Heft 2/2000 - Inland Europa


Ein Transitionsmärchen

Über die Verdrängung der kommunistischen Vergangenheit in postkommunistischen Gesellschaften

Boris Buden


Als vor zwei Jahren, anlässlich des hundertfünfzigsten Jahrestags seiner ersten Auflage, das kommunistische Manifest von Karl Marx in Zagreb wieder herausgegeben wurde, zeigte die kroatische Öffentlichkeit zwar ein gewisses Interesse für das neue alte Büchlein. Sie war jedoch keinesfalls bereit, das Ereignis zum Anlass zu nehmen, sich mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit in irgendeiner Weise auseinanderzusetzen. Als wäre der jugoslawische Sozialismus vor tausend Jahren untergegangen, oder, als hätte es ihn nie gegeben. Es war klar, dass es hier nicht um bloßes Vergessen ging.

Dieser verlegerischen Provokation ist es gelungen, ein gesellschaftliches Symptom aufzuspüren, das auf eine schwerwiegende Verdrängung verwies. Jenseits von jeder schon längst abgedroschenen Aufforderung zur Vergangenheitsaufarbeitung bzw. -bewältigung drängten sich Fragen auf, die vielmehr nach einer Orientierung im jetzigen Chaos suchten: Welche Rolle spielt die Verdrängung der kommunistischen Vergangenheit in einer postkommunistischen Gesellschaft? Hat sie irgendeine ideologische Funktion? Was sind ihre politische Effekte? Ist sie nur für das postkommunistische Osteuropa spezifisch? Diese und ähnliche Fragen offen zu stellen und eventuell zu beantworten, ist das Ziel einer Veranstaltung, die von einem politisch sensibleren Teil der Zagreber Kunst- und Kulturszene für das Juni (16. - 19.) geplant wurde. Die aus einer Konferenz, einer Ausstellung und mehreren workshops bestehende Veranstaltung bringt Künstler und Theoretiker aus West- und Osteuropa nach Zagreb. Der symbolische Kern des Projektes ist das kommunistische Manifest als eine Grundmetapher für die Erstellung artistischer und politischer Manifeste, die sich sowohl der modischen Proklamation von einem Ende der Ideologie, als auch einem postpolitischen Identitätswahn widersetzen.

Das Projekt braucht keine kulturelle Rechtfertigung. Es wäre sinnlos, eine solche im eigenen - kroatischen - kulturellen Kontext zu suchen. Die zehn Jahre eines kulturellen Thermidors, das heißt, einer kulturellen Kontrarevolution, die im Namen der Nationalkultur vom Staat, der katholischen Kirche und einer vom Nationalismus besessenen intellektuellen Elite durchgeführt wurde, haben eine kulturelle Wüste hinterlassen. Man konnte sich nun zwar an das, was vor tausend Jahren geschah, erinnern, vergaß aber gleichzeitig ein »gestern« in individueller und gesellschaftlicher Dimension. Eine totale Wiederbelebung der nationalen kulturellen Tradition endete in einer Kultur totalen Vergessens, deren einziger Inhalt heute nur noch als ihr ideologischer Zweck zu erkennen ist. Als Folge verschwand der ganze Bereich der Kultur. Er löste sich im »nationalen Projekt« restlos auf.

Während in Kroatien nichts mehr Kultur ist, ist draußen in der weiten postmodernen Welt inzwischen alles Kultur geworden. Sie verbreitete sich - nach den Worten von Fredric Jameson - durch den ganzen gesellschaftlichen Raum bis zum Punkt, in dem »everything in our social life - from economic value and state power to practice and to the very structure of the psyche itself - can be said to have become cultural in some original and as yet untheorised sense.«1

Unter diesen Umständen brauchen kulturelle Projekte keine »kutlurelle« Rechtfertigung außer einer: dass sie auf das Andere der gegebenen Situation verweisen. Kultur ist nämlich immer schon »an idea of the Other«2 gewesen. Hier also, in einem Suchen nach dem Anderen, liegt die wahre »kulturelle« Motivation des Zagreber Projekts. Das Andere aber kann als solches erst in der eigenen historischen Situation erfahren werden - im Falle Kroatiens im Rahmen der sogennanten Transition.

Heute wird von den osteuropäischen Ländern ganz selbstverständlich behauptet, dass sie sich im Prozess der Transition befinden. Damit wird im allgemeinen eine Übergangsphase vom Kommunismus zur Demokratie bezeichnet. Die Gesellschaften Osteuropas seien zwar nicht-mehr-kommunistisch, gleichzeitig aber noch-nicht-richtig-demokratisch. Wie soll man dieses seltsame historische Interregnum zwischen zwei politisch-ideologischen Systemen verstehen? Den Begriff der Transition haben Politikwissenschaftler in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren eingeführt, um verschiedene Fälle des Regimewechsels, vor allem im damaligen Südamerika und Südeuropa, zu erklären. Ursprünglich hieß also Transition nichts anderes als »ein Intervall zwischen zwei verschiedenen politischen Regimes«, wie eine minimalistische Definition aus dem Jahre 1986 lautet.3 Der Ausgang einer so verstandenen Transition war im Prinzip immer offen. Sie hätte nicht notwendigerweise im System politischer Demokratie enden müssen, sondern auch zu einer neuen, vielleicht noch schlimmeren Form der autoritären Herrschaft führen können. Damals war es noch vorstellbar, dass eine südamerikanische Militärdiktatur durch eine marxistische, sogar eine maoistische Diktatur abgelöst wird oder diese sich noch andere politische Formen aussucht. Die Chilenen zum Beispiel machten sich damals mit Allende durch eine demokratische Entscheidung auf den Weg zu einer »sozialistischen Demokratie«, wurden aber von der Militärjunta in eine andere Richtung gezwungen. Zu jener Zeit war die Welt noch ziemlich kompliziert.

Zwei konkurrierende ideologisch-politische Systeme und eine Reihe antikollonialistischer Bewegungen in der sogenannten »dritten Welt« sorgten für eine prinzipielle Ungewissheit im Bereich des Politischen. Es schien, als hätte man eine freie Wahl, als wäre die Geschichte noch offen. Heute wird der Ausgang einer Transition im Voraus determiniert. Sie kennt nur noch einen einzigen Weg, und zwar den in das globalkapitalistische System der westlichen liberalen Demokratie. Die Transition impliziert hier eine Gesellschaft, welche sich von einem historisch überholten und zurückgebliebenen Zustand zu einer höheren Entwicklungsstufe bewegt, die in allen Hinsichten ein besseres Leben verspricht. Sie ist notwendigerweise fortschrittlich, sonst wäre sie keine Transition, sondern eine Regression. Diese ist aber in der heutigen Welt prinzipiell unvorstellbar. Wir alle schreiten fort und zwar auch dann, wenn eine reale Erfahrung das widerlegt. Nur: eine Erfahrung lässt sich immer noch umdeuten. Das Rad der Weltgeschichte aber kann kein Mensch von seinem Wege abbringen. Den sogenannten Kindern des »Kommunismus« ist diese Situation wohl bekannt. Unter einem solchen Determinismus sind sie aufgewachsen. Damals war es die treibende Kraft des Klassenkampfes, welche die Gesellschaft sicher in die bessere, klassenlose Zukunft steuerte. Frei zu sein hieß, die eisernen Gesetze der Geschichte zu kennen und sich ihnen zu beugen. Der Weg in eine bessere, kommunistische Zukunft war nicht nur gut markiert, sondern auch unausweichlich.

Nichts wesentlich anderes passiert heute. Diesmal ist es The General Low of History, dem man sich bedingungslos beugt. Das Ziel wird klar und eindeutig gesetzt und sein Erreichen garantiert. Nach den neuen Transitologen müsse man nur noch den objektiven, externen Faktoren - ökonomische, kulturelle, institutionelle, - genau folgen, um zur Demokratie zu kommen. Manchmal ist die Geographie schon genug: »... geography is indeed the single reason to hope that East European countries will follow the path to democracy and prosperity«, schreibt einer von ihnen. Politik versteht er nur noch als einen Kampf um die Kontrolle über diese objektiven externen Faktoren: »if we really control economic growth and the institutional setting, it is very likely that democracy will occur.«4 Einige Transitologen sind noch einen Schritt weiter gegangen. Sie meinen, der Weg zur Demokratie werde einfach durch die Natur bestimmt: Es sei »a natural tendency and therefore not difficult to achieve«5. Die Politik wird auf der Theorie der natürlichen Selektion von Charles Darwin begründet.6 So blieben die »Kinder des Kommunismus« das, was sie schon einmal waren: Marionetten in einem von ihrem Willen unabhängigen geschichtlichen Prozess, der sie in eine bessere Zukunft mitschleppen soll. Sogar diese seltsame Form gesellschaftlichen Lebens und politischer Handlung, die man heute Transition nennt, ist ihnen durchaus vertraut. Ihrer geschichtlichen Erfahrung nach, 1989 ist nämlich, streng genommen, nicht der Kommunismus, sondern der Sozialismus untergegangen. Dieser aber war nichts anderes als eine Art Übergangsgesellschaft, also die Gesellschaftsform einer Transition vom Kapitalismus zum Kommunismus.

Mit anderen Worten: Die einzige Gesellschaftsform, die die osteuropäischen Völker in den letzten fünf Jahrzehnten gekannt haben, ist die der Transition, und 1989 hat daran nichts geändert. Eine Übergangsphase wurde durch eine andere abgelöst; die Transition setzte sich einfach fort, zwar in eine andere Richtung, aber mit der gleichen historischen Gewissheit. So irren die postkommunistischen Gesellschaften hin und her wie Nomaden der Weltgeschichte, ohne auch nur für eine Weile Ruhe zu finden. Der hoch entwickelte, liberaldemokratische Westen scheint hingegen immer schon an diesem Ziel gewesen zu sein, so als hätte er sich in der Weltgeschichte von Anfang an sesshaft gemacht. Wo kommt dieser seltsame Eindruck her?

In seiner kritischen Reflexion über den heutigen Liberalismus kommt Norman P. Barry zu dem Schluss, dass der philosophische Test verschiedener neoliberalen Theorien nur in einer einzigen fundamentalen Situation angewendet werden kann, nämlich in der »transition from socialism to capitalism«7. Solange sich die Markttheorien in den fundamentalen Prozess einer solchen systemischen »Deregulierung« nicht applizieren lassen, bleiben sie utopisch. Daraus folgt, dass in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine ideale Marktsituation eigentlich als Utopie strukturiert ist. Dementsprechend kann der »Markt« letztendlich für genauso utopisch und unrealisierbar gehalten werden, wie es der Sozialismus noch vor kurzem wurde. Diejenigen also, die die kommunistische Idee als eine Utopie in die Rumpelkammer der Geschichte abgestellt haben, hängen selbst einer utopischen Konstruktion an. An diesem Widerspruch und seinen Folgen müssen aber nicht alle gleich leiden. Das Pech eines reality checks bleibt den Gesellschaften in Transition vorbehalten. Dort muss man mit offenen Augen über dem Abgrund balancieren: zwischen einem allen versprochenen Wohlstand und dem Elend der kriminell exproprierten Massen, zwischen den angekündigten low & order und dem barbarischen Gesetz des Stärkeren, zwischen einer im allgemeinen Interesse funktionierenden Demokratie und der Willkür partikulärer Machtansprüche, kurz, zwischen Utopie und Realität des heute alleinherrschenden globalen Kapitalismus. Kein Wunder, dass es einem unter diesen Umständen schwindelt, dass man jede Orientierung verliert und selbst nicht mehr Vergangenheit von Zukunft unterscheiden kann. Nach einigen Analysen der wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen des NATO-Angriffs auf Jugoslawien braucht Serbien noch vierzig Jahre Wiederaufbau, um zurück zum kommunistischen Entwicklungsniveau von 1989 zu kommen. Wie soll man den Kommunismus letztendlich verstehen? Als die Vergangenheit einer Illusion oder eher als die Zukunft einer Realität? Der demokratische Westen weist die Antwort; der in Transition befindliche Osten muss aber die Frage in ihrer Realität durchleben. Das Verhältnis, in welchem die Welt der real existierenden Demokratie zu einer postkommunistischen Gesellschaft in Transition steht, ist nur mit jenem zu vergleichen, welches die aus dem Märchen bekannte Stiefmutter ihrem Spieglein gegenüber pflegt. Alles bleibt in bester Ordnung, solange auf die berühmte Frage, wer die Schönste in dem ganzen Land sei, die Machthaberin in ihrer Alleinherrschaft automatisch bestätigt wird. Die wahre Geschichte fängt aber erst dann an, wenn die Antwort auf eine »hinter sieben Bergen bei den sieben Zwergen« versteckte Alternative verweist.

 

 

1 Fredric Jameson: Postmodernism, Or the Cultural Logic of Late Capitalism. In: New left Review, no. 146 (July, 1984), S. 87.

2 Fredric Jameson: On »Cultural Studies«. In: Social Text, no. 34 (1993), S. 34.

3 In: O\'Donnell, Guillermo and Phillipe Schmitter. Transitions from Authoritarian Rule. Tentative Conslusions about Uncertain Democracies. Baltimore 1986, S. 3.

4 Adam Przeworski: Democracy and the market: political and economic reforms in Eastern Europe and Latin America. Cambridge 1991, S. IX.

5 John Mueller: Democracy, Capitalism, and the End of Transition. In: Michael Mandelbaum (Ed.): Postcommunism. Four Perspectives. New York 1996, S. 102-67, S. 117.

6 Tutu Vanhanen: The Process of Democratization: A Comparative Study of 147 States, 1980-88. New York 1990, S. VII.

7 Barry P. Norman: On Classical Liberalism and Libertarianism. New York 1987.