Heft 2/2000 - Inland Europa
Was heißt es, EuropäerIn zu sein? Bedeutet es immer noch - ungeachtet aller innereuropäischen Fissuren -, eine kulturell dominante, majoritäre, vor allem auch weiße Position innezuhaben? Oder müssten nicht gerade die historischen Gewalt- und Abgrenzungsakte, die in dieser Zuschreibung enthalten sind, verstärkt zum Vorschein gebracht werden - vor allem wenn es darum gehen soll, eine umfassende, über-nationale Einheit zu suggerieren? Schon früh hat sich Paul Gilroy mit solch spezifischen europäischen Ausschließungsprozessen befasst, in seinem Buch »There Ain\'t No Black in the Union Jack« (197) etwa, in dem er die wechselseitigen Abgrenzungen von »Blackness« und »Britishness« untersuchte. Oder in der einflussreichen Studie über den »Schwarzen Atlantik« (1993), in dem er eine maßgebliche Kehrseite der europäischen Moderne in der schwarzen, transatlantischen Gegenkultur aufzeigte. Gilroys neuestes Projekt geht noch einen Schritt darüber hinaus und versucht ein postkoloniales Gegenprogramm zum historisch in Europa verankerten »Rassendenken« zu entwerfen. Ausgehend vom Nationalsozialismus, seinem nachhaltigen Bildrepertoire, seinen weltweiten Resonanzen in separatistischen Bewegungen und schließlich seinem unentrinnbaren Vermächtnis soll ein utopischer Sprung gelingen: hin zu einem langsam erkennbaren Ende alter rassistischer Trennungen; hin zu einem Europa, das sich seiner barbarischen Geschichte ebenso wenig verschließt wie seinen nicht-majoritären Rändern.
Christian Höller: Ihr neues Buch »Between Camps«1 versucht einen politisch brisanten Übergang zu beschreiben: von dem, was Sie als gegenwärtige Krise des »Rassendenkens« diagnostizieren, hin zur erhofften Schlussfolgerung, dass dadurch ein neuer, planetarischer Humanismus - ein »wurzelloser Kosmopolitismus« - im Entstehen sei. In Bezug auf die Prämisse des Buches - die Krise des »Rassendenkens« - möchte ich Sie zunächst fragen, in welchen Bereichen und an welchen Beispielen Sie die Symptome dieser Krise genau festmachen?
Paul Gilroy: Stimmt, mein neues Buch widmet sich der Krise desjenigen Wissens, das die virtuelle Realität von »Rasse« überhaupt erst ins Leben ruft. Ich beziehe mich dabei auf Frantz Fanons Projekt eines neuen Humanismus, aber weniger im Sinne eines »wurzellosen Kosmopolitismus« - diese Phrase ist nur insofern interessant, als sie von den Nazis als Schimpfwort verwendet wurde. Vielmehr geht es mir um einen Kosmopolitismus in seiner verzweigten (»routed«) planetarischen Ausformung.
Die Krise des »Rassendenkens« zeigt sich meiner Ansicht nach zunächst in den Auswirkungen der biotechnologischen Revolution. Es ist absolut unklar, ob die alten Definitionen von »Rasse« die dadurch ausgelösten Verschiebungen schadlos überstehen werden. Sollte die Biotechnologie eine neue Form von Körperpolitik nach sich ziehen, so wird darin die Idee der »Rasse« keinen besonders komfortablen Platz haben. Was aber natürlich nicht heißt, dass sich damit alles zum Besseren wendet. Nur, dass die Entwicklung dann nicht mehr auf dieselbe Weise rassistisch sein wird, wie wir dies aus der Vergangenheit kennen. Um einen zweiten Bereich anzusprechen: Die USA-spezifische Definition von »Blackness« als etwas Niedriges und Verächtliches ist mittlerweile stark ins Wanken gekommen, da heute viele schwarze US-AmerikanerInnen höchst attraktive »Software« für den globalen Markt produzieren. Ich will damit natürlich nicht behaupten, dass diese Entwicklung das Problem des Rassismus löst, sondern vielmehr, dass wir der neuen Muster, die dadurch entstehen, Rechnung tragen müssen. Drittens gibt es heute - insbesondere in der überentwickelten Welt - ganze Horden dissidenter junger Menschen, für die die Idee der »Rasse« absolut keine Bedeutung mehr hat und für die die Hybridisierung von Kulturen zu einer völlig gewöhnlichen Routineangelegenheit geworden ist. Außerdem sind in den postkolonialen Städten auf der ganzen Welt neue Lebens- und Beziehungsformen entstanden, in denen die Rassenhierarchien der alten kolonialen Epoche unhaltbar geworden sind. Und - als letzter Punkt - formieren sich gerade ökologische und anti-korporative Bewegungen, die sich den Widersprüchen der Globalisierung widmen, ebenso wie eine translokale Kultur von Menschenrechten, für die »Rasse« in die Kategorie »Narzissmus der minimalen Unterschiede« gehört.
Sieht man all diese Aspekte im Zusammenhang der tiefgreifenden Veränderungen, denen Nationalstaaten, nationale Regierungen und Kulturen ausgesetzt sind, so ändert sich auch die Sichtweise, aus der die Politik von »Rasse« und Rassismus heute angegangen werden sollte. Keine dieser Entwicklungen alleine garantiert ein positives Ergebnis. Aber alle zusammen tragen zu einem geänderten Klima bei, in dem wir ein neues Verhältnis zu uns selbst kultivieren können. Ich möchte aber auch hinzufügen, dass der Antirassismus eine neue moralische Basis braucht, eine moralische Transfusion. Deshalb hat das Buch auch ein ausgesprochen utopisches Flair. Wir haben uns so daran gewöhnt zu sagen, wogegen wir auftreten, dass wir gar nicht mehr sagen können, wofür genau wir eintreten. Auch das muss sich ändern.
Höller: Um noch einmal auf die Krise des »Rassendenkens« zurückzukommen: Findet gegenwärtig nicht - intuitiv gesprochen - eher so etwas wie das genaue Gegenteil davon statt, nämlich ein Wiederaufleben ethnischer Konflikte in unterschiedlichsten kulturellen und politischen Kontexten? Man braucht nur an die letzten Februar vollzogene österreichische Regierungsbildung zu denken, an der eine offen rassistische Partei mit 27 Prozent Stimmenanteil beteiligt ist. Oder an die ungebrochene weiße Vormachtstellung überall in Europa - laut einer EU-Umfrage halten sich beispielsweise 4 Prozent aller Franzosen selbst für »ziemlich« bis »sehr rassistisch«.Taucht nicht die Idee der »Rasse« - auch wenn sie offiziell verabschiedet wurde - auf ganz alltäglicher Ebene überall wieder auf, und sei es unter dem Deckmantel unüberbrückbarer kultureller Differenz?
Gilroy: Dieser schreckliche Befund stimmt natürlich, und ich möchte auch überhaupt nicht abstreiten, dass allseits Rassismen existieren, dass sie bösartig sind und dass Ultra-Nationalismen verschiedenster Sorte ein immenses Hindernis für Demokratie und Gerechtigkeit darstellen. Ich meine, wir sollten dies zur Kenntnis nehmen und auf systematisch vergleichende und trans-nationale Weise eine kritischen Annäherung daran versuchen. All diese Prozesse müssen im anhaltenden historischen Schatten des Kampfes gegen den Faschismus betrachtet werden. Ebenso muss die Geschichte dieser Epoche überdacht und neu geschrieben werden, sodass EuropäerIn-Sein nicht länger mit Weiß-Sein gleichgesetzt wird.
Aber die Tatsache, dass Rassismen und Nationalismen allgegenwärtig und gewalttätig sind, bedeutet nicht automatisch, dass auch das »Rassendenken« historisch neu aufflammt. Ihre Präsenz könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die historischen Codes dieses Denkens gerade aufzulösen beginnen. Wir könnten die erwähnten Ereignisse also auch als Symptome eines solchen Zerfalls deuten, als Niedergang, der dadurch ausgelöst wird, dass eine absolut gesetzte Identität der Last nicht gewachsen ist, die ihr von den gegenwärtigen politischen Interessen aufgebürdet wird. Im Zuge der Globalisierung beginnen die Menschen, ihre ontologischen und ethnischen Ängste in Identitätspolitik zu kanalisieren, und ihre Identitätsängste in Ethnizitäts- und Nationalitätspolitik. Wir müssen mehr darüber herausfinden, warum das so attraktive und gangbare Optionen sind. Dazu sollten wir auch nationale Identitäten auf ganz unterschiedlichen Ebenen neu begreifen lernen und die Integrität der Europa-Idee in Frage stellen, sodass deren koloniale Muster wieder sichtbar werden. Die EuropäerInnen kennen ihre Geschichte nicht. Deshalb widme ich mich in meinem Buch auch der Rolle, die schwarze - koloniale und amerikanische - Soldaten im Krieg gegen Hitler spielten, wie auch den Verbindungen zwischen dieser politischen Moral und den Imperativen, die später während des Kalten Krieges in den Entkolonialisierungsbewegungen auftauchten.
Höller: Sie gehen davon aus, dass wir gerade das Ende der Trennung nach Hautfarben erleben würden - oder zumindest nahe daran sind. Als kleine Episode möchte ich erwähnen, dass es bei den Protesten gegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds letzten April in Washington2 so schien, als befänden sich auf der einen Seite ausschließlich weiße Protestierende, während auf der anderen Seite überwiegend schwarze Polizisten standen. Wie schätzen sie solche »Trennlinien« im Hinblick auf Ihren Ansatz ein?
Gilroy: Es ist interessant, sich aus all den Geschichten, die über die Washingtoner Proteste erzählt werden könnten, ausgerechnet diese herauszupicken. Es handelt sich dabei sicherlich um eine ur-amerikanische Geschichte - die Geschichte der amerikanischen Apartheid. Sie suggeriert, dass die Bedeutung der Proteste in dieser »lokalen« Trennung zu suchen sei. Ich hingegen finde, dass in der Konfrontation in Washington ganz andere Dinge zum Ausdruck kommen: Aspekte eines planetarischen Bewusstseins etwa, Fragen der Verantwortlichkeit, translokale Solidarität und politisches Handeln auf globaler Basis - gegen ein ungerechtes und nicht aufrechtzuerhaltendes System, das den amerikanischen Wohlstand um den Preis sichert, dass die Mehrzahl der Weltbevölkerung zu Zwangsarbeit und Hunger verurteilt ist.
Für mich ist die Polizei in dieser Auseinandersetzung schlicht und einfach die amerikanische Polizei, die von der Regierung dazu eingesetzt ist, einen bestimmten gewalttätigen Job auszuüben. Ich denke, es wäre ein großer Fehler, die amerikanische Geschichte der Rassentrennung in diese Auseindersetzung hineinzulesen. Das wäre eine Niederlage, was die politische Dimension des Ereignisses betrifft. Natürlich war den Leuten, die diese Trennung in den US-Medien groß herausstrichen, die Dynamik des »Teilen und Herrschens« bewusst. Wir sollten aber auch eines nicht vergessen: Nur weil man schwarz ist, heißt das nicht automatisch, dass man radikal, antikapitalistisch oder irgendetwas in der Richtung sein muss. Die Cops sind in vielerlei Hinsicht einfach Durchschnittsamerikaner, die ihrem Job nachgehen.
Lagerdenken und Hybridität
Höller: Ich möchte jetzt gerne darauf zu sprechen kommen, was Sie als die »Lagermentalität« des modernen Nationalstaates und der modernen Regierungsformen bezeichnen. »Lager« bezieht sich ja nicht nur auf das moderne politische Denken, sondern auch auf die tatsächliche Barbarei in den Nazi-Lagern wie auch im kolonialen Kontext. Wie der Titel der britischen - im Gegensatz zur amerikanischen3 - Buchausgabe nahelegt, favorisieren Sie eine Position »zwischen« den Lagern. Meine Frage lautet: Sollte man sich nicht gänzlich von jeder Form von Lager-Diskurs zu verabschieden versuchen? Oder worin besteht der Vorteil, für eine Position »zwischen den Lagern« einzutreten, wodurch ja die Legitimität dieses Begriffes bekräftigt wird?
Gilroy: Der Titel meines Buches lautet richtig »Between Camps«. Der amerikanische Verlag hat dies ohne meine Zustimmung geändert. Ich gehe davon aus, dass diese Phrase unsere politische und historische Position umschreibt. Hier befinden wir uns, und von hier aus müssen wir auch eine neue moralische und politische Orientierung in dieser schwierigen Zeit finden. Natürlich habe ich auch versucht, der Erfahrung und der Kategorie des »Dazwischen-Seins« einen eigenen Wert zu verleihen, um dadurch zu verdeutlichen, dass IRGENDWO dieser Ort existieren muss, von dem aus kritische Beobachtungen und Interventionen möglich werden. Dieser Ausgangspunkt gewinnt noch an Tragfähigkeit, wenn er direkt mit dem Begriff der Diaspora und einer dezidiert anti-nationalen Einstellung verknüpft wird, welche die Sensibilität der Diaspora ja üblicherwiese auszeichnet. Damit möchte ich aber keineswegs die Dislozierung romantisieren, sondern deutlich machen, dass mit diesem Prozess sowohl neue Einsichten als auch Verlust und Leiden einhergehen.
Höller: Dies verweist bereits auf aktuelle Formen der kulturellen und politischen Zugehörigkeit. In dieser Hinsicht lautet Ihr berühmtes Argument ja, dass Identität in diasporischen Kontexten stets vorläufig, relational, in anhaltende Konflikte verwickelt sei und keine fixen »Wurzeln« habe. Das Modell dazu haben sie in Ihrem Buch »The Black Atlantic«4 dargelegt - ein sehr einflussreicher Ansatz, der auf den Begriffen Vermischung, Synkretismus und konstanter Neu-Anpassung beruht. Glauben Sie, dass diese Art von hybrider Identität - oder diese Form der Identitätsbildung - alle Dislozierten kennzeichnet, ungeachtet ihres sozialen oder bildungsmäßigen Status? Anders gefragt: Sind diese Identitäten auf einer grundlegend »populären« Ebene verfügbar oder sind sie realistischerweise eher der kulturellen Elite vorbehalten?
Gilroy: Nein, ich bin strikt gegen die Idee, dass Hybridität nur für jene verfügbar ist, die »links abbiegen«, wenn sie ein Flugzeug besteigen. Das ist mir zu pessimistisch, und außerdem wird diese Kritik an meiner Position oft in böser Absicht geäußert. Michael Ignatieff, Jonathan Friedman und all die anderen Conaisseure von Differenz, die sich hier als Polizisten aufspielen, scheinen der Ansicht zu sein, sie wären die einzigen, die sich frei in der Welt bewegen dürfen. Die Probleme setzen ein, wenn all die lärmenden Schwarzen antanzen und die Pensionisten zu ärgern beginnen, deren Ablehnung von Fremden und »AusländerInnen« dann auch noch als legitim betrachtet wird. Diese Kritiker waren meiner Meinung nach überhaupt nie Antirassisten. Sie haben nie die Würde und Integrität verstanden, die es braucht, um Gerechtigkeit und Demokratie mittels eines Antirassismus zu testen, der jede liberale politische Kultur auszeichnen sollte.
Zunächst war die Debatte um Hybridität im Kern immer eine Auseinandersetzung über die Erfahrung von ImmigrantInnen und ihren Kindern, die selbst keine MigrantInnen mehr sind. Der Punkt ist der, dass die Position der sogenannten »ImmigrantInnen der zweiten Generation« eine Absurdität darstellt. Die lautesten Stimmen gegen meinen Ansatz mystifizieren und verschleiern diesen Punkt. Wenn man sich darüber hinaus das Leben in den postkolonialen Weltstädten ansieht, so sieht man nicht nur, dass »Kultur etwas Gewöhnliches ist«, wie Raymond Williams gesagt hat, sondern auch, dass Hybridität etwas ganz Gewöhnliches ist. Sie ist zu einer Routine geworden, zu einem banalen Element innerhalb des Alltagslebens. Hier ist die Utopie nicht das Zeichen der Ortlosigkeit, sondern die Bezeichnung des »guten Ortes«, der »guten Stadt«. Ich gehe davon aus, dass die Globalisierung die Spaltung in jene, die sich frei bewegen können, und jene, die gefangen sind, befördert. Aber selbst jene, sie sich nicht frei bewegen können, begreifen ihre Identität, ihre Erfahrung, ihr In-der-Welt-Sein über translokale Prozesse verschiedenster Art, nicht zuletzt über die translokalen »Mediascapes«5 des Info-Unterhaltungssektors.
Schwarze Populärkultur
Höller: Das bringt mich zu einem wichtigen Übergang, den Sie in ihrem Buch beschreiben und der zentral ist für ein adäquates Verständnis der Rolle, die Ethnizität in der aktuellen Populärkultur spielt. In Bezug auf die schwarze Popkultur - die verzweigte Gegenkultur des »Black Atlantic« - registrieren Sie einen wichtigen historischen Wandel: von einem identitätspolitischen Ansatz, der etwa im Siebzigerjahre-Soul und -Funk, beispielsweise George Clintons »Free your mind and your ass will follow«6, noch deutlich spürbar war, hin zu einer Art »rassifizierter Biopolitik«, wie sie in vielen Formen von HipHop, im Gangsta Rap und vor allem auch im Sport zum Ausdruck kommt. Einerseits führt diese körperzentrierte Biopolitik über die alten ethnisierenden Diskurse - vom Schwarzen als inferiorer Existenz - hinaus, andererseits produziert sie selbst eine Menge neuer Stereotypen, etwa jene vom schwarzen Superathleten. Sehen Sie irgendeine Chance, wie sich diese Ambivalenz politisch produktiv verwerten lässt? Oder ist diese Entwicklung insgesamt zum politischen Scheitern verurteilt?
Gilroy: Ich bin mir nicht sicher, wie sich die moralische Energie und die politische Kritik der Siebzigerjahre-Bewegung wieder zum Leben erwecken lässt. Der entscheidende Konflikt besteht meiner Ansicht nach zwischen einer Kultur der Privatisierung und der von ihr hochgehaltenen Körperlichkeit auf der einen Seite und einer eher altmodischen Kultur des öffentlichen Interesses auf der anderen. Es gibt im HipHop ein paar residuale Momente, in denen das politische Vokabular dieser Zeit widerhallt. Mir gefällt etwa die Idee, dass man immer noch darum bemüht ist, den Körper aus der Welt der Arbeit, des Geldverdienens etc. zurückzureklamieren. Es gibt eben auch andere Formen der Freiheit und Erfahrung der eigenen Macht als jene, die die konzerngesteuerte Multikultur verordnet. Die Club- und Rave-Szenen etwa sind stark und lebendig, weil dort trotz allem Eindrücke eines Lebens jenseits einer ausschließlich vom Markt diktierten Kultur erfahrbar werden. Vielleicht sollten wir ebensoviel Einbildungskraft darauf verwenden, uns das Ende des Kapitalismus vorzustellen, wie wir in Vorstellungen vom Ende der Welt investieren.
Höller: Im Hinblick auf die konzerngesteuerte Multikultur - man denke nur an die Vermarktung von ausgeflippten schwarzen Körpern oder SupersportlerInnen, etwas, was Sie im übrigen scharf vom politischen Projekt des Multikulturalismus trennen - bringen Sie eine interessante Genealogie ins Spiel. Diese geht auf die zentrale Stellung zurück, welche das Bild und Visualität im allgemeinen (etwa auch Logos) im politischen Projekt der Nazis einzunehmen begannen. Das ganze Buch hindurch tauchen auch immer wieder erhellende Parallen zwischen dem Nationalsozialismus und diversen schwarzen Separatismen auf. Glauben Sie, dass diese Genealogie - in Form eines speziellen »faschistischen Glamours« - wirklich so weit in die Gegenwart heraufreicht, dass sie die Dominanz des Visuellen in der aktuellen Massenkultur bestimmt?
Gilroy: Was die konzerngesteuerte Multikultur betrifft, so müssen wir uns tatsächlich mit dem Vermächtnis von Leni Riefenstahl auseinandersetzen, das die postmodernen Gesundheits- und Fitnesskulturen durchzieht. Dieses Vermächtnis existiert innerhalb und außerhalb der Demokratie. 1936 sind da unglaublich dauerhafte Muster entstanden, die seither in den Traumlandschaften des Kapitalismus ständig wieder auftauchen. Wie viele Sportartikelwerbungen etwa greifen Elemente aus Riefenstahls Films »Olympia« auf? Warum sind diese speziellen Symbole und Kodierungen des Körpers so mächtig geworden? Wie kann ein besseres Verständnis davon dazu beitragen, eine Grenzlinie zwischen einer faschistischen Moderne und vermeintlichen gesünderen Versionen zu ziehen? Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Robert Proctors Buch »The Nazi War on Cancer«7 verweisen, der ein ähnliches Argument in einem anderen Kontext verfolgt und ähnliche Fragen in Bezug auf verschiedene Versionen der Moderne stellt.
Höller: Wie gesagt, ist es sehr verblüffend, welche Parallelen Sie zwischen dem Nationalsozialismus, seiner Suche nach Reinheit und nationaler Erneuerung, und der »fraternalistischen«, maskulinen Reinheitssuche schwarzer Unabhängigkeitsbewegungen entdecken. Aber würden Sie wirklich so weit gehen zu sagen, dass es eine Art universales faschistisches Muster in all diesen unterschiedlichen historischen Kontexten gibt? Wenn Marcus Garvey etwa von »afrikanischem Lebensraum« spricht - lässt sich das selbst nicht wieder als eine Art globaler Synkretismus betrachten, nämlich dort, wo man ihn am wenigsten erwartet?
Gilroy: Es wäre ein Fehler zu glauben, Schwarze müssten sich permanent in einem gänzlich anderen moralischen Universum bewegen als andere Menschen. Opfer von Rassismus gewesen zu sein, bedeutet nicht, in der Folge stets Antirassist geschweige denn Demokrat zu sein. In unserem Hunger nach unschuldigen Identitäten übersehen wir, dass man schnell einmal etwas falsch macht. Die brüderliche Allianz der Reinheitsfanatiker beweist nur, dass sich das, was Primo Levi die »stille Nazi-Diaspora« genannt hat, über die ganze Welt ausgebreitet hat. Diese Situation verkompliziert sich noch, sobald wir erkennen, dass es Nachahmer, Faschisten und Neofaschisten gibt - lauter unterschiedliche Positionen, die dennoch miteinander in Zusammenhang stehen.
Höller: Jedenfalls halten Sie dem das Bild eines positiv besetzten Multikulturalismus entgegen, der auf dem Modell der »Black Atlantik«-Gegenkultur beruht und der sich seit dem achtzehnten Jahrhundert zu verbreiten behonnen hat, mit SchriftstellerInnen wie Phillis Wheatley oder Olaudah Equiano. Diese Gegenkultur hat ihre signifikantesten Momente im musikalischen Bereich entwickelt - der unter anderem mit ethnisch gemischten amerikanischen Militärmusikkapellen einsetzte, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Europa kamen. Warum war es gerade die Musik, die zu einer derart wichtigen Stütze dieser alternativen Moderne und gegenkulturellen Diaspora wurde - mehr als irgendeine Entwicklung in der bildenden Kunst etwa?
Gilroy: Die amerikanischen Militärkapellen, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Europa kamen, waren nicht ethnisch gemischt. Das waren ausschließlich schwarze Bands, deren Mitglieder zu einem Großteil in der französischen Armee (und nicht in der amerikanischen) gegen den Kaiser gekämpft hatten. Diese Geschichte ist nicht nur deshalb interessant, weil sie ein neues Licht auf Adornos Beurteilung von Jazz als militaristisch und faschistisch wirft, sondern auch, weil sie auf die Wichtigkeit der schwarzen Musik für den europäischen Modernismus verweist. Die Musik hat deshalb eine so große Bedeutung erlangt, weil sie als dezidiert nicht-repräsentierende Kunstform schwer zu disziplinieren ist und weil sie die Autorität der Reinheitsfanatiker unterläuft, indem sie proteisch und leicht erlernbar ist. Heute hingegen kann sie zur Untermalung jeder beliebigen Werbung eingesetzt werden - wodurch eine Umkehrung ihrer historischen Rolle und ihrer translokalen Übersetzbarkeit erfolgt.
Planetarischer Humanismus
Höller: »Between Camps« schließt mit einem Ausblick auf einen »planetarischen Humanismus«, in dem - mit Frantz Fanon gesprochen - »die Hautfarbe keine größere Bedeutung als die Augenfarbe haben soll«. Dabei handelt es sich um eine ausgesprochen utopische Konzeption, und ich frage mich, wie dies mit einer Reihe von Kontexten zusammengeht, in denen einer bestimmten Hautfarbe ein affirmativer Status zugestanden werden muss - sei es in Form von Minderheitenrechten, Entschädigungsansprüchen, Rehabilitation für erlittenes Unrecht etc. Anders gefragt: Sollte Differenz nicht auch auf gewisse Weise »geschützt« werden - etwa, um sie dann im anhaltenden Prozess kultureller Übersetzung zur Geltung bringen zu können?
Gilroy: »Between Camps« ist ein bescheidender Beitrag zu einem neuen Humanismus. Die Neuheit liegt in der systematischen Desillusionierung, die entsteht, wenn man sich den schädlichen Einfluss von »Rasse« auf die Humanismen der Vergangenheit ansieht. Dieser Umweg über moderne Geschichten des Leidens muss obligat werden, denn nur so lassen sich ethische und politische Prinzipien entwickeln, die den Aufbau gerechter und egalitärer Sozialbeziehungen leiten können. Ich meine damit nicht jenen Antirassismus, der sagt, wir müssen Differenz lieben und schätzen lernen, dürfen keine Angst mehr vor ihr haben. Ich denke vielmehr an ein neues Projekt, das bereit ist, gänzlich mit der Idee zu brechen, ethnische Differenz sei eine unverrückbare Tatsache des politischen Lebens. Dieses Projekt lehnt es ab, die Ordnung von Diffferenzen als irgendwie notwendige Stabilitätsgrundlage unserer konfliktreichen Welt zu sehen. Diese Verdinglichung von »Rasse« muss in Frage gestellt werden, und der Narzissmus der kleinen Unterschiede muss als besonders verheerende Kraft erkannt werden. Das Blatt muss sich gegen die Reinheitsfanatiker - wer immer diese sind - wenden, die endlich Rechenschaft ablegen sollen über ihre Phobie gegen Andersheit und ihre Feindseligkeit. Der Ausdruck »die menschliche Rasse« sollte wieder jene aufwiegelnde, revolutionäre Kraft bekommen, welche sie in früheren Phasen der Moderne hatte.
Wenn ein Sonderstatus für ethnische Differenz heißen soll, dass sie das Recht auf Anerkennung nach der Hegelschen Formel des gastfreundlichen Liberalismus genießen soll, so bin ich etwas skeptisch. Natürlich sollte überall dort, wo ehemalige Sklaven leben und es eine Geschichte des Leidens oder des Genozids gibt, die politische Ordnung gewisse Verpflichtungen enthalten. Aber diese sollten eher in Begriffen der Gerechtigkeit als in jenen der Ethnizität gefasst werden. Darüber hinaus schwebt mir ein Ansatz vor, der sich weniger mit der Dynamik der Anerkennung beschäftigt als mit der Gerechtigkeit gegenüber Diskriminierung. Adäquate »antirassistische Statuten« sollten eher in diesen Begriffen formuliert werden.
Höller: Um diesen letzten Punkt weiterzuverfolgen, möchte ich kurz ein tristes und negatives Szenario skizzieren: Die österreichischen Reinheitsfanatiker lehnen natürlich die Äquivalenz unterschiedlicher kultureller Kontexte ab. Differenz betrachten sie als unüberbrückbare Angelegenheit. Was ihnen aber noch viel wichtiger ist, ist eine voll privatisierte und deregulierte Ökonomie, die jede nur erdenkliche Differenz - nicht nur kulturelle oder ethnische - auszubeuten versteht. Müsste es daher nicht Vorrang haben - um ihre rassistische Haltung anzugreifen - zunächst ihr ökonomisches Programm in Frage zu stellen?
Gilroy: Natürlich sollten die österreichischen Reinheitsfanatiker auf ökonomischer Ebene in Frage gestellt werden. Man sollte sich ihnen auf jeder erdenklichen Ebene entgegenstellen. Ich behaupte nur, dass ihre Suche nach Reinheit einer ganz anderen und unerwarteteren Logik gehorcht als jenen Prozessen, von denen wir glauben, dass sie ihrem Handeln zugrunde liegen müssen. Der »Rassendiskurs« hat von Chamberlain bis heute überhaupt kein Problem damit gehabt, okkultistische und wissenschaftliche Ansätze miteinander in Einklang zu bringen. Heutzutage lassen die Spin-Doktoren und PR-Leute die PolitikerInnen alles mögliche erklären, wenn es darum geht, ihre Position und ihre Initiativen zu retten. Auch das ist ein Vermächtnis der faschistischen Kommunikations- und Informationsrevolution - die Ikonisierung und Theatralisierung des politischen Prozesses.
Höller: Abschließend möchte ich noch kurz auf den von Ihnen favorisierten strategischen Universalismus zu sprechen kommen. Dieser zeichnet sich vor allem durch eine stark zukunftsorientierte Seite aus - etwas, was Sie genealogisch mit kulturellen Beispielen von Sun Ra und George Clintons »Mothership Connection« bis hin zu Afrika Bambaataas »Planet Rock« und sogar Filmen wie »Men in Black« belegen. Wie lassen sich diese teils bereits historischen Futurismen in das soziale Leben rückübersetzen? Anders gefragt: Wie können diese techno-wissenschaftlichen Fantasien auf einen »empirischen« Kosmopolitismus rückbezogen werden - einen Kosmopolitismus, der auf den konkreten Erfahrungen diasporischer Subjekte beruht?
Gilroy: Ich denke, wir müssen insgesamt zukunftsorientierter werden, wenn wir eine Moral für die von uns favorisierte Ordnung finden wollen. Der Utopie, die dem Moment der Globalisierung entspricht, Fleisch und Substanz zu geben, stellt eine hohe philosophische Anforderung dar. Wir wissen mittlerweile, was die ökonomische Dimension der Globalisierung alles beinhaltet. Wir kennen auch ihre kulturellen Dynamiken bereits ganz gut. Jetzt brauchen wir nur noch die entsprechenden politischen Formen zu entwickeln. Wie könnten diese aussehen, und an welchem Punkt sollen sie die Frage der ethnischen Differenz aufgreifen? Meine Antwort darauf lautet, dass der Umweg über die Geschichte der »Rassendiskurse« hier zu einem unverzichtbaren Moment wird. Nur wenn wir diesen weiten Umweg gegangen sind, können wir etwas selbstsicherer auf das unschätzbare Ziel zurückkommen, das Fanon als neuen Humanismus beschrieben hat.
1 Between Camps. Nations, Cultures and the Allure of Race. Allen Lane, The Penguin Press, 2000.
2 Vgl. www.a16.org.
3 In den USA erschien das Buch unter dem Titel Against Race. Imagining Political Culture Beyond the Color Line. Harvard University Press, 2000.
4 The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Harvard University Press, 1993.
5 Vgl. zu diesem Begriff Arjun Appadurai, Modernity at Large. University of Minnesota Press, 1996, S. 33 ff.
6 So lautete der Titel der LP-Veröffentlichung der von George Clinton geleiteten Band Funkadelic aus dem Jahr 1970.
7 Princeton University Press, 1999.