Heft 1/2000 - Netzteil


Die Zukunft ist von gestern

Über das Modernismus-Revival in der Gegenwartskultur

Mark Dery


»Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?« Was macht heutige Wohnungen so anders, so reizvoll? Die ironische Frage, die Richard Hamilton vor bald einem halben Jahrhundert stellte, wird heute unerwartet ernst genommen – von gesellschaftlich unerfahrenen Nouveaux riches, deren Bibel die zehn Gebote des Stils im Magazin »Wallpaper« sind. Und ihre Antwort lautet: modernistische Möbel aus der Mitte des Jahrhunderts. Wie beispielsweise die biomorphen, weit gewölbten »Egg«-Sessel von Arne Jacobsen, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters (1958-1960) die Helden im Film »Men in Black« um einen futuristischen Blickfang bereicherten. Oder das Polstersofa und die disko-kubistische Aluminium-Bodenlampe aus den Sechzigern, die sich in Woody Harrelsons Leichtlohn-Space-Age-Wohnschlafküche in »Ed TV« so äußerst retro-chic – und außerdem absolut unpassend, aber egal – ausnahmen. Oder Eero Aarnios Fiberglas-Sessel »Gyro«, der in Missy Elliots Video »Beep Me 911« auftauchte. Oder die quietschigen, eierförmigen Kissen, die in der »Cafeteria«, einem modernistisch inspirierten Restaurant im New Yorker Chelsea, die Stühle ersetzen. Oder das mattglänzende Jet-Age-Design, noch ein Fetisch von »Wallpaper«. Die Redaktion geriet im Aprilheft 1999 ins Hyperventilieren angesichts von Joe Colombos geschmeidig gebogenen weißen Sperrholzstühlen von 1964 ($ 7.500 das Paar) und Arne Jacobsens »Ox«-Sessel von 1966 (£ 3.800) – einer exotischen Konstruktion mit vorspringenden Armlehnen und einer hochgezogenen, nach vorn gewölbten Kopfstütze –, der aussieht wie ein überkandidelter Chefsessel, den T’Pau, die Matriarchin vom Vulkan aus den alten »Star-Trek«-Folgen, designed hat.

Doch welcher geheimen Antriebskraft verdankt sich die derzeitige Begeisterung für Möbel und Architektur der sechziger Jahre? Hierüber lohnt es sich, in Ruhe nachzudenken; und welchen besseren Ort gäbe es dafür als Eero Saarinens aerodynamisches TWA-Terminal am New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen, das Vorbild des Hauptquartiers und intergalaktischen Raumbahnhofs in »Men in Black« und Thema eines jüngst bei Princeton Architectural Press erschienenen Bildbands? Schließlich vermeldet auch die »New York Times« – deren gewohnt späte Aufmerksamkeit zwar ein untrügliches Zeichen für das baldige Ableben einer jeden Szene, die sich auf ihren Seiten wiederfindet, ist (aber wer wird sich davon schon den Spaß verderben lassen?): »Die prototypische ›Wallpaper‹-Einrichtung ist offenbar die einer First Class-Lounge in einem internationalen Flughafen.«1 Im Idealfall warten wir gerade auf die Lautsprecherdurchsage, die uns auffordert, die Concorde zu besteigen – jenes spitznasige Wahrzeichen des verblichenen Traums von einer Überschallgeschwindigkeitsgesellschaft, das auf seine Weise ebenso traurig-schön ist wie die letzte der vor hundert Jahren ausgestorbenen Wandertauben. Um das Bild zu vervollständigen, hören wir Brian Enos einlullende »Music for Airports«, vorzugsweise aus solchen halbkugelförmigen Sechziger-Jahre-Kopfhörern, wie sie der New Yorker DJ Frankie Inglese benutzt, ein Sammler musealer Elektronika. Dieser klagte jüngst: »Wir schreiben bald das Jahr 2000. Wir haben eine hervorragende Technologie, Handys, das Internet, digitale Kameras und so weiter. Aber wir sitzen noch immer auf Ikea-Möbeln, die eine Beleidigung für das Auge sind. Die Zukunft, die man uns versprochen hatte, sah anders aus: besser.«2

Frankie Inglese ist nicht der einzige, der – wie in »2001« – noch immer auf den PanAm-Flug zum Mond wie in wartet. Von spätgeborenen Baby-Boomern bis zu den ersten Jahrgängen der Generation X haben alle, die sich an die Zukunft erinnern können – an die Weltraum-Popfilm- und Fernseh-Kulissen der sechziger Jahre, eines Jahrzehnts, das im Bereich des Möbeldesign nach Ansicht der Design-Kritikerin Cara Greenberg bis 1972 andauerte –, das vage Gefühl, dass der Monorail nach Tomorrowland verspätet ist. Warum scheinen heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, Olivier Mourgues sanft gewellte »Djinn«-Sessel in der Lounge der Raumstation in »2001« noch immer um Lichtjahre moderner als alles, was wir in unseren Wohnzimmern haben? Greenbergs neuester Großformatband »Op to Pop: Furniture of the 60s«, ist eine verblüffende Dokumentation des Zeitalters der Raketenrampen, der Pille und der LSD-Trips. Wer hätte gedacht, dass die Zukunft von gestern uns noch immer so weit voraus ist? Die banalen Futurismen, die Leute wie Nicholas Negroponte marktschreierisch anpreisen, erscheinen sofort veraltet, wenn wir sie mit der raffinierten sinnlichen Vorstellung von zukünftigen Dingen vergleichen, die einem zum Beispiel Eero Aarnios »Ball« (ca. 1965) – eine mit Sitzkissen und Stereolautsprechern ausgestattete Hohlkugel, die Greenberg »eine Solo-Raumkapsel für das ganz private Abheben«3 nennt – vermittelt. Wir finden hier aufblasbare Sessel, kugelförmige, an der Decke aufgehängte Sessel und polymorphe, andeutungsweise perverse Sessel aus Polyurethanschaum, die komprimiert und vakuumverpackt ausgeliefert wurden und beim Auspacken zum Leben erwachten, sich allmählich aufblähten, bis sie nach etwa einer Stunde ihre endgültige Form erreicht hatten. Ana Azevedo, Miteigentümerin des New Yorker Antiquitätenladens »A & J 20th Century Designs«, wundert sich über Teenager, die in ihr Geschäft kommen und »glauben, dass alle diese Sechzigerjahre-Sachen brandneu sind, dass dies das Design von heute ist. Wir wollten, dass die Zukunft so aussehen sollte, aber wir haben es nie geschafft, den Space-Age-Look im Alltag heimisch zu machen. In Flughäfen geht man auf Laufbändern, aber das ist das einzige, was wir mit den Jetsons gemeinsam haben.«

Die Frage bleibt aber: Warum heute? Warum sind wir, auf der Schwelle des neuen Jahrtausends, so begeistert von einer Zukunft aus der Vergangenheit? Weil wir sie haben können. Der vielgepriesene lange Boom erlaubt uns – oder genauer, einigen von uns, nämlich den Medien-Bohemiens und den Zahlenspielern, die an der Börse von der Neuen Wirtschaft profitierten – den Luxus, uns um die Eleganz unserer Inneneinrichtungen zu sorgen. Die »Wallpaper«-Reportagen über den Retro-Stil der Reichen und Berühmten machen unmissverständlich klar: Dies ist kein preiswerter Chic. Aber warum Retro-Futurismus? Weil wir, trotz – oder wegen – aller Millenniumsängste und der erschreckenden Bilder jener Zukunft, die in Science-Fiction und Hollywoodfilmen verbreitet wird, an etwas GLAUBEN wollen. Der Apple PowerMac G3 bedient dieses Bedürfnis – sein stromlinienförmiges, türkis und weißes Äußeres erinnert unterschwellig an das Space-Age-Design und das Farbenschema von Disneys Tomorrowland. Ebenso wie der G3 bringen uns modernistische Möbel, wie zum Beispiel Paul Tuttles zickzackförmiger Stuhl »Z« (1964), den Tuttle selbst mit einer Raketenstartrampe verglich, zurück in eine Zeit vor der Challenger-Katastrophe und der desolaten Raumstation Mir, als das Versprechen der Technologie noch makellos glänzte – in eine Zeit, als Präsident Kennedy der gebannt lauschenden Nation verkündete, dass Amerika den Weltraum erobern würde, und als das Publikum der Weltausstellung in New York 1964 zusah, wie »Maschinen von morgen« eine »Mondlandschaft« urbar machten. Natürlich kommen wir nie dorthin zurück, weshalb unser Schwärmen für die Space-Age-Zukunft immer schon mit postmoderner Ironie getränkt ist. Kryogenisch konserviert in einer Vergangenheit, die nichts von Atomunfällen und Giftmüllhalden wusste, erscheint die Zukunft von gestern campy oder kitschig oder harmlos komisch. Aber genießen wir sie, solange wir können, bevor sie wieder zurück in die Tiefkühltruhe der Geschichte wandert. »I.D.«, ein weitaus strengerer Richter in Stilfragen als »Wallpaper«, erklärt bereits: »Da inzwischen nicht nur ›Time‹ und die ›New York Times‹, sondern selbst die ›Washington Post‹ mit ihrem unwiderlegbaren Gespür in Sachen des Stils das Modernismus-Revival ausgerufen hat, ist es offensichtlich vorbei.«4 Und was kommt danach? Natürlich der Postmodernismus, die Comic-artige, zappende Ästhetik der späten Achtziger. Dieser nächste große Retro-ismus kündigt sich schon an, beispielsweise in Michael Graves’ postmodernen Küchen-Accessoires für Target. Nennen wir es Retro-Pomo, Neo-Pomo oder Po-Pomo.

Oder nennen wir es die Rache der Vergangenheit an der ewigen Gegenwart unserer augenblicksgerecht proportionierten Schnelldurchlauf-Kultur. Denn selbst wenn »die Zukunft nicht mehr existiert, weil sie von der unersättlichen Gegenwart verschlungen ist«5, wie J. G. Ballard schrieb, ist die Gegenwart bereits fast passé. Unser Leben im schwindenden medialen Zwischenraum zwischen heißen Tipps und kaltem Kaffee, zwischen den Trends des Tages und dem Alles-schon-Gehabt hat eine nostalgische Sehnsucht nach der Gegenwart entstehen lassen – das melancholische Wissen, dass auch unsere futuristischsten Gadgets, unsere semiotischen Kürzel für die Zukunft, schon morgen früh veraltet sein werden.

 

Übersetzt von Christoph Hollender

 

1 Julia Chaplin, »Generation Wallpaper«, The New York Times, Sunday Styles section, 6. September 1998, S. 2.
2 Ebd.
3 Cara Greenberg, Op to Pop: Furniture of the 60s, New York: Bulfinch Press, 1999, S. 22.
4 Jennifer Kabat, »Post Postmodern«, I.D., März/April 1999, S. 30.
5 J. G. Ballard, »Introduction to the French Edition«, in: Crash, New York: Vintage Books, 1985, S. 4.