Heft 4/1999 - Bewegungen
Dieser Essay geht den verschiedenen, sich verzweigenden Pfaden nach, auf denen das Fremde und Exotische in den öffentlichen Diskurs eintritt und sich an einen zentralen Platz in der Filmkultur des Westens setzt. Ich nenne diesen Vorgang ein »expandierendes Universum«. Er gleicht jenen Prozessen, die zur momentanen Konjunktur von Ethno-Food oder jener der Rhythmen der Weltmusik geführt hat. Natürlich verkauft sich das noch nicht so gut wie Essen oder CDs. Aber seine Popularität wird aller Wahrscheinlichkeit nach steigen. Das manifestiert sich schon jetzt in vielen Phänomenen des zeitgenössischen Kinos - von den verborgenen Logiken internationaler Videodistribution, über neue internationale Produktionspartnerschaften und -wege des Filmbetriebs sowie den diasporischen FilmemacherInnen, die ihnen folgen, bis hin zu spezifischen narrativen Elementen, die man in neuen Filmen auf der ganzen Welt finden kann. Ich werde diesem Prozess also nachspüren: von den Regalen der Ethno-Greißlerei ums Eck bis ins Inventar des zentral gelegenen Blockbuster-Videoladens.
Mein »expandierendes Universum« findet seinen Ausdruck in jenem Filmemachen, das ein ausdrückliches Interesse hat, ferne Gegenden zu erforschen, mit kaum bekannten Völkern zu interagieren, und, ganz allgemein, neue Orte vorstellbar zu machen. Entgegen dem früheren Modell sind Europa und Nordamerika nicht mehr der Hauptschauplatz, auf dem die Kräfte wetteifern, die Ereignisse sich entfalten und auf dem sich die FilmemacherInnen und ihre ProtagonistInnen selbst denken. Neue Welten entstehen. Vormals marginalisierte Plätze werden zu legitimen Settings für eine Filmhandlung. Ein neuer, kulturell signifikanter Raum wird errichtet, der es der wachsenden Gemeinschaft von globalen MigrantInnen ermöglicht, die gebrandmarkte Atmosphäre verlorener Heimat zu überwinden und sich selbst in einem sinnvollen und kohärenten Universum neu zu erfahren. Ich will im Folgenden einige Beispiele aus einer Vielzahl von Phänomenen zur Diskussion stellen - jedes davon beleuchtet einen anderen Aspekt dieses expandierenden Universums - und hoffe, damit zeigen zu können, wie diese Praktiken und Filme die Kinokultur beeinflussen und verändern.
Verborgene Videowege
Irgendwo im Outback der mongolischen Wüste versammelt ein Hirte seine Familie in ihrer Jurte vor dem Fernseher um sich »Rambo« anzusehen. Die Szene ist aus »Urga« (engl. »Close to Eden«) von Nikita Mikhalkov (Frankreich/Sowjetunion, 1991), einem Film über einen russischen Lastwagenfahrer, der sich in den chinesischen Teil der Mongolei abgesetzt hat.
Ein Kassenmädchen zieht ihr Höschen für einen Quickie mit dem kahl werdenden Kinobetreiber aus und bekommt einen Orgasmus, während sie auf ein »Terminator«-Plakat an der Wand starrt. Diese Szene ist aus »Patul conjugal« (engl. »Conjugal Bed«) von Mircea Daneljuk (Rumänien, 1993), einer Saga voller post-kommunistischer Trübheit.
Während ein alter Chinese im noblen New Yorker Vorort Westchester einen Shaolin-Film anschaut und dann auf eine traditionelle Oper umschaltet, versucht sich seine amerikanische Schwiegertochter im Nachbarzimmer aufs Schreiben zu konzentrieren. Das schrille chinesische Singen aus dem Fernseher enerviert sie vollkommen, so dass der alte Mann einen Kopfhörer aufsetzen muss - die Szene ist aus »Tui shou« (engl. »Pushing Hands«) von Ang Lee (Taiwan, 1992). Der Alte ist ein Fremder in der Öde der amerikanische Vorstadt und seine einzige Verbindung nach Hause sind die Videos, die sein Sohn irgendwo in Chinatown für ihn ausborgt.
Und so ist es. Während Hollywood seinen kommerziellen Kreuzzug von den Warner- und Disneystores in den Nobeleinkaufszentren Singapurs bis zu den mit Leonardo di Caprio- Postern bedeckten Trottoirs Jakartas weiterführt, werden westliche Städte mit fremden - zwar weniger sichtbaren, aber doch lebendigen - Entertainmentprodukten versorgt. Da stehen zehn Stück indische Kostümepen über romantische Liebe und Leid wie stramme SoldatInnen, die in der Ecke eines Ethno-Foodstores nur aufs Mitgenommenwerden warten, gleich neben dem Kühlschrank mit eisgekühlen Samosas. Vietnamesische Varietéshows gibt´s gleich neben dem Take-away auszuborgen, der Frühlingsrollen in Reispapier und Zitronengraspho verkauft. Wo auch immer ein Ethno-Greißler ist, gibt es eine Auswahl an Videos in der entsprechenden Sprache neben den entsprechenden Lebensmitteln - koreanische Spielfilme neben Kimchi, polnische gleich neben Piroggen, mexikanische Videos neben Tamales.
Obwohl es ziemlich schwierig ist, verlässliche Zahlen zu bekommen, die die ökonomischen Parameter dieser bereits etablierten transkulturellen audiovisuellen Dynamik beschreiben, muss man nur durch die ethnisch gemischten Viertel einiger nordamerikanischer Großstädte streunen, um die bloße Existenz eines Netzwerks internationaler Videodistribution bestätigt zu bekommen. Auf der Danforth in Toronto und der Halford in Chicago findet man beispielsweise eine breite Auswahl an Videos aus Griechenland sowie lateinamerikanische und irische Geschäfte, die ebenfalls audiovisuelles Material aus ihren homelands führen. Wenn Sie indische Filme möchten: Gehen Sie nach Devon in Chicago, wo - zwischen den assyrisch-persischen und den russisch-jüdischen Vierteln - die indische Straße das beste anbietet, was es an Hindu-Entertainment gibt. Ganz in der Nähe findet man Jodler-Videos aus Tirol und Tapes der russischen Liedermacher Vysotski und Okudzhava. In den chinesischen Videogeschäften auf der Spadina in Toronto hat man möglicherweise Schwierigkeiten, sich auf Englisch zu unterhalten, aber mit ein wenig Glück stößt man auf die unglaublichsten Schätze chinesischen Kinos - und die italinienischen und portugiesischen Viertel mit ihrer breiten Auswahl an audiovisueller Unterhaltung sind nur ein paar Meter entfernt.
Fakten statt Zahlen
Das Unterhaltungsgeschäft für EinwandererInnen blüht auf. Alle größeren MigrantInnengruppen haben zudem ihren eigenen Videovertrieb, wie das »German Video Service« in Indiana, »Polart« (polnisch) in Sarasota, Florida, »Video El« (tschechisch) in London, Ontario, oder »Mastro« (italienisch) in Toronto. Dazu gibt es mindestens drei chinesische Vertriebe in Kalifornien und zwei in Kanada, eine Anzahl von halblegalen russischsprachigen VerkäuferInnen in Brighton Beach und L.A., plus viele indische. Der größte Betrieb in der »Bollywood Entertainment«-Branche ist »Erosentertainment«, das Büros in New Jersey und London hat und sowohl im Vertrieb von 35mm-Filmen in den ganzen USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich und den Westindischen Inseln arbeitet als auch über seinen Internet-Sicherheitsserver Videos an alle nur erdenklichen Bestimmungsorte verkauft (http://www.erosentertainment.com).
Viele der Vertriebe unterhalten überhaupt keine Geschäfte, sondern arbeiten ausschließlich über Postversand und manchmal werden die Bänder sehr billig angeboten. Der Preis scheint davon abzuhängen, ob die Sache legal oder illegal ist, wobei das Geschäft diesseits und jenseits dieser Linie sich etwa gleich zu verteilen scheint. Die etablierten Vertriebe fremdsprachiger Filme beklagen sich über die Standardverträge der Unterhaltungsindustrie. Der größte unter ihnen, »Facets« aus Chicago, ist eine Buchhaltungsfirma, die auch Videos aus Lateinamerika, Europa und Asien unter ihrem Label veröffentlicht. Andere sehr angesehene Betriebe sind »California Newsreel«, das sich auf afrikanisches Kino spezialisiert hat, oder »Mongrel Media« aus Toronto, das zahlreiche iranische Titel herausgibt. Gleichzeitig existieren aber auch viele halblegale Vertriebe, die praktisch alles bekommen - Material, das meistens aus dem Fernsehen des Ursprungslandes aufgenommen und dann nach Übersee geliefert wird. Allgemein gesprochen, florieren letztere Aktionen dann, wenn die Copyright-Gesetzgebung eines Landes besonders restriktiv ist, wie beispielsweise beim neuen russischen Copyright (1996), das nicht nur die Chancen, dass neue russische Filme in den Vertrieb kommen, ärgstens reduziert hat. Das Gesetz wird nämlich auch rückwirkend angewendet und führte so zum Entzug der Rechte auf viele wichtige sowjetische Titel, die bis 1996 ohne weiteres erhältlich waren - mit dem Resultat, dass jene Filme, die aus Copyrightgründen zurückgehalten werden, trotzdem vertrieben werden, nur eben illegal.
Wenn der Betrieb ein Videogeschäft ist, ist es - im Gegensatz zum Postversand, der auch Nischenmarketing zulässt - unwahrscheinlich, ernsthafte Titel in den Regalen zu finden. Dort sehen Sie dann fast nur das, was in der entsprechenden Community eben als Unterhaltung angesehen wird. Die brasilianischen Videogeschäfte in Toronto zum Beispiel haben jede Telenovela, aber nur sehr selten einen der Filme von Carlos Diegues oder Bruno Barreto. Die japanischen Shops sind voll mit Comics, Mangas und anderen Unterhaltungsvideos, wenn Sie aber nach einem Titel von Mizoguchi suchen, sind Sie am falschen Ort. Theo Angelopoulos in einem griechischen Videogeschäft? Vergessen Sie´s.
Ernsthafte fremdsprachige Titel werden von angesehenen Videovertrieben wie »New Yorker« und »Kino« in den USA oder »Artificial Eye« und »Tartan Video« im U.K. veröffentlicht. Man findet sie gewöhnlich nur in spezialisierten Videoshops, die ein intellektuelles Publikum versorgen. Gelegentlich kaufen aber auch kommerziell- und mainstreamsortierte Stores in der Nähe von Stadtteilen mit bestimmten ethnischen Nachbarschaften einige dieser Filme, weil sie eben die einzigen mit Untertiteln sind und deshalb über jene Mainstreamkanäle vertrieben werden, von denen solche Videogeschäfte einkaufen. Je nach Nachfrage gehen manche sogar einen Schritt weiter und führen eine eigene Verleih- und Verkaufsabteilung mit Filmen in der Sprache der EinwandererInnen der Gegend. Das ist ein außergewöhnlicher Schritt, weil solche Titel nur im entsprechenden ethnischen Postversand zu bekommen sind, der ja kaum auf der offiziellen Lieferantenliste steht. So hat beispielsweise jedes Mainstream-Videogeschäft in Austin, Texas, eine Auswahl an Latinofilmen. Ein »Jumbo Video«-Shop in Vaughan bei Toronto führt ein großes Sortiment an italienischen Titeln. Je nach Gebiet könnte die Abteilung aber auch chinesisch, ägyptisch oder philippinisch sein.
Warum nenne ich eigentlich keine Zahlen zum Anteil dieser Distributionskanäle am gesamten Videovertrieb? Nun, zum einen garantieren die politisch-ökonomischen Interpretationswerkzeuge, die wir im Moment zur Verfügung haben nicht, dass die Interpretation tiefer geht als es die verstreut verfügbaren Zahlen zulassen. Sich auf Zahlen einzulassen kann aber auch davon abhalten, hinter das strikt Messbare zu blicken. Genau diese Abhängigkeit von verfügbaren Daten ist es ja, die viele politische ÖkonomInnen zu SkeptikerInnen macht, die nur mehr auf die erschreckende Expansion der Konzerne im Spätkapitalismus starren und ihre Augen verschließen, sobald ein nicht messbarer alternativer Prozess am Horizont auftaucht. Wenn etwas nicht in der Sprache der Zahlen und Daten zu fassen ist, tendieren sie dazu dieses Etwas als zu schwach, unwirksam oder einfach als nicht der Überlegung wert wahrzunehmen. Und sogar dann, wenn sie bereit sind solch alternative Prozesse zu sehen, hält sie doch genau die Charakteristik der eigenen Methodik davon ab, diese auch anzuerkennen. Zahlen würden uns nur einen kleinen Schritt näher zum Verständnis des »expandierenden Universums« führen. Der nächste große Schritt wäre, die Stärken der traditionellen politischen Ökonomie in einen neuen Ansatz einzubeziehen, der uns ermöglichen würde, Einflüsse und Wechselwirkungen, die bis dato nicht messbar sind, in die Überlegungen aufzunehmen.
Kulturpolitik, MigrantInnen und Filme
Verschiedene westliche Länder engagieren sich in einer Vielzahl öffentlicher Unternehmungen dafür, audiovisuelles Material für EinwandererInnen verfügbar zu machen. Das öffentliche Bibliothekssystem Torontos etwa stützt sich auf Volkszählungsdaten über Sprachen, die in bestimmten Stadtteilen gesprochen werden, um in seinen Bezirksbibliotheken eine entsprechende Auswahl an Videos in eben diesen Sprachen anbieten zu können. In einer durchschnittlichen öffentlichen Bibliothek Torontos findet man deshalb auch Filme auf Bengalisch, Tamil, Griechisch, Mandarin, Deutsch und Italienisch. In Großbritannien, wo monoethnische Enklaven die multikulturelle Landschaft der einzelnen Städte dominieren (Pakistanis in Bradford, InderInnen afrikanischer Herkunft in Leicester, KaribInnen in Bristol), wird der Zugang zu solchen Materialien meistens durch öffentlich finanzierte Gemeindezentren gesichert.
Diese Beispiele scheinen darauf hinzudeuten, dass die Verfügbarkeit fremdsprachiger Filme von der Politik der jeweiligen Regierung in Bezug auf ethnische Gruppen abhängt. Das stimmt jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. US-amerikanisches Laissez-faire und die kanadische Strategie der offiziellen Unterstützung zeitigen nämlich vergleichbare Resultate. Ob Schmelztigel oder Engagement für Multikulturalismus: In beiden Fällen existieren multiethnische Communities weiterhin nebeneinander und auch wenn sie sich gelegentlich vermischen oder gegenseitig assimilieren, so bleiben sie doch öfter in ihren eigenen getrennten Welten abgeschlossen. Im amerikanischen Fall wird diese Isolation noch durch das übereifrige Nischenmarketing von Unterhaltungsprodukten verstärkt, das ja eine Aufteilung der ethnischen Märkte nicht nur verlangt, sondern geradezu auf diese angewiesen ist. Eine solche Strategie affirmiert letztlich ethnische Gruppierungen als diskrete: Latinos neben Schwarzen neben asiatischen AmerikanerInnen. Im kanadischen Fall wird die ethnische Isolation durch das Vorurteil gestützt, die Balance im »vertikalen Mosaik« und damit die garantierten Rechte des Zugangs zu den spezifischen kulturellen Produkten jeder einzelnen Gruppe zu erhalten, was ebenfalls zur Erhaltung monolithischer kultureller Identitäten beiträgt. In beiden Fällen bleiben jedenfalls die ethnischen Subkulturen an der Peripherie der Mainstreamkultur. Sogar wenn es einmal einen Durchbruch gibt, ist dieser gewöhnlich auf den persönlichen Einsatz individueller KünstlerInnen zurückzuführen und sollte wohl nicht als wirkliche Inkorporierung kultureller Praxen einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft in den Mainstream gelesen werden. Die Entfremdung scheint noch dadurch verstärkt zu werden, dass innerhalb der meisten Administrationen die kulturellen Praktiken ethnischer Minoritäten und EinwandererInnen nicht von der zentralen Kulturverwaltung überwacht werden, sondern meistens unter die Jurisdiktion von speziellen Abteilungen für Fragen der Ethnizität und des kulturellen Erbes fallen, was sie dann dort »stranden« und tatsächlich von der Mainstreamkultur ausgeschlossen sein lässt.
»Bollywood«-Festivals
Welche politischen Maßnahmen auch immer: MigrantInnengruppen haben sich im Schaffen von eigenen Unterhaltungsmöglichkeiten als ziemlich selbstständig erwiesen. Ethnische Organisationen mieten oft ganze Kinos für bestimmte Vorführungen und manche haben sogar ein regelmäßiges Programm, nicht selten in irgendwelchen kaum genutzten alten Gebäuden oder Gemeindezentren. In England beispielsweise zeigen auch Mainstream-Kinoketten regelmäßig indische Filme. Neben speziellen Kinos in den jeweiligen »ethnischen« Stadtteilen (in der Stadt, in der ich lebe, gibt es eines namens »Bollywood«), stellen im Vereinigten Königreich auch Mainstream-Vertriebsketten wie »Odeon« oder »Warner Bros.« ihre Kinos für ethnospezifische Unterhaltung zur Verfügung, besonders in Städten mit einem signifikanten Prozentsatz an Indisch sprechender Bevölkerung wie Southall oder Leicester. Periodisch wird dann eine »Indische Filmnacht« plakatiert, die samstags um 23 Uhr beginnt und bis zum nächsten Morgen dauert, ein Wochenendmarathon also mit einem indischen Drei-Stunden-Epos nach dem anderen. Als fixe Regel gilt aber, dass die Filme nicht Englisch synchronisiert sind und im lokalen Kinoprogramm als »Asiatischer Film« angekündigt werden. Manchmal können die von den ethnischen Communities organisierten Veranstaltungen ziemlich groß werden. Beim polnischen Filmfestival in Chicago kann man zum Beispiel mehr Filme sehen als in Polen selbst und das »Chicago Latino Film Festival« zeigt das Beste der Jahresproduktion aus dem Subkontinent. Das Zielpublikum solcher Festivals - etwa der jüdischen Filmfestivals in New York, San Francisco oder Toronto - sind MigrantInnen der zweiten und dritten Generation.
Die wenigen Filme, die es in den Mainstream oder regulären Repertoirevertrieb schaffen, werden nur selten für die betreffende ethnische Community beworben. Nimmt ein Vertrieb einen solchen Film ins Programm, hegt er die Hoffnung, ein breites Publikum an EinwandererInnen anzulocken. Veranstalter haben hingegen schon lange aufgehört, das Interesse an ausländischen Filmen automatisch mit der Herkunft des Publikums in Verbindung zu bringen. Wenn ein Film aus einem bestimmten Land in einem lokalen Programmkino gespielt wird, sehen ihn dort meist nur einige wenige MigrantInnen der jeweiligen Herkunft. Warum ist das so? Teilweise wohl, weil diese Filme nicht so intensiv beworben werden wie Hollywood-Produktionen, die zur gleichen Zeit in der Stadt gezeigt werden. Teilweise aber auch, weil sie in Medien beworben werden, die eine gebildete Leserschaft haben: die Kritikseite in einer Tageszeitung, die kostenlose alternative Tageszeitung, Poster und Flyer in den Universitäten. Zum Teil auch deshalb, weil nur ein Bruchteil der MigrantInnen Leute sind, die diesen Film auch in ihrem eigenen Land sehen würden. Es ist unlogisch, zu erwarten, dass ein Migrant, zum Beispiel ein Serbe, der zu Hause bis dato immer nur patriotische Turbovolksmusikvideos und Action-Abenteuerfilme gesehen hat, sich plötzlich in einem Kino wiederfindet, wo ein subversiver und ernsthafter serbischer Film gezeigt wird, wie »Lepa sela lepo gore« (»Pretty Village, Pretty Flame«) von Srdjan Dragojevic (Jugoslawien, 1996), der sich über die grundlegenden Sprachfiguren der nationalistischen Rhetorik lustig macht.
Darüber hinaus zeigt ein aus MigrantInnen bestehendes Publikum offensichtlich kein spezielles Interesse für Filme, die sich mit den Erfahrungen anderer EinwandererInnen beschäftigen. Grundsätzlich bleibt die ganze Bandbreite der »Migrationsfilme« für die Mitglieder jener ethnischen Gruppen, die das Thema dieser Filme sind, weitgehend unbekannt. Filme wie »El Norte« (Gregory Nava, USA, 1983), der von den Qualen von GualtemaltekInnen handelt, die illegal via Mexiko in die USA einwandern, sind zwar regelmäßig in Film- und Soziologieseminaren zu sehen, bleiben aber für die meisten Betroffenen, die tatsächlich nach Kalifornien kommen, unbekannt. Pakistanische MigrantInnen sind ebenfalls selten mit jenen britischen Produktionen vertraut, die sich mit ihren Erfahrungen beschäftigen, wie beispielsweise »My Beautiful Laundrette« (Stephen Frears, UK, 1986), »Brothers in Trouble« (Udayan Prasad, UK, 1995), oder »My Son the Fanatic« (Udayan Prasad, UK, 1998). AraberInnen in Frankreich kennen kaum einen jener Filme, die sich mit Rassismus und Intoleranz beschäftigen, wie etwa »Thé au harem d'Archimede« (»Tea im Harem des Archimedes«) von Medhi Charef (Frankreich, 1985), »Haine« von Mathieu Kassovitz (Frankreich, 1995) oder »La Vie de Jesus« von Bruno Dumont (Frankreich, 1997).
Trotz allem: diese Filme werden gesehen und sie sind bekannt. Sie sind Teil der Kinokultur der betreffenden Länder und sie haben Auswirkungen auf den jeweiligen öffentlichen Diskurs. Sie lenken die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums auf die Themen des »expandierenden Universums«. Diese Aufmerksamkeit geht auch immer öfter in eine Vielzahl von kinematischen Texten ein, die neues Bewusstsein und Perspektiven schaffen.
»Ethnische FilmemacherInnen«
RegisseurInnen mit einem bestimmten ethnischen Hintergrund emanzipieren sich üblicherweise sehr rasch aus den lokalen ethnischen Peripherien. Trotzdem tragen sie Wissen und kinematische Visionen, die an der Schnittstelle derTraditionen ihres Heimatlandes mit überseeischen entstanden sind, mit sich und bringen diese dann einem allgemeinen Publikum näher. Oft bleiben Filme genau dieser RegisseurInnen innerhalb ihrer eigenen Communities weitgehend unbekannt. Trotzdem sind es meist gerade ihre Werke, die die Kenntnis jener halb verheimlichten Welt, von ethnischen Enklaven und von volkstümlicher Unterhaltung, zu einem untrennbaren Teil der kinematografischen Kultur machen, welche ihre Visionen nicht mehr ignoriert, sondern inkorporiert.
RegisseurInnen mit einem Einwanderungshintergrund oder solche, die selbst MigrantInnen sind, haben oft mit Filmen Erfolg, die ihre Kenntnis von ethnischen Subkulturen und den Erfahrungen von Migration und Marginalität zeigen - nehmen wir zum Beispiel Tony Chans »Combination Platter« (USA, 1993) über die chinesischen MigrantInnen in Flushing, New York, oder Boris Frumins »Black and White« (Russland, 1992) über einen begabten russischen Medizinstudenten und einen Schwarzen in Mannhattans Lower Eastside. Manchmal geschieht es auch, dass RegisseurInnen zwar an ihrem Interesse für Marginalität festhalten, sich aber dafür entscheiden, über die Erfahrungen anderer Minoritäten zu reflektieren - wie der Pole Richard Bugajski, dessen erster in Kananda gedrehter Film »Clearcut« (Kanada, 1992) vom Umweltkampf der IndianerInnen in Britisch Kolumbien an der pazifischen Küste handelte. Im Westen geborene RegisseurInnen mit einem indischen oder pakistanischen Hintergrund nähern sich den Erfahrungen ihrer jeweiligen ethnischen Gruppe oft, indem sie die hybride Natur der Beziehungswelten ihrer eigenen Generation fokussieren. »Masala« (Srinivas Krishna, Kanada, 1991), ein Film, der von InderInnen in Toronto handelt, vermischt die Kinostile des Westens und Bollywoods und legt seinen Blick auf kleinbürgerlichen Konsumismus, auf internationalen Terrorismus, lokalen Rassismus und Krishna-Kulte. Der nächste Film dieses Regisseurs, »Lulu« (Kanada, 1995), über VietnamesInnen und LateinamerikanerInnen in Toronto, erforscht transkulturelle Sexualpolitiken, den Missbrauch des Flüchtlingssystems und andere oft verdeckte Aspekte von MigrantInnenleben. Der Protagonist in »Guru in Seven« (Shani Grewal, UK, 1997), ein hipper Punjabi, der von seiner britischen Freundin verlassen wird, lässt sich auf sexuelle Eskapaden mit Frauen verschiedener Ethnizitäten ein.
Einige der erfolgreichsten »ethnischen« RegisseurInnen verfolgten die Strategie, mit Filmen zu beginnen, die die eigenen ethnischen Gemeinschaften und Kulturen erforschten, um später ethnische Übertone zu unterdrücken und sich mit Problemen der dominanten Kultur zu beschäftigen. Der Debütfilm des in Kairo geborenen Armeno-Kanadiers Atom Egoyan »Next of Kin« (Kanada, 1984) handelte von ArmenierInnen in Montreal. Fast ein Jahrzehnt später, in »Calendar« (Armenien/Kanada/Deutschland, 1993), zeichnete Egoyan das Bild Armeniens als das eines entlegenen und nicht zu verstehenden Landes und untergrub das idealisierte Konzept von einem imaginierten Heimatland. Später machte Egoyan Filme, die Trauma und Entfremdung in einem gesamtkanadischen Kontext erforschten, wie »Exotica« (Kanada,1994) und »The Sweet Hereafter« (Kanada, 1997).
Der Taiwanese Ang Lee begann mit Filmen wie »Pushing Hands« (1992), »Hsi yen« (»The Wedding Banquet«, Taiwan/USA, 1993) und »Yinshi nan nu« (»Eat, Drink, Man, Woman«, Taiwan, 1994), deren Hauptrollen ChinesInnen und TaiwanesInnen spielten, und hat sich - über eine Zwischenphase, der Adaption einer Geschichte von Jane Austen (»Sense and Sensibility«, UK/USA, 1995) - zu einem sensiblen Chronisten der Krise der amerikanischen Mittelklasse in den siebziger Jahren entwickelt (»The Ice Storm«, USA, 1997).
Einige dieser RegisseurInnen wirken wie zwischen Independent und Mainstream gespalten. Der in Hong Kong geborene Wayne Wang führte sich mit »Chan is Missing« (USA, 1982) und »Dim Sum: A Little Bit of Heart« (USA, 1984) in die Welt des American Independent ein. Dann aber schien er mit einer weinerlichen Adaption von »Joy Luck Club« (USA, 1993) eine Mainstreamkarriere anzustreben, um bald darauf wieder mit den Brooklynstreifen »Smoke« und »Blue in the Face« (beide USA, 1995) in die unabhängige Schiene zurückzuwechseln. Die Inderin Mira Nair, Regisseurin des gefeierten Films »Salaam Bombay!«, (Indien/Frankreich, 1988), kam in die USA und drehte »Mississippi Masala« (USA, 1991), der von einer westafrikanisch-indischen Migrantin und einem Schwarzen im Süden der USA handelt. Seither scheint sie sich in Richtung Mainstream-Film zu bewegen, zuerst, indem sie ihr Interesse auf andere Randgruppen im amerikanischen Kontext lenkte - wie etwa in »The Perez Family« (USA, 1995), der von kubanischen MigrantInnen in Miami erzählt -, um später mit dem offen kommerziellen, und viel kritisierten, »Kama Sutra: A Tale of Love« (India, 1996) gänzlich auf schnellen Erfolg zu setzen.
Gemischte Doppel
In den späten Neunzigern begannen dann bei Festivals Filme aufzutauchen, die von zwei RegisseurInnen verschiedener ethnischer Herkunft gemeinsam inszeniert worden waren. Dieses Phänomen ist noch zu jung, um es als Trend zu bezeichnen, aber allein die Tatsache dieser unkonventionellen transkulturellen Kollaborationsbemühungen ist bemerkenswert. Darin begegnen wir, so glaube ich, einer neuen Manifestation von Hybridität, in der einer oder sogar beide der RegisseurInnen bereit sind, eine eindeutige »ethnische Identät« für das Anliegen aufzugeben,Themen nachzugehen, die über die jeweilige eigene Kultur hinaus eine Rolle spielen, der man angeblich angehört. An »Parvozi zambur« (»The Flight of the Bee«, Tadschikistan/Korea, 1998) arbeiteten Min Biong Hun, ein koreanischer, und Jamshed Usmonov, ein tadschikischer Regisseur, gemeinsam. Der Film spielt in Tadschikistan und hat die schwierigen Verhältnisse in einem Dorf zum Thema, wo Überreste von Feudalismus und Kommunismus und neue kapitalistische Verhaltensweisen aufeinander treffen. Ein belgischer und ein mongolischer Regisseur, Peter Brosens und Dorjkhandyn Turmunkh, drehten mit »Nohoi oron« (engl. »State of Dogs«, Mongolei/Belgien/Holland/Dänemark/Finnland, 1998) einen Film zum selben Thema, der in der Mongolei spielt. Der russische Emigrant Nicholas Wadimoff arbeitete an der Seite des Frankokandiers Denis Chouinard an »Clandestins« (engl. »Stowaways«, Schweiz/Kanada/Frankreich/Belgien, 1997), einem Film, der an Bord eines Schiffes, das von Liverpool nach Neufundland segelt, situiert ist. Dieser Film handelt von den illegalen Auswanderungswegen von OsteuropäerInnen und erforscht die Kräfte, die diese neue Diaspora formen.
Bevor ich schließe, möchte ich kurz einen methodischen Aspekt streifen, der in den Filmwissenschaften häufig zur Sprache kommt. Nämlich: wie rechtfertigt sich, dass viele der Filme, die ich hier bloß als Beweis für einenTrend diskutiere, nicht bekannter sind und deshalb nicht als repräsentativ angesehen werden können? Hier ist meine Antwort: anders als die Literatur oder die bildenden Kunst es immer noch sind - wo ein/e individuelle/r KünstlerIn ein Kunstwerk in einem vereinzelten Unternehmen schafft - ist das Filmemachen ein kollektives Unternehmen, das nicht nur Teamarbeit, sondern meistens auch eine Finanzierung von verschiedenen Stellen erfordert. Um die aufzutreiben, müssen die FilmemacherInnen meistens eine Reihe von potenziellen Financiers davon überzeugen, dass ihre Idee künstlerisch wertvoll ist und ihr Film wichtige soziale Themen und Trends featured. Genau diese Tatsache aber, dass ein Filmprojekt nämlich überhaupt finanziert wird, bedeutet allein schon viel. Wenn wir also heute eine Reihe von Filmen sehen, die sich auf ähnliche Weise mit einem ähnlichen Thema auseinandersetzen, dann erlaubt uns das, von einem Trend zu sprechen. Wie bekannt diese Filme gleich nach ihrem Erscheinen werden, ist eine andere Frage. Oft steht nämlich - nicht zuletzt aufgrund der Unberechenbarkeit der Vertriebssysteme - nur ein einziger Film eines Trends im Rampenlicht, während die anderen im Dunkeln bleiben.
Übersetzt von Judith Fischer, Thomas Raab