»... eine Tradition verlorener Prozesse begründen; dem bislang Namenlosen Namen geben.« Siegfried Kracauers Zeile hat Hito Steyerl ihrem Film vorangestellt. Keine neue, sondern die historische Mitte Berlins steht im Zentrum eines »Abrisses«, der die titelgebende leere Mitte übervoll erscheinen läßt. Überblendungen zwischen 1990 und 1997 - mit Mauer und dann einem Bauzaun, BesetzerInnen der »Republik Potsdamer Platz« und Baufeldern, Zelten und Containerdörfern, Souvenirständen und Planierraupen, Mauerspechten und Bauarbeitern - bilden den Auftakt. Je mehr sich im Laufe der hochverdichteten Dreiviertelstunde hinzufügt, umso monströser türmen sich die Trümmer und Verluste.
Reißbrett
Eine Skizze des Komponisten Felix Mendelssohn zeigt das Gartenhaus, Leipziger Straße 3, beim Potsdamer Platz, wo sein Großvater Moses wohnte und später der Deutsche Reichstag übergangsweise residierte. Bis 1869 zog sich hier auf dem Gelände des späteren Todesstreifens die Zollmauer entlang, an der Juden wie Waren gleichermaßen kontrolliert wurden. Bei Moses Mendelssohns Einreise lautete der Eintrag: »heute passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude«. Bald nach dem Fall der Berliner Zollmauer wurden mit dem Lineal die politischen Grenzen Afrikas abgesteckt (»Berliner Grenzen«) und 1884 in der Berliner Kongo-Konferenz von der Reichskanzlei aus das Terrain unter den Kolonialmächten aufgeteilt. Und um das »orientalische Geschwür offenzuhalten«, definierte die Berliner Konferenz von 1878 schon damals die Grenzen der Balkanstaaten so, daß sich hier eine mit sich selbst beschäftigte Pufferzone bilden sollte. Bei einer später eingeblendeten Mercedes-Werbung wirft der Stern riesige Schatten auf Afrika, während zu Luft und Boden motorisierte Nazi-Truppen den Kontinent erobern. Nun hat die Rüstungsschmiede und ihre Dienstleistungstochter Debis den Potsdamer Platz zur Mauerfall-Beute genommen. Im Wechselspiel der Errichtung und Niederlegung von Grenzen wird der Weg wieder frei für die Eroberung neuer Terrains und Ordnungsmuster.
Deutschland wird deutscher
»Für Ausländer wäre es besser, wenn die Mauer noch da wäre«, erzählt Dong Yang, welcher zusammen mit Huang Zhu und der Stimme von Hatice Ayten durch den Film leitet. »Die Grenze ist flexibel geworden und reproduziert sich nunmehr in sozialen Ausschlüssen, in der Absteckung territorialer Claims und der Herausbildung neuer Klassen und Kategorien«, heißt es hierzu in einem Begleittext von Hito Steyerl. Nach dem Mauerfall konnte man sich an einem Souvenirstand zum Spaß den Paß von einer Frau aus Jamaika stempeln lassen, welche ihrerseits nur eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung für das neue Deutschland vorweisen konnte. Oder möchte jemand als Andenken den »Wir sind das Volk«-Bierkrug kaufen? Nebenan im »Haus Vaterland«, das bald wieder entstehen soll, sammelte sich in den »Goldenen Zwanzigern« das, was man heute exotisierend eine multi-kulturelle Erlebnisgastronomie nennen würde, also alles unter einem Dach von der »Neger«-Musikbar bis zum Bayrischen Bierlokal. Nach dem »Farbigenerlaß« von 1931, sprich dem rassistischen Beschäftigungsverbot für viele Jazzmusiker, wurden die verbliebenen arischen Gesichter schwarz angemalt: »Ich laß meinen Körper schwarz bepinseln... Ich bin der [Willi] Fritsch, der will 'nen Fidjji sein«, tönte es hierzu im UFA-Film. »Das Haus Vaterland umfaßt den ganzen Erdball«, schrieb Siegfried Kracauer, doch in der Nacht des Reichstagsbrandes verläßt er diesen Planeten fluchtartig Richtung Paris.
U-Bahnhof Mohrenstraße
Dem »Deutschlands Fest«-Zug durch das Brandenburger Tor mit dem Bilderbuch-Mohren, auf den der umherlaufende Normdeutsche mit dem Finger zeigt, steht die Abzugsparade der westalliierten Streitkräfte gegenüber. Die Kamera - mittendrin in Nazidemos und dem Reichstagssturm deutschstämmiger Arbeitsloser - ist Ziel zahlreicher Hiebe. Immer wieder greift Hito Steyerl wie gebannt eskalierende Progromstimmungen auf. Gleich einem Frontbericht bewegt sich der Camcorder zwischen Besonnenen (»Mensch, das sind doch ganz arme Schweine!«) und marodierenden Sturmtrupps (»Scheißmist Kanacken«, »Deutschland!«). »Hier ruht der Deutsche Arbeiter« steht in Frakturschrift auf einer Todesanzeige, während dröhnende »Jetzt-gehts-los«-Stimmen die Billiglöhner aus Osteuropa gewerkschaftlich organisiert ankrakelen. Schon der Sozialistenkongreß von 1907 sprach sich gegen »rückständige Rassen« als Arbeitskräfte aus.
Das Auge des Sturms
»Ein Abriß von Hito Steyerl« hat die Münchner Filmemacherin ihre Demontage genannt, welche den vergleichsweise banal wirkenden Zuschreibungen des Terrains (»größte Baustelle Europas«) atemlos entweicht. Diese Mitte - so führt ihr »Abriß« Schicht um Schicht vor - ist übervoll und historisch kontaminiert, sodaß ich manche Fäden, wie den mit dem arabischen Kellner im »Haus Vaterland«, zwischenzeitlich verloren hatte. Doch diesen Film muß man halt mehrfach besuchen. Und ein weiteres bleibt, nämlich endlich Texte von Kracauer zu lesen.
Ein Skript zum Film findet sich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift »Vor der Information« zum Thema »Staatsarchitektur«. Bezug über vor.ri@ping.at oder über Säulengasse 7/15, 1090 Wien.