Heft 1/2000 - Modernism Revisited


Ruinen der Moderne

Über den Zusammenhang von Nation, Totalitarismus und Moderne am Beispiel der Architektur Rio de Janeiros

Beatriz Jaguaribe


Rio de Janeiro ist eine Stadt, die einen ständigen Dialog zwischen ihren architektonischen Strukturen und ihrer natürlichen Umgebung inszeniert.1 Die üppige tropische Landschaft rückt architektonische Bestrebungen und Kontraste zurecht, was zu Lasten der städtischen Infrastruktur geht. Die Vitalität der urbanen Kultur von Rio spiegelt sich nicht nur in monumentalem Stein wider, sondern auch in der ständigen Neuschöpfung von musikalischen Formen, Tanzrhythmen, physischen Konfigurationen und künstlerischen Ausdrucksweisen.

Im Gegensatz zu Brasília, der Stadt, die Ende der fünfziger Jahre ganz gezielt als Hauptstadt der Moderne geplant wurde, sammelte Rio de Janeiro als Hauptstadt der Kolonie 1763, als Hauptstadt des unabhängigen Reiches unter der Herrschaft von Pedro I. im Jahr 1822 und schließlich als Hauptstadt der neu ausgerufenen Republik 1889 ein vielfältiges Repertoire an Ausdrucksformen. Mit dem positivistischen Motto »Ordnung und Fortschritt« auf der Nationalflagge gingen in der Konsolidierung der Republik Moderne und Nationalstaatlichkeit eine enge Verbindung miteinander ein.

Durch den Abriss der verfallenden Kolonialbauten im innerstädtischen Raum und das Planieren topografischer Hindernisse, die dem Bau neuer Prachtstraßen mit modernen Bauten im eklektizistischen Stil im Weg standen, strebte Bürgermeister Francisco Pereira Passos von 1902 bis 1906 danach, die antiquierte Hauptstadt in eine etwas bescheidenere Version des Pariser Ideals zu verwandeln. Unterstützt von den hygienepolitischen Bemühungen von Ärzten und Technikern versuchte Passos – als lokale Version Haussmanns –, ein Modell der Moderne zu begründen, das in tropischer Umgebung nachahmte, was als höchster Stand der Moderne in der Stadtplanung galt, wie er durch kulturelle Modelle aus Frankreich und in geringerem Maße durch amerikanische Innovationen verkörpert wurde.

Die Machtübernahme von Getúlio Vargas in den dreißiger Jahren markierte einen Bruch mit dem früheren kosmopolitischen Streben der Alten Republik. Während seiner Herrschaft als oberster Diktator Brasiliens erteilte Vargas den Auftrag für den Bau mehrerer öffentlicher Gebäude, welche den Aufbau der Nation im Sinne verschiedenster Vorstellungen von Moderne und ihren Bezug zu einem brasilianischen Nationalethos widerspiegeln sollten. Der Bau des Ministeriums für Unterricht und Gesundheit (Ministério da Educação e Saúde, MES) in den dreißiger und vierziger Jahren stand für den Triumph des Kanons der Moderne – ein Triumph, der sich später in den Plänen für das Universitätsgelände der Föderalen Universität Rio de Janeiro in der Nähe der Fundão niederschlagen sollte, die ab 1949 und bis in die sechziger und siebziger Jahre umgesetzt wurden.2

Mit der Verlegung der Bundeshauptstadt von Rio de Janeiro nach Brasília in den sechziger Jahren kam der Architektur der Moderne die Funktion zu, die Schaffung eines neuen Nationalethos zu vermitteln.3 Der Kanon der Moderne fand seine exemplarische Verkörperung in dem Architekten und Stadtplaner Lucio Costa. Costa war die führende Person in der Architektengruppe, die in den dreißiger und vierziger Jahren das Ministerium für Unterricht und Gesundheit baute und in den fünfziger Jahren für die städtebauliche Pilotplanung von Brasília zuständig war. Als der Gouverneur von Rio de Janeiro in den sechziger Jahren beschloss, dem Niedergang von Rio als ehemaliger Hauptstadt durch Förderung der Stadterweiterung in die damals noch unverbauten weiten Strandgebiete der Barra da Tijuca entgegenzuwirken, holte er sich Lucio Costa als wichtigsten Stadtplaner. Die Präsenz des Staates ging jedoch merklich und zunehmend zurück, während Rio de Janeiro einen durch den Immobilienmarkt angeheizten Bauboom nach dem anderen erlebte. Das Viertel der Barra da Tijuca, das anfänglich von den Regierungsbehörden idealisiert wurde, war bald Zielgebiet massiver Immobilienspekulationen. Es wuchs in den siebziger Jahren rasch und wurde in den neunziger Jahren zum kulturellen Wahrzeichen eines neuen städtischen Stils.

In der Umsetzung dieser Reformen verschob sich der Ausdruck der Modernisierung von städtischen Bauten, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts versucht hatten, kosmopolitische Modelle unter dem Einfluss französischer Parameter nachzuahmen, zur nationalistischen und internationalistischen Architektur der Moderne aus den dreißiger und fünfziger Jahren, um in den neunziger Jahren beim Szenario der Globalisierung zu landen.

Das Ministério da Educação e Saúde – ein modernistisches Nationalsymbol

Der Verfall des Palais Gustavo Capanema, das in den dreißiger und vierziger Jahren als Ministerium für Unterricht und Gesundheit (Ministério da Educação e Saúde, MES) bekannt war, und in geringerem Ausmaß auch der schlechte Zustand der Gebäude, aus denen das Universitätsgelände der Föderalen Universität Rio de Janeiro an der Fundão besteht, beleuchten das konfliktgeladene Verhältnis zwischen diesen Bauten der Moderne und ihrer eigenen Vergänglichkeit. Diese architektonischen Formen triumphierten einst als Verkörperung nationaler Erzählungen der Modernität, oder besser: Projektionen der Nation auf ihrem Weg in die Moderne. Dennoch verfielen diese vom Staat als Ausdruck eines modernen Nationalethos finanzierten Bauten. Wesentliche architektonische Prinzipien, die Architektur und Stadtplanung der Moderne begründeten, bleiben jedoch auch heute unter dem Kräftespiel des Immobilienmarkts erhalten.

Heute werden diese früheren Nationalikonen der Moderne als Trümmer einer verfallenen Architektur der Moderne betrachtet. Während man die Baufälligkeit dieser öffentlichen Gebäude anerkennt, negiert man ihre utopischen Prämissen. Erbaut, um ein Gefühl des Neuen und das Ethos des modernen Staats zu vermitteln, wurden diese Gebäude im Zeichen der Zukunft errichtet. Sie nahmen den Weg der Nation vorweg, indem sie zur Avantgarde der Moderne gehörten. Am Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir die veraltete Struktur dessen, was einst Projektion der Gegenwart in die Zukunft war.

Obwohl das Palais Gustavo Capanema ohne Unterbrechung als Regierungsgebäude fungierte und derzeit renoviert wird, stellt das Gebäude in der Demontage seiner Struktur die paradoxe Figur einer modernen Ruine dar. Der Begriff der modernen Ruine ist daher nicht wörtlich zu nehmen. Dennoch ist er auch keine subjektive Projektion von nostalgischen BetrachterInnen. Diese Gebäude wurden in einem spezifischen Moment und Kontext der Betrachtung zu modernen Ruinen – einem Moment, der sich zwischen ihrer ehemaligen Neuheit und der Tatsache, dass sie letztlich entweder in sich zusammenfallen oder renoviert werden, erstreckt. Wie an ihren brüchigen Materialien ersichtlich wird, führen sie frühere utopische Projektionen in Ruinen über. Durch den Verfall dieser Bauten wird der Widerspruch zwischen dem Zweck des modernen Bauwerks als Verkörperung des Neuen und dem Ausdruck ihrer Überalterung inmitten der kulturellen Transformationen der Stadt in den Vordergrund gerückt.

Erbaut, um symbolisch modern und unverhohlen funktionell zu sein, verloren diese Gebäude ihre ehemalige Neuheit nicht nur aufgrund der Erosion ihrer Materialien, sondern auch aufgrund des Zerfalls des modernistischen Nationalethos, der sie formte. Die moderne Ruine vereint in sich die widersprüchlichen Tatsachen, dass die Objekte der Moderne, während sie sich als das Neue postulieren, unvermeidlich ihren Niedergang in sich tragen und doch gleichzeitig ihren Alterungsprozess leugnen. Als Emblem für das Neue an der Moderne verhandelte das moderne Gebäude eine Projektion der Zukunft, die heute aus der Mode gekommen ist. Die Repräsentationen des Nationalen, die Erfahrungen des Urbanen und die Inszenierung verschiedener Vorstellungen von Moderne sind ebenfalls in der paradoxen Figur der modernen Ruine erfasst.

Im Gegensatz zu den modernen Ruinen bietet der Immobilienboom des neuen, am Strand gelegenen Viertels der Barra da Tijuca in Rio de Janeiro ein Spektakel des globalisierten Konsums im freien Spiel der Marktkräfte. Der offenkundige Gegensatz zwischen früheren Avantgarde-Bauten, die zu modernen Ruinen verklärt wurden, und dem Triumph der zeitgenössischen Türme der Barra da Rijuca erzählt von einem wichtigen Aspekt der kulturellen Entwicklung der Stadt Rio de Janeiro, die einst Synekdoche des brasilianischen Kulturethos war.

Die Vision der modernen Ruinen, wie etwa des früheren Ministeriums für Unterricht und Gesundheit (MES) oder der Förderalen Universität, enthüllt in ihren verfallenden Bauten nicht nur ein architektonisches Ablaufdatum, sondern auch die Vergänglichkeit eines modernen Nationalprojekts, das nach den totalisierenden Parametern eines Pantheons der Moderne errichtet wurde.

Die Ruinen der klassischen Imperien waren Ausdruck der Unbesiegbarkeit der Zeit und der Größe menschlicher Baukunst, die ihr Widerstand leistete. Die romantische Betrachtungsweise der gotischen oder römischen Ruinen kleidete sich in die melancholische Anerkennung einstiger Größe, die durch die Kräfte der Natur vernichtet wurde.4 Moderne Ruinen sind Ausdruck der Baufälligkeit des Neuen. In ihrer Auflehnung gegen das Wirken der Zeit manifestieren sie eine Verweigerung des Todes und ein Negieren der Geschichte. Das Reich der Natur legt sich über die Schriften der Geschichte, so wie die Vegetation Beton überwuchert. Und doch wird die Geschichte paradoxerweise in der unvermeidbaren Vergänglichkeit der Bauten, die einander ablösen, noch einmal bestätigt. Die moderne Ruine als Niederlage des Neuen und etwas, das zukünftigen Utopien den Nimbus nimmt, bietet keine exemplarische Erlösung.

Moderne und Totalitarismus

Im Jahr 1936 wurde ein öffentlicher Wettbewerb für den Bau des neuen Ministeriums für Unterricht und Gesundheit ausgeschrieben. Obwohl die offiziellen Sieger Geldpreise erhielten, wurde ihr Projekt nie verwirklicht. Stattdessen wurde parallel ein anderer Ausschuss eingesetzt, der Lucio Costa und eine Gruppe moderner Architekten, darunter Oscar Niemeyer, mit der Planung betraute. Das MES war der erste öffentliche Zweckbau der Moderne in Lateinamerika.5 Es war stilistisch direkt von Le Corbusier inspiriert und wurde prägend für ein neues Gründerethos.

Als das MES geplant wurde, entstand auch ein anderes großangelegtes Projekt der Moderne. Die Universität von Brasilien, die heutige Föderale Universität Rio de Janeiro, brauchte ein neues Universitätsgelände und akademische Einrichtungen. Im Tauziehen zwischen widerstreitenden Gruppen kam es zur Konfrontation zwischen den Anhängern von Le Corbusier und den Bewunderern des renommierten italienischen Architekten Piacentini. Piacentini hatte die neuen Gebäude der Universität von Rom entworfen. Das faschistische Regime seines Heimatlandes bewunderte seine Fähigkeit, neue Bauten mit der monumentalen Aura der klassischen Antike zu umgeben. Piacentini und Le Corbusier standen für ganz unterschiedliche Ideologien und Ausrichtungen, auch wenn manche der Kollektivierungstendenzen in der internationalistischen Architektur jenen der faschistischen äußerst ähnlich waren. Der in Europa herrschende Streit zwischen der internationalen Architektur der Moderne und der Architektur der totalitären Regime hatte direkte Auswirkungen auf die autoritär-nationalistische Politik von Getúlio Vargas. In Deutschland legte Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt, besonderen Wert auf den Gedanken, dass die Bauten der Nazis vorwegnehmen sollten, wie ihre Ruinen in Zukunft aussehen würden. Naziarchitektur in Ruinen würde auf diese Weise das heldenhafte Denken zukünftiger Millennien inspirieren.6

Obwohl sie auch versuchte, ihre eigene Form der Monumentalität zu entwickeln, ging es der internationalistischen Architektur der Moderne nicht direkt um eine erneute Monumentalisierung der Vergangenheit. Das Monument der Moderne bezeichnete primär eine Zukunft, die bereits in seinen Plänen enthalten war. Das »Neue« entzog sich der historischen Vergänglichkeit, lehnte sich gegen sein unumgängliches Altern auf, hatte nicht die Absicht, sich selbst als Ruine zu sehen, und strebte nicht nach Heroismus, wie die Architekten des Nationalsozialismus und des Faschismus dies taten. Die Geschichte war ein progredierendes Werden, das die Bauten der Moderne stets vorwegnehmen sollten. Sogar das brasilianische MES mit seinen starken Bindungen an die Vergangenheit wurde als Gebäude konzipiert, das aussah, als werde es täglich neu eingeweiht. Die Zeit sollte im gefrorenen Raum der Zukunft keine Bedeutung haben. Die architektonische Lösung der Moderne, die auf der Prämisse des Neuen aufbaute, forderte aber unvermeidlich die eigene Entthronung durch etwas noch Neueres heraus. Als Denkmal der Schöpfung des »Neuen« hätte die Architektur der Moderne im ewigen Neuen erstarren müssen, um den verheerenden Auswirkungen der Zeit zu entgehen.

Glasscherben, abblätternder Putz, rostiger Stahl, zerbrochener Sonnenschutz, gesprungene Kacheln, Feuchtigkeitsspuren und wild wucherndes Unkraut gehören zum Repertoire der Dekadenz, die bis vor kurzem das MES, die frühere Ikone der modernen Architektur in Brasilien, umgab.

Am anderen Ende der Stadt bietet das Universitätsgelände der Föderalen Universität Rio de Janeiro – ein Projekt, das aus dem Streit zwischen Piacentini und Le Corbusier in den dreißiger Jahren entstand und schließlich ab dem Jahr 1949 realisiert wurde – ein verheerendes Bild. Die Prinzipien von Le Corbusier setzten sich durch, aber die Gebäude sind zu funktionsgestörten Baukörpern aus zerbröckelndem Beton geworden. Die modernen Gebäude stehen wie normierte Betonblöcke inmitten abgestorbener Vegetation und glühend heißen Asphaltgassen. Die dezentrale Gestaltung der Bauten, die Getúlio Vargas bewusst als städteplanerisches Konzept für die Universität gewählt hatte, um potenzielle Studentenunruhen im Keim zu erticken, erfüllt wahrlich ihren Zweck. Jedes Institut ist ein isolierter Bunker. Die schlechte Versorgung durch das öffentliche Verkehrsnetz führt dazu, dass sich die StudentInnen bei ihren verzweifelten Versuchen, dem funktionalistischen Labyrinth zu entfliehen, um die Haupteingänge scharen. Als Zweckbauten errichtet, können diese dekadenten Bauten der Moderne nicht in Würde altern, weil die Vorstellung des Alterns mit ihrer Funktionalität als Architekturmaschinen unvereinbar ist.

Ästhetik des Konsums

Die Vision moderner Ruinen oder früherer Ikonen, die heute dekadente Bauten der Moderne sind, gehören zur symbolischen Kartografie, die auch zeitgenössisch-modernistische Wolkenkratzer und postmoderne Luxusbauten wie Hochhäuser, Mega-Einkaufszentren und abgeschlossene Komplexe von Eigentumswohnungen in der Barra da Tijuca umfasst. Die moderne Ruine ist daher nicht nur eine Frage des tatsächlichen physischen Verfalls der Gebäude, sondern auch des Zerbrechens eines früheren Ethos, das sich nie erfüllte und bereits veraltet ist.

Im Gegensatz dazu bewirbt man in massiven Kampagnen die Barra da Tijuca als globalisiertes Szenario der zeitgenössischen Konsumkultur. Modernistische Wolkenkratzer, Einkaufszentren und exklusive Eigentumswohnungen, deren Stil auf Derivaten moderner Paradigmen oder auf postmodernen Zitaten beruht, sind streng isoliert und durch Zäune abgegrenzt, sie stellen und wappnen sich gegen das Eindringen der verarmten Stadt. Besonders die Komplexe mit Eigentumswohnungen in der Barra da Tijuca sind bestrebt, Sicherheitszonen der Ober- oder Mittelschicht gegen Übergriffe der sich ausbreitenden Slums zu werden. Auf normierte Muster dessen konzentriert, was angeblich den Lebensstil der heutigen Ober- und Mittelschicht ausmacht, steht die Barra da Tijuca für das Dilemma des Verhältnisses zum Rest von Rio de Janeiro.

Ironischerweise wurden die Riesenblocks von Brasília, die anfänglich zur Förderung des sozialen Egalitarismus und der Solidarität gedacht waren, in der Barra da Tijuca zu den abgeschlossenen Wohnkomplexen, die jeden Außenseiter abwehren, der die Gesichtskontrolle beim Eingang zur bewachten Gemeinschaft nicht besteht. In diesen befestigten Anti-Städten haben die Neureichen neben Sektoren für die nicht ganz so gut Betuchten und den Mittelstand einen geeigneten Lebensraum gefunden. Von den Gesellschaftskolumnen der Zeitungen als »Aufsteiger« bezeichnet, sind die Neureichen der Barra da Tijuca begierig darauf, die Qualitäten ihres Lebensstils hervorzuheben: Er basiert auf offen zur Schau gestelltem Reichtum und unverblümtem Kitsch – Perserteppiche im Mercedes, goldene Hubschrauber, die neusten technischen Spielzeuge, »echte« Barockheilige, die strategisch neben Gemälden des »Aufsteigers« unter den Malern, Romanelli, platziert werden, der seine Bilder farblich auf die jeweilige Sitzgruppe abstimmt. In ihrem Bestreben, kalifornischen Reichtum, Lebensgefühl aus Miami und den Glamour New Yorks zu imitieren, spiegeln die Immobilienanzeigen der Barra da Tijuca auch eine paradoxe Beziehung zu Rio de Janeiro wider. Einerseits ist die Barra da Tijuca die Quintessenz des Neuen – eine Neuheit, die sich in zahlreichen Eröffnungen von Einkaufszentren und neu erschlossenen Liegenschaften äußert. Und doch beruht diese Neuheit auf einem Muster, das den Wunsch erkennen lässt, die Konsumkultur der »Ersten Welt« zu kopieren. Die Ästhetik des Konsums ist das, worauf dieses Viertel am meisten verweist, und die Nachahmung amerikanischer Modelle steht in direktem Zusammenhang mit der Vorstellung der USA als Konsumparadies. Die Freiheitsstatue aus Styropor, die das Mega-Einkaufszentrum »New York City Center« ziert, soll nicht Ausdruck der Bewunderung für das »Land der Freiheit« sein, sondern steht für die Freiheit des Kaufens. Die kolonisierte und imitative Geste, mit der man sich das amerikanische Symbol der Freiheit aneignete, reißt die Statue aus dem Zusammenhang ihres symbolischen Werts und preist die USA als ultimatives Einkaufszentrum. Die Tatsache, dass das Abbild der Freiheitsstatue auch noch ein billiges Ding aus Styropor ist, macht aus ihr die höchste Ikone eines Kapitalismus, für den Freiheit nichts anderes bedeutet als Freiheit des Konsums.

Indem sie sich vom Rest der Stadt distanziert, versucht die Barra da Tijuca mit ihrer stadtplanerischen Gestaltung eine Utopie des Konsumdenkens zu schaffen, die im globalisierten Szenario des Einkaufszentrums ihren Kristallisationspunkt gefunden hat und durch eine Architektur der Angst geschützt wird, welche die Stadt als Markt, als privilegierten Ort von KonsumentInnen hervorzuheben sucht, die Bürgerrechte aufgrund ihrer Kaufkraft erwerben. Andererseits versucht die Barra da Tijuca mit ihrem Mangel an historischer Dichte ihre eigene Mythologie eines früheren Rio de Janeiro zu schaffen, das eigentlich nie existiert hat, aber heute neu verpackt wird. Es wurden nicht nur die architektonischen Wahrzeichen von Rio de Janeiro innerhalb des geschützten Bereichs des Einkaufszentrums nachgebaut, auch die Mustereigentumskomplexe heißen suggestiv »Neu-Leblon« oder »Neu-Ipanema« – ein neues Leblon oder Ipanema, welche die Aktualisierung eines früheren mythischen Moments fördern, als der Strand noch der öffentliche Raum war, wo man die »Girls from Ipanema« traf, und es weder soziale Spannungen noch Unruhe gab. Konfrontiert mit der steigenden Gewaltbereitschaft und Bedrohung seitens einer explosiven Stadt bieten die Wohnkomplexe Neu-Leblon und Neu-Ipanema einen abgeschlossenen, geschützten Raum, einen Rückzugsort in der Vorstadt, der die Mythologie einer nicht existierenden Vergangenheit wieder aufleben lässt und das ausblendet, was Baudelaire als den Aufruhr des Modernen bezeichnete: die Vision der modernen Stadt mit ihrem breiten Spektrum an Fremden, Gebäuden und unerwarteten Begegnungen.

Zwischen den Utopien, die im Denkmal der modernen Ruine, im Superblock von Brasília und im zeitgenössischen Komplex abgeschotteter Eigentumswohnungen zum Ausdruck kommen, liegt ein Weg architektonischer Projektionen und fehlgeschlagener staatlicher Vorhaben, welche die brasilianische Gesellschaft durch eine exemplarische und allumfassende Veränderung zu prägen suchten.

 

Übersetzt von Elisabeth Frank-Großebner

 

1 Dieser Essay ist die gekürzte und abgeänderte Version eines früheren Essays mit dem Titel »Modernist Ruins: National Narratives and Architectural Forms«, erschienen in Public Culture, Bd. 11, 1999, S. 294-313.

2 In diesem Essay werde ich die eigentliche Bezeichnung des Palais Gustavo Capanema – benannt nach dem Minister, der den Bau ermöglichte – und die frühere Bezeichnung Ministerium für Unterricht und Gesundheit (Ministério da Educação e Saúde, MES) verwenden. Als wichtigste Dokumentationsquelle für die historischen Daten in diesem Essay diente mir der hervorragende Artikel von Maurício Lissovsky und Paulo Sérgio de Moraes de Sá: »O novo em construção: o edifício-sede do Ministério da Educação e Saúde e a disputa do espaço arquiteturável nos anos 30«, erschienen zusammen mit Originalarchivmaterial in ihrem Buch As colunas da educação: a construção do Ministério da Educação e Saúde, Rio de Janeiro, Ediçoes do Patrimônio, 1996. Ihr Artikel legt auch detailliert die Pläne für den Bau eines Universtitätsgeländes an der Fundão dar. Siehe auch Donato Mello jr., »Un campus universitário para a cidade do Rio de Janeiro«, in Arquietura Revista, Fau/UFRI, Bd. 2, 1985.

3 Der Triumph der Architektur der Moderne wurde mit der Erfindung von Brasília Ende der fünfziger Jahre endgültig konsolidiert. Das dadurch entstandene Interesse am Bau von Brasília machte die riesige Nation an der Peripherie zur Speerspitze der modernen Architektur. Innerstaatlich stand der Bau der Hauptstadt in der Wüste des brasilianischen Herzlandes emblematisch für die Utopie einer Moderne, die mimetisch die eigene Modernität durch eine neue Staatsgründung auslöschen würde. Die Stadt der Moderne, die neue Hauptstadt eines Landes an der Peripherie, signalisierte die Möglichkeit, das Moderne abseits der Zentralachse zu inszenieren. Die bemerkenswerte Leistung, eine Hauptstadt auf der Tabula rasa des brasilianischen Zentralplateaus zu bauen, symbolisierte den Anfang einer neuen Geschichte, die sich in neue architektonische Formen projizierte. Gegenüber den großen Unterschieden zwischen den Regionen, der brutalen sozialen Ungleichheit und den uneinheitlichen Mustern, nach denen Vormoderne und Modernisierung verlaufen waren, stellte diese Hauptstadt aus Glas und Beton die Utopie der normierten und egalitären Moderne dar. Was eine nähere Betrachtung zur Symbolik der Moderne angeht, die man in Brasília findet, verweise ich auf James Holstons Studie The Modernist City, Chicago und London, The University of Chicago Press, 1989.

4 Mehr zur Bedeutung klassischer Ruinen in der Literatur der Romantik findet sich in Laurence Goldstein: Ruins and Empire: The Evolution of a Theme in Augustan and Romantic Literature, Pittsburgh, University of Pittsburgh Press, 1977.

5 Siehe Alberto Xavier, Alfredo Britto und Luiza Nobre: Arquitetura Moderna no Rio de Janeiro, Rio de Janeiro, Rioarte, 1991.

6 Siehe Albert Speer, Inside the Third Reich, New York, Macmillan Company, 1970.

Beatriz Jaguaribe lehrt am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Föderalen Universität Rio de Janeiro