Heft 4/1999 - Lektüre
Ein Mensch, so Robert Musil, habe mindestens neun Charaktere, »einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geografischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich - aber sie lösen ihn auf.« Analog dazu wird immer wieder das Verhältnis von »race, class and gender« benannt, wenn es um die Entstehung von Subjektformen geht. Wie diese rätselhafte vereinigende Auflösung nun aber tatsächlich vonstatten geht, bleibt meistens diffus. Eine genaue Betrachtung dieses Verhältnisses hat nun Gutiérrez Rodríguez in ihrer soziologischen Untersuchung über Subjektivierungsformen in Deutschland lebender »intellektueller Migrantinnen« unternommen.
Es handelt sich bei diesen um Frauen, die einen Bildungsweg durchlaufen haben, der sie eigentlich für akademische Tätigkeiten qualifiziert. Dennoch sehen sie sich einem Deklassierungsprozess ausgesetzt, in dem sich die überblendenden Machttechniken von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung realisieren. Gleichzeitig sind alle Frauen in der Migrantinnenbewegung organisiert und nutzen ihr Wissen als »organische Intellektuelle« zugunsten der von ihnen gewählten Zusammenschlüsse. An der zwiespältigen Position der Befragten werden modellhaft unauflösliche Widersprüche transparent, die die gesamte Untersuchung durchziehen. Sowohl Theorie und Praxis der Protagonistinnen als auch die komplexe Methode ihrer Darstellung bewegen sich in dynamischen Aporien, die die gleichzeitige Wirksamkeit von Unterdrücktheit und Widerstand hervorheben. Das theoretische Prinzip gleicht dabei einer reflexiven Montageanordnung verschiedener Formen postkolonialer, marxistischer und feministischer Kritik, die einander beständig in Frage stellen und ergänzen. Die Biografien der Protagonistinnen werden in diesem Kontext als Vermittlung zwischen »strukturellem Identitätszwang und subjektiver Handlungsmöglichkeit« bestimmt und stellen in Form und Inhalt »dialektische Bilder« dar, an denen sich sowohl gesellschaftliche und diskursive Zwänge verdichten, als auch die individuellen Weisen, mit ihnen umzugehen.
Anstatt jedoch die einzelnen Dispositive der Vergesellschaftung wie »race, class and gender« voneinander zu lösen und als getrennte Mechanismen der Subjektformation zu betrachten, versteht Gutiérez Rodríguez das komplexe Zusammenspiel zwischen Zwang und Freiheit als »Chronotop« im Sinne Michail Bachtins, das heißt, als spezifisch situiertes Raumzeitgefüge, das bestimmte Geschichten als kohärent erscheinen lässt, sich in anderen jedoch als Bruch einschreibt. Mit dem chronotopischen Ansatz wird gleichsam die gesellschaftliche Dramaturgie jeglicher Erzählung von einem Subjekt miterfasst; egal ob es sich selbst erzählt oder von jemand anderem erzählt wird. Auch diese textliche Ebene erweist sich laut Gutiérez Rodríguez jedoch als unzureichend, wenn es darum geht, die materiellen Konsequenzen dieser Erzählung zu erklären. Zwar sind alle Subjekte symbolisch konstruiert, ihre reale Konstituierung und letztlich Unterdrückung als »ausländische Frau oder Lesbe« realisieren sich jedoch erst, wenn sie durch gesellschaftliche Dynamiken wie Rassismus, (Hetero-)Sexismus und Deklassierung verstärkt werden. Eine rein symbolische Dekonstruktion greift also so lange zu kurz, als nicht auch die gesellschaftlichen Praxen dementsprechend verändert werden. Die von den Protagonistinnen bevorzugten Formen des Handelns und des Widerstands stellen demgegenüber ortsspezifische Taktiken dar, sich in einer dominanten Raumzeit zu bewegen, die für sie wesentlich mehr Hindernisse und Fallen als global enthemmte Flows bereithält. Was Gutiérez Rodríguez als Politik der Örtlichkeit benennt, erweist sich somit auch als knifflig-charmantes Durchwursteln im Zeitalter der Globalisierung.