Heft 2/1999 - Lektüre



Diedrich Diederichsen:

Der lange Weg nach Mitte

Der Sound und die Stadt

Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1999 , S. 76

Text: Hans-Christian Dany


Seit ein paar Tagen liegt die neueste Kompilation von Diedrich Diederichsen auf meinem Nachtkästchen. Das Cover teilt gleich mit, daß es sich um eine Fortsetzung seiner letzten beiden Bücher »Freiheit macht arm« (1993) und »Politische Korrekturen« (1996) handelt. Aber schon auf den ersten Blick ist es etwas anders. Der Umschlag sieht fast so aus wie der eines Krimis, auf dem die Schrift zu klein geraten ist. Bis zum Anschnitt breitet sich die nächtliche Schwarzweißaufnahme eines von Drahtzäunen begrenzten Ganges aus. Vielleicht liegt es an dem Fluchtpunkt des Bildes oder an der schwarz-rot-gelben Farbgestaltung, daß ich mich der Assoziation mit einem Konzentrationslager nur schwer entziehen kann. In den Pfützen auf den grauen Betonplatten spiegeln sich aber hohe Kräne, wodurch klar wird, daß sich der unheimliche Weg auf Deutschlands momentan populärster Baustelle, dem Potsdamer Platz, befindet: dem Versuch, das Zentrum einer neuen Stadt zu bauen, in der die Vergangenheit vergessen werden kann.

Der dem großen Erdloch benachbarte Stadtteil, Berlin Mitte, ist dann auch der erste Fixpunkt des Buches - oder genauer gesagt: die dort in den letzten Jahren ausgebrochene Goldgräberstimmung, die rund um die Auguststraße kulturellen Surplus vermitteln will. Diederichsen beschreibt das um die Wagenburg findiger KulturunternehmerInnen entstandene Viertel als ein schwarzes Loch, in dem zuvor noch verbindliche Differenzierungen solange durchgesiebt werden, bis der letzte Versuch eines anderen Lebens handlich verramscht werden kann. Der Aufsatz über Berlin Mitte ist der Einstieg in eine Montage aus teils unveröffentlichten, teils stark überarbeiteten Texten der letzten sieben Jahre. Darin entwirft der Autor, der seine Interessen in verschiedenste Richtungen ausdehnt, eine Reihe von parallelen und einander überschneidenden Perspektiven auf ein Lebensgefühl der letzten Jahre, aus deren Wahrnehmung sich die Wirklichkeit schleichend zurückgezogen hat. Genauer untersucht Diederichsen den Boom der Pop- und Urbanismus-Diskurse der letzten Jahre. In ihm erkennt er eine Kompensation des Verlusts eines gemeinsamen politischen Horizonts. Den zugrundeliegenden Mangel markiert er als Konsequenz einer ständigen Spezialisierung innerhalb des »Patchworks der Minderheiten«, das zum Verlust des Interesses daran geführt habe, die einzelnen Wirklichkeitsflicken noch miteinander zu verweben. Am Ende hätten die Partikularitäten im Eifer einer immer haltloser werdenden Rechthaberei die gemeinsame Sprache verloren. Dieser erste Abschnitt scheint der konzentriertere Teil des Buches zu sein, zumindest wenn man sich einen roten Faden erwartet. Um weiterhin Spaß zu haben - den ich hatte -, muß man diese Erwartung aber ablegen. Es folgen schnell einmal fünfzig Seiten Texte, meist über Musik, deren sprachlicher Reichtum gerade angesichts ihres Aktualitätsverfalls einen zweiten Frühling erlebt. Die Versuche, sich schreibend in Musik hineinzudenken, werden dabei immer wieder mit politischen Fragestellungen verbunden, wobei die am Anfang des Buches formulierte sich gelegentlich durch überraschende Hintertüren zurückmeldet.

Zuweilen übertreibt Diederichsen aber die Rolle des Melancholikers, vor dessen Augen die Welt zum indifferenten Eintopf wird. Auch bauen manche Differenzverluste, die der Autor gefunden haben will, auf durchaus bestreitbaren Grundfiguren wie dem kitschigen Gegensatzpaar Sport und Drogen auf. Aber solche Anlässe sich zu ärgern verhindern eine allzu große Gemütlichkeit bei den LeserInnen - die sich auch nicht einstellt, da manche Konflikte, die bei den gemachten Beobachtungen anstünden, konsequent auf dem »Boden der Freundlichkeit« bleiben.

Nicht ausgewiesen wird, ob die Texte zuerst in »Texte zur Kunst«, »Die Beute«, »ANYP«, als Vortrag oder in der »Süddeutschen Zeitung« erschienen sind. Doch läßt sich dies erahnen, was einiges über diese Organe oder ihr vom Schreibenden angenommenes Publikum aussagt. Die Frage, welcher Bruch innerhalb eines von der Wirklichkeit zunehmend entfremdeten Gespräches bestimmter Zirkel denkbar wäre, - eine Frage, die der Autor selbst vor kurzem aufwarf - bleibt auch hier unbeantwortet. Damit habe ich allerdings kein Problem, da solche Vorschläge in Büchern meist komisch kommen und ein Eingeständnis der Ratlosigkeit oft mehr Türen öffnet.