Es ist ein seltsamer Umstand, dass just in dem Moment, wo KünstlerInnen sich anschicken, den sozialen Raum zu erkunden, PhilosophInnen das »Bild« in seinen unterschiedlichen Ausprägungen neu entdecken. In der Anthologie »Telenoia«, in der übrigens nicht nur PhilosophInnen zu Wort kommen, stehen das digitale Bild, seine Potentialität und sein ontologischer Status im Zentrum des Interesses. Es geht weniger um die Kritik und Analyse der Neuen Medien und ihrer kulturindustriellen Produktionen, vielmehr um ein neues Verständnis der digitalen Bilder und ihrer Beziehung zur Realität.
In ihrer Mehrzahl gehen die zehn Aufsätze auf ein Symposium zurück, das im Sommer 1998 im Rahmen des Projektes »FIN DE SIÈCLE - oder: was kommt nach der Postmoderne?« an der Akademie der Bildenden Künste in Wien stattfand. Der Begriff »Telenoia« ist Roy Ascott entlehnt. Er setzt einem bedrohten Ich, das auf die elektronischen Bilderfluten mit paranoider Selbstkultivierung reagiert, einen »telenoiden Blickwinkel« entgegen. Die Paranoia vor dem digitalen Bild ist hier also nur ein beiläufiges, kultursoziologisches Thema.
Jenseits von allem Kulturpessimismus, mit einem Hang zur Technikaffirmation und einer Prise Skeptizismus werden die neuen Bilder einer materialistischen Analyse unterzogen, und dabei wird sowohl einer anthropologischen Phänomenologie als auch jeglicher Repräsentationstheorie eine klare Absage erteilt. Das digitale Bild, so der Tenor, untergräbt endgültig die starre Subjekt/Objekt-Zweiteilung eines antiquierten Denkens, da es auf keiner vorausgehenden Welt mehr fußt. Die analogen Bildquellen wie Fotografie, Film oder Video hatten noch die Vorstellung nahegelegt, restlos an eine objektive präexistente Welt gebunden zu sein, die sie im schlechtesten Fall nur abbildeten. Nun aber ist mit dem digitalen Bild das analoge Verfahren selbst simulierbar geworden, ein Umstand, der auch die Betrachtung analoger Bilder beeinflusst.
Bereits Henri Bergson hat mit seinem philosophischen Begriff des Virtuellen der natürlichen Wahrnehmung jegliches Privileg entzogen, »um sie dann einem materialistischen Programm (nach Deleuze) einer Welt zu unterwerfen, in dem die Identität von Wirklichem und Bild (=das, was erscheint) schließlich zur Affirmation einer ontologischen Indifferenz zwischen Bild, Bewegung und Materie führt (das Ansich des Bildes).« (Éric Alliez/Elisabeth Samsonow, Einleitung)
Anhand von Beispielen aus dem Expanded Cinema, wie der Dia-Performance/Installation »Living and presumed dead« von James Coleman, veranschaulicht Raymond Bellour, der mit zwei Texten vertreten ist, das Virtuelle. Er zeigt, wie durch den spezifischen Einsatz von Bild, Bewegung und Sprache der »Zuschauer-Betrachter-Leser« zwischen seiner gesicherten aktuellen Wahrnehmung und einem schillernden Spektrum virtueller Bilder oszilliert. Dieses Oszillieren korrespondiert mit dem »Intervall des Denkens« selbst. Es handelt sich hierbei um einen Zwischenraum, der die Produktivkraft des Denkens freisetzt und der nach Deleuze nur im Kunstwerk sichtbar und erfahrbar gemacht werden kann, während die Philosophie dieser Zwischenraum selbst ist.
Dass sich dieses neue Bild des Denkens nicht nur am digitalen Bild entfaltet, zeigt Jean-Clet Martin in seinem Text über Van Gogh. Ihm gilt »La chambre à Arles« als das paradigmatische Bild der Moderne - einer Moderne, die ein neues, nicht-totalitäres Verhältnis zwischen dem Subjekt und seinen Objekten etabliert. Sowohl bei Van Gogh als auch bei James Coleman handelt es sich um halluzinative Wahrnehmungen. In ihrer kulturgeschichtlichen Abhandlung über die Halluzination führt Elisabeth Samsonow unter anderem Hyppolite Taine an, der meinte, dass die Halluzination eben keine falsche äußere Wahrnehmung sei, sondern »die äußere Wahrnehmung eine wahre Halluzination«. Samsonow kommt zu dem Schluss, dass auch die technische Bildgenerierung auf der Basis der Halluzination operiere.
Éric Alliez stellt in seiner »Realphänomenologie« die Frage nach der Objekthaftigkeit des digitalen (virtuellen) Bildes, ohne es auf ein Trugbild oder seinen numerischen Code zu reduzieren. Er unterscheidet zwischen einem kantianischem Ansatz (Lyotard), der dem digitalen Bild aufgrund seiner kalkulierten Machart jegliches ästhetisches Empfinden abspricht, und einem post-platonischen, in dem das Intelligible dem Sichtbaren übergeordnet wird. In diesen Annäherungsversuchen bleibt, so Alliez, das digitale Bild merkwürdig ungesehen. - Übrigens steuerte er zwei weitere Aufsätze bei, die seine profunde Deleuze-Kennerschaft bezeugen, wobei der eine den philosophischen Begriff des Virtuellen bei Bergson/Deleuze vertieft, der andere das deleuzesche Kino-Denken. - Zwischen den Texten von Bellour, Alliez, Martin und Samsonow entsteht eine thematische Spannung, die ein neues Bild des Denkens bezüglich Kunst, Technik, Wahrnehmung und neuer Subjektproduktionen ankündigt.
Die restlichen drei Beiträge wirken, da sie nicht den deleuzianisch-philosophischen Bezugsrahmen teilen, fast wie eingestreut. Renée Green und Gerburg Treusch-Dieter nehmen den Kult um Virtual Reality und Neue Technologien kritisch ins Visier, während Peter Sloterdijk sich in Endosphären verliert. Ein geschulter Kino-Denker sieht sich allerdings um die Qualität der »falschen Anschlüsse« bereichert.