Heft 2/2000 - Inland Europa


Fabric of Disruption

»Passing DRAMA« - Ein Film von Angela Melitopoulos über die Geschichte einer Vertreibung

Hito Steyerl


Schiffe; schwankend spinnt ein Weberschiffchen Fäden, Fäden werden verkettet, verwoben, verspringen zu schwirrenden Linien, bilden Amplituden, Bewegung ohne Ende. Ein Bild des Werdens von Geschichte.
Schiffe; ratternd rasen automatische Spulen durch den Rahmen der Webmaschine, produzieren industriell Gewebe in blinder, mechanisch vorbestimmter Logik. Ein Bild der Fertigung von Schicksal.
Schiffe kreuzen einander auf dem Schwarzen Meer, überladen mit Vertriebenen, die aus der Türkei nach Griechenland flüchten und umgekehrt, als beide Länder 1922 beschließen, ihre jeweiligen Minderheiten loszuwerden.
Ein Bild – bricht ab, verschleift sich, wird blankes Videosignal, zieht elektronische Fäden, Fäden setzen sich in Bewegung, verketten sich zu Reihen, zum Gewebe des Unzählbaren, Unerzählbaren sich endlos entziehender Bilder.
Drama. Der Vorspann des Videofilms von Angela Melitopoulos benennt die Fakten: Flüchtlinge als Massenphänomen traten in Europa nach dem ersten Weltkrieg auf, als das türkische, das russische und das austro-ungarische Reich zerfielen. Mehr als vier Millionen Menschen gerieten im südlichen Zentraleuropa in Bewegung. Die Entrechtung der Flüchtlinge trug dazu bei, schreibt Hannah Arendt, dass mitten in den Nationalstaaten Zonen totaler Rechtlosigkeit und Vogelfreiheit enstanden, welche die anwachsende völkische Barbarei begünstigten. Einige dieser Flüchtlinge kamen seither kaum mehr zur Ruhe. Sie wurden immer weiter getrieben, so auch Teile von Melitopoulos’ Familie. Als Angehörige der griechischen Minderheit aus der Türkei verjagt, landeten sie zunächst in Drama, einer kleinen Stadt in Nordgriechenland. Sie blieben dort nicht lang. »Passing DRAMA« ist der Titel von Melitopoulos Film.
Repetition. Territory. Reading. Rereading. So wie die Regimes der Unterdrückung, in deren Machtbereich die Flüchtlinge gerieten, verschieden sind, so unterscheiden sich auch die verschiedenen Teile des Filmes. Jeder von ihnen stellt einen Abschnitt kontinuierlicher Verschleppung dar, einen bestimmten politischen und historischen Kontext, der jeweils andere Formen von Bildlichkeit generiert; immer neue sogartige Vermischungen und Verschleifungen der Einstellungen. Die Generationen der Familien und deren Tradierung von Geschichten schlagen sich in den Generationen des Videomaterials nieder. Die Logik der filmischen Bewegung ist dabei rückgebunden an spezifische politische Konstellationen und Auseinandersetzungen. Gleichzeitig wird sie, als wirbelnde Metamorphose, ins konkrete Videosignal hineinverwoben. Und immer wieder Zahlen, Reihen: Signal – Bild. Faden – Textur. Ereignis – Geschichte. Individuum – Territorium. »Die Gegenwart ist die dichteste Form der Vergangenheit«, zitiert Melitopoulos Henri Bergson.
Zu Fuß gehen, ins Ungewisse. Ein Dorf in der Türkei. Selbst die Ältesten können sich kaum mehr der Vertreibung entsinnen. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß vom Hörensagen. Ich kannte meine Großeltern nicht. Ich weiß nicht, was das Wort bedeutet. Melitopoulos’ Interviews mit Zeitzeugen bestehen großteils aus Gedächtnislücken. Ihre Bildgeschwindigkeit schwankt gemäß der Intensität des Fehlens von Sprache und Erinnerung. Es gibt keine Geschichte abseits jener Abwesenheit, des puren Traumas. Drama wird zur Bühne des Vergessens, allerdings eines Vergessens, das nicht aufgehört hat zu bewegen. Die private Geschichte der Verjagten, die von Melitopoulos dokumentarisch geborgen wird, erweist sich als Geschichte der Privatio im eigentlichen Sinne des Wortes: als unendliche Beraubung. Häuser. Habseligkeiten. Erinnerungen. Alles. Weg.
Bloß weg. Die schicksalhafte Logik der Maschine prägt sich der filmischen Bewegung des nächsten Kapitels ein. Tatsächlich ist es das Regime der Fabrik, welches den nächsten Migrationsschub antreibt. Als im Zweiten Weltkrieg die Bulgaren in Nordgriechenland einmarschieren, schikanieren diese die Flüchtlinge durch Arbeitsmaßnahmen so sehr, dass sie sich »voller Hoffnung« – zur Zwangsarbeit nach Deutschland melden. Auf diesem Weg gerät Melitopoulos’ Vater nach Wien. Zur dieser Stadt fällt ihm ein: Irrenhaus. Fabrik. Hunger. Wieder haut er ab, unter dem Stacheldraht hindurchkriechend. Vierzig Kilometer gehen, wieder Wien. Er sagt: Keine Arbeit, keine Wohnung, nichts. Er sagt: Kein Haus, kein Freund, niemand. Die Baufirma Reiller und Neffe beutet ihn erst aus und verpfeift ihn dann an die SS. Er wird aufgegriffen und ins »Schwarze Lager« gebracht. Er ist 18 Jahre alt. Er fürchtet, dort sterben zu müssen.
Sich bewegen wie eine Feder. Die Logik der Bewegung im SS-Lager von Maria Lanzendorf folgt einem Regime der Unsichtbarkeit: nicht auffallen, um nicht verletzt oder getötet zu werden. »Ich war damals aus Zement«, sagt Herr Melitopoulos. Mehr als 50 Jahre später kehren Vater und Tochter nach Maria Lanzendorf zurück. Das Lager ist jetzt ein Behindertenheim, die Baracken stehen noch. Die Sozialarbeiter wissen nichts, nur vom Hörensagen, was »die Leut’ erzählen«. Hinter dem Haus liegen in unmarkierten Massengräbern die Knochen der Toten. Ihre Existenz wird ignoriert. Auf diesen namenlosen Toten, den »Eliminierten«, wachsen Bäume. Wachsen Schweigen und Verlust ins Bodenlose. Es gibt in diesem Teil des Films keine elaborierte formale Bearbeitung. Es ist der entsetzlichste Teil dieser schreckenserregenden Geschichte, doch seine Form weist ihn umgekehrt als dokumentarischen Normalfall aus. Auch das hat seine Logik. Die Normalität ist ein Abgrund.
Auf sich bewegende Schatten schießen. Einige der Rückkehrer von der Zwangsarbeit schlossen sich den Partisanen an. Fern aller heroischen Geschichtsbildung konstatieren die früheren Kämpfer nüchtern, dass der Krieg böse gemacht habe. Erst schießen, dann fragen. Von jenen, die aus den Bergen zurückkehrten, sind später welche nach Deutschland gegangen. Zum Arbeiten.
»Das Vergessen ist niemals nur ein individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt und geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer neuen Ausgeburten ein«, zitiert Angela Melitopoulos Walter Benjamin, der über Franz Kafka schreibt. Dagegen setzt sie ein fragiles, ständig von Disruption bedrohtes Geflecht individueller Stimmen, die der großen Maschinerie der Auslöschung entgleiten. Das Unzählbare, Unerzählbare entkommt durch die Löcher der Textur des Gelebten.
Armut. Entrechtung. Ausbeutung. Die Tradition der Unterdrückten. Die Kombination von Ausbeutung und Illegalisierung ist nie verschwunden, und die Rechtfertiger dieser Art brutaler Beschäftigungspolitik sind jetzt regierungsfähig.
Entschädigung hat Herr Melitopoulos nie erhalten. Er fordert: eine Gedenkstätte in Maria Lanzendorf.

 

 

Passing DRAMA, 70 Min., PAL, 1999 (multilinguales Band, mit deutschen, französischen oder englischen Untertiteln), Konzept und Realisation: Angela Melitopoulos