittel, denen man mißtrauen muß, weil in ihnen selbst und in ihrer Vorgeschichte, der Geschichte ihrer Verwendung, so viele Spuren von Macht und Unterdrückung aufgehoben sind. Das ist die grundlegende Ironie meiner - und jeder - künstlerischen Arbeit. Den Computer benutze ich nur als Medium, um Bilder zu machen. Das Programm, das ich für die Salzburger Arbeit hatte, ging von einer musikalischen Struktur und nicht von der irgendeiner Technologie aus. Die Software selbst wurde dann von Softwareleuten entwickelt. Insgesamt bin ich an technologischen Spielereien um ihrer selbst willen nicht interessiert. Eine der besten CD-ROMs, die ich gesehen habe, - eine der ersten, die überhaupt produziert wurden - war von Voyager, mit Beethovens IX. Man konnte die Symphonie anhören, sie gleichzeitig grafisch und in Notation aufgelöst sehen, musikologische Kommentare mitlesen, aber die Musik war in Echtzeit da, man hatte aber zusätzlich die verschiedensten Layers, sie zu verstehen, parat. Das war einfacher und reicher als vieles, was später in Hypertext und CD-ROM-Technologie passiert ist. Ich denke, Film ist noch immer viel interaktiver, eröffnet einen weitaus größeren Raum für Freiheit, für mögliche Beteiligung der BetrachterInnen, als sich an einer Tastatur in vorprogrammierten Wegen zu verlieren und die Illusion zu haben, in den Aufbau eines Werkes eingebunden zu sein.
Zu Ihren Arbeiten gibt es immer auch Texte, die den historischen, sozialen, kulturgeschichtlichen Hintergrund des Sets darstellen. Sie sind sehr kompakt geschrieben. Als was verstehen Sie sie? Als Teil der Arbeit?
Die Texte sind Supplemente zur Arbeit. Sie bilden die Recherche-Arbeit, die ich geleistet habe, ab, sie erleichtern den Zugang zu den Referenzen der Arbeiten. Ich kann mir zwar ideale ZuseherInnen vorstellen, die, wenn Sie einen Schrebergarten sehen, wissen, in welchen historischen Formationen diese Raumfigur ihre unterschiedlichen Rollen spielte, aber die sind nicht das Publikum, das ich ausschließlich erreichen will. Meine Mittel aber sind die cinematischen. Vieles in der formalen Umsetzung und Sprache kommt von einer heute vielleicht weniger schicken Theorie, der des epischen Theaters von Brecht. Im »Sandmann« zeige ich zum Beispiel immer wieder auch das Set - das Studio, seine Künstlichkeit und die des Aufbaus meiner Installationen werden sichtbar, und das soll Distanz schaffen. Die volle Komplexität der Arbeit entsteht erst in der Polyphonie von Bild, Ton und Sprache.
In den sechziger Jahren gab es eine tiefgreifende Veränderung in der Organisation des öffentlichen Raums in Nordamerika. Diese Videoinstallation beschäftigt sich mit zwei ihrer wesentlichsten Symptome: der Stadterneuerung - das genaue Gegenstück zur Ausbreitung der Vorstädte - und der Einfluß des Fernsehens als Sozialisierungsmedium. Bei der Stadterneuerung bestand die typische Vorgangsweise zunächst aus der Räumung von Slumgebieten, gefolgt von der Zwangsunterbringung ganzer Gemeinden in Wohnhausanlagen, welche die stillschweigenden Klassenunterschiede in einer Stadt buchstäblich zementierten. Das Fernsehen erreichte mehr als die Hälfte der Bevölkerung der USA und Kanadas, wodurch gemeinsame Erinnerungen entstanden, die einer konventionellen Sicht der Wirklichkeit nach den Geboten technischer Konventionen einer Handvoll einflußreicher Leute entsprangen. Das architektonische Idiom der meisten Wohnhausanlagen aus der Nachkriegszeit war eine Spielart der Moderne, die so weit von den utopischen Ambitionen der Vorkriegszeit entfernt war, daß die »Materialtreue« der Kosteneinsparung als Mittel zum Bestgebot weichen mußte und die Einheit von Form und Inhalt monolithischen Wohntürmen, welche die durch sie entstehenden sozialen Probleme symbolisierten. Zahlreiche Projekte schlugen so jämmerlich fehl, daß sie aufgegeben oder abgerissen werden mußten; diese Arbeit wird sich jedoch mit einer öffentlichen Wohnhausanlage beschäftigen, die in Vancouver (Kanada) teilweise fertiggestellt wurde. Im Jahr 1950 erteilte die Stadtverwaltung den Planungsauftrag zur Sanierung eines Viertels namens Strathcona - 5 x 7 Blocks, eine Ansammlung unregelmäßiger Grundstücke, auf denen kurz nach der Jahrhundertwende ein- bis zweistöckige Häuser, kleine Arbeiterhütten und Gewerbebetriebe entstanden waren. Eines der ärmsten Viertel der Stadt, beherbergte es Gruppen chinesischer, italienischer, skandinavischer, osteuropäischer und schwarzer Familien mit ausgeprägtem Zusammengehörigkeitsgefühl sowie eine Vielzahl alleinstehender Männer, die in der weiterverarbeitenden Industrie der Region beschäftigt waren. Der ursprüngliche Plan bestand darin, alle bestehenden Gebäude abzureißen und durch einen dichten Raster von Hochhäusern zu ersetzen, der - auf bizarre Weise - nach der Personenzahl pro Familie angelegt werden sollte: Gebäude mit Dreizimmer-Wohnungen, Gebäude mit Zweizimmer-Wohnungen und sogar zwei 900-Zimmer-»Heime« mit Gemeinschaftstoiletten, -bädern und -küchen für berufstätige und pensionierte Saisonarbeiter. Anfang der sechziger Jahre wurde eine etwas humanere Version dieses Planes teilweise realisiert: Die Komplexe Raymur Place und McLean Park wurden jeweils am westlichen und am östlichen Ende von Strathcona errichtet; sie nehmen ein Achtel der gesamten Fläche ein. Weitere Vorhaben wurden von einer Bürgerinitiative verhindert, die die Stadtverwaltung dazu überreden konnte, die Häuser zu renovieren statt zu schleifen, und die Bundesregierung dazu brachte, niedrige Genossenschaftsbauten zu finanzieren. Diese Arbeit spielt in einem der »Arbeiterquartiere« am Raymur Place. Da das Fernsehen in Nordamerika in erster Linie ein Medium der Werbung ist, tendieren Nachrichten und Fernsehsendungen dazu, die vermeintlichen Interessen potentieller KonsumentInnen widerzuspiegeln. So dauerte es etwa in den USA bis in die siebziger Jahre, bis sich die untere Mittelschicht im Fernsehen vertreten fand, und die Schwarzen der Unterschicht mußten noch weitere zehn Jahre warten. In den sechziger Jahren war der Großteil des Fernsehprogramms auf die weißen Bewohner von Mittelschicht-Vororten ausgerichtet - obwohl sie nicht das gesamte Publikum ausmachten. Wohnbauprojekte wie Fernsehprogramme schufen jeweils abgeschlossene soziale Räume, denen offenbar derselbe Grundsatz zugrundelag: Wer sich nicht repräsentieren kann, darf auch nicht repräsentiert werden. Die starke Ähnlichkeit der gezeigten häuslichen Szenerien weist darauf hin, daß das Fernsehen der sechziger Jahre auf eine einzige Idealklientel ausgerichtet war - und bestimmte technische Mittel, die von Theater und Kino übernommen wurden, verstärkten diese Interpretation. Auch heute basieren die eher konventionellen TV-Genres auf der »unsichtbaren vierten Wand« der Guckkastenbühne, mit einer strikten Trennung von DarstellerInnen und Publikum, Drinnen und Draußen. Das Lachen des »Studiopublikums« oder aus der Konserve erinnert die ZuschauerInnen unterschwellig oder offensichtlich an das Voyeuristische ihrer Situation, und die Aufbauten bei Nachrichtensendungen und Fernsehshows wirken oft wie Theaterkulissen. Bei Livesendungen - von Hockeyübertragungen bis zu Sitcoms - wird die räumliche Kontinuität dadurch erhalten, daß die Handlung mit mehreren Kameras von derselben Seite des Raums aus gefilmt wird, sodaß - wie auf der Bühne - eine Bewegung nach rechts aus allen Perspektiven immer eine Bewegung nach rechts bleibt. Bei aufgezeichneten Sendungen wird der gleiche Effekt durch Anwendung der Blickachsenregel aus dem Hollywoodfilm erzielt, wonach die Kamera nicht mehr als 60° von der Blickrichtung einer Figur in Richtung eines unsichtbaren Proszeniums abweichen kann, ohne sich vermutlich vom Blickpunkt dieser Person loszulösen. Dadurch wird die Guckkastenbühne transportabel, und Voyeurismus wird mit Identifizierung »vernäht«. Die Videoinstallation spaltet das orthodoxe räumliche Kontinuum des Fernsehens in zwei Teile. Für jede Großaufnahme oder Nahaufnahme, die die Blickrichtung einer Figur wiedergibt, gibt es eine identische Aufnahme, die gleichzeitig vom anderen Ende der Achse gemacht wurde. In der Ausstellung werden die miteinander verbundenen und doch entgegengesetzten Blickpunkte gleichzei- tig auf zwei nebeneinander stehende, 3x4 Meter große Leinwände projiziert, wie ins Räumliche übertragene Spiegelbilder. Die Szene wird im Stil der kurzlebigen CBC-Fernsehserie »The Clients« (1968) auf Video aufgenommen und begleitet Bewährungshelfer bei ihrer Arbeit mit verschiedenen auf Bewährung aus Strafanstalten in Vancouver entlassenen Straftätern (Junkies, Kinderschändern, Kleinkriminelle) handelte. Diese knappen, realistischen Parabeln bestanden aus einer Kombination von Live-Studioaufnahmen und gefilmten Einschüben (Außenaufnahmen); meine Arbeit wird jedoch zur Gänze im Studio aufgenommen. Zwei Hafenarbeiter, die eine winzige Zweizimmer-Wohnung in der besagten Wohnhausanlage in Vancouver miteinander teilen, sind mitten in einem Streit. Die Endlosschleife besteht aus einer sechs Minuten langen Szene, in der sich aus einem Streitgespräch physische Gewalt wird, die in Erschöpfung und Verletzung endet, woraus sich wiederum ein Streitgespräch entwickelt ... Die Episode wird zur Gänze aus 20 verschiedenen Richtungen gefilmt - 10 verschiedenen Kamerawinkeln pro Achsenseite oder Leinwand. In der Ausstellung werden die Aufnahmen mittels computergesteuertem Laserdisk-System in Realzeit zusammengeschnitten, sodaß scheinbar unendliche Montagevarianten entstehen. Auch wenn Segmente nur zehn Sekunden dauern, könnte man aus der sechsminütigen Handlung durch Filmschnitt neun Stunden verschiedener Kombinationen machen. Mit der Montage wechselt auch die Identifikationsfigur von einem Antagonisten zum anderen, zu beiden, zu keinem. Die Arbeit beschäftigt sich jedoch weniger mit der Erzählung einer Handlung als mit dem Raum, in dem sie sich entfaltet - als ob man obsessiv immer wieder an ein traumatisches Ereignis im Leben zurückdenkt, das man nicht überwinden kann, weil der wahre Grund dafür anderswo liegt und im Raum der Erinnerung nicht greifbar ist.
Übersetzt von Elisabeth Frank-Großebner, stan douglas