Heft 2/2000 - Inland Europa
Die Berlinale zieht nach 50 Jahren um auf das »Potsdamer Platz Projekt« genannte Areal mitten im Neuen Berlin. Das Festspielentrée zum Berlinale-Palast bildet der Marlene-Dietrich-Platz. »Nie wieder Deutschland« hieß 1990 eine Demonstration gegen eine Nation in jenen Grenzen, welche Leni Riefenstahls »Triumph des Willens« setzte. Marlenes Gesicht zierte das Protestplakat, denn sie hatte die alliierten Befreier unterstützt. Das ist ihr vom deutschen Volk nicht verziehen worden. »Marlene go home«, lauteten die Willkommensplakate – als Verräterin musste sie sich bei ihrer kurzen Rückkehr nach Berlin beschimpfen lassen. Bis heute wehrt man sich in Charlottenburg dagegen, dass die Reichssportfeldstraße am Olympiastadion in Marlene-Dietrich-Straße umbenannt wird.
Deutschland im Jahre 00 ist obenauf. Nun ja – es stimmt, dass eigentlich niemand den Namen des Bundesbeauftragten für ostdeutsche Angelegenheiten kennt, geschweige denn etwas von seinen Tätigkeiten verspürt. Und es trifft zu, dass die legale Beschäftigungsquote in den angeschlossenen Landstrichen stagniert. Doch nun hat man die fremde Tragik der Ostler entdeckt: Gekränkte Seelen werden zum Marktsegment, wenn die Senator Film AG den Eishockeyfilm »Heimspiel« mit »Unser Leben – Unser Stolz – Unser Film« gleich einer Biermarke bewirbt. Der aus der alternativen Freiburger Medienwerkstatt kommende Regisseur Pepe Danquart inszeniert die Schlachten rund um die in Berlin-Hohenschönhausen beheimateten »Eisbären«. Der ehemalige Mielke-Club »Dynamo Berlin« zeitigt jedoch erst Bundesliga-Erfolge, seit außer einem Alibi-Ossi nur mehr Profis aus Kanada oder Finnland aufs Eis gehen und die US-Gruppe Anschutz den Verein aufkaufte. Ebenso wie bei den Ostmarken Radeberger oder Berliner Pilsner, die längst von westdeutschen Braukonzernen übernommen worden sind, ist hier das Projektionsflächenmarketing entscheidend. Und die Puhdys singen fürs Bier (»Was gut ist, setzt sich durch«) wie fürs Heimspiel (»Hey, wir wollen die Eisbären sehen«). Darauf sattelt der Film mit seinem Werbespruch »Und du fühlst den Osten« auf.
Wer den Osten am eigenen Leibe spürt, bleibt in der Filmauswahl der Berliner Festspiele ausgespart. Auf die Frage, warum denn die permanent thematisierten, jedoch immer nur schemenhaft zu sehenden »Ausländer« in der Fernsehproduktion »Neustadt« nicht zu Wort kommen, antwortet der Regisseur Thomas Heise desinteressiert und mit Ausflüchten. Nicht gegen das im Film Gesagte verwehre ich mich, sondern wie Heise es in Szene setzt: So montiert der Regisseur distanzierte Bilder vom als »Neger« bezeichneten Schwarzen mit kotzenden Jugendlichen in Halles Innenstadt aneinander. Der heroische Opferdiskurs seiner Protagonisten – ein soft auftretender Anführer des »Freiheitlichen Volksblocks« wirbt in die Kamera hinein für seine Truppe – wird nicht durch die Frage nach rassistischen Attacken gestört. Es folgen Kameradschaftsabende am Lagerfeuer, eine Neonazi-Juristin in Ausbildung für die Sache, Stammtische mit »ich bin ja nicht ausländerfeindlich, aber«-Handwerkern und ein sekttrinkender Fascho als Security-Angestellter, der hohe Schulden bei der Krankenkasse hat. Offensichtlich wird sein Lohn gepfändet, weil er jemand krankenhausreif geprügelt hat – doch so genau will es der Regisseur nie wissen. »Dummheiten« halt.
Heises Dunkeldeutschland-Bild folgt der These, dass strukturelle Arbeitslosigkeit, gekränkte Geschlechterrollen, verrottende Industrielandschaften, regnerische Innenstädte und das »Ghetto«-Gefühl im Plattenbau zu »Fremdenfeindlichkeit« führen. Allein der Tod des Popmusikers Lord Uli treibt generationsübergreifend Tränen in die Augen. Dabei sehen die Wohnzimmer der Kinder aus wie bei Muttern – die vorgeblich rechte Rebellion fügt sich prächtig ins elterliche Weltbild ein. Die Freundin lernt man heutzutage »nach einer Demonstration zum Hess-Gedenken« auf dem »Volksfest« kennen. Vereinnahmend zitiert Heise Brecht – »Ich bin ein Dreck … ich bin / Unvermeidlich, das Geschlecht von morgen / Bald schon kein Dreck mehr, sondern / Der harte Mörtel, aus dem / Die Städte gebaut sind« – und konstatiert damit kühl eine neofaschistische Perspektive. Heises Menschenbild wischt diejenigen vom Platz, welche außerhalb der Mehrheitsverhältnisse existieren. So antwortet er in Diskussionen auf die akzeptierenden Portraits »meiner Helden«, dass der Mainstream so sei und man nicht von Extremismus sprechen könne. »Die Normalität, der Alltag, ist weitgehend rechts. Nicht die Ausnahmen.«
Der Normalität, wie sie unterschiedlich die bei den Filmfestspielen erstaufgeführten Dokumentarfilme »Heimspiel« von Pepe Danquart wie auch Thomas Heises »Neustadt« schmieden, stellt Hito Steyerls Dokumentarvideo »Normalität 1/2/3« eine mehrfach zerstörte gegenüber. Das kürzlich in Oberhausen premierte Videoessay spricht vom wiederholten Sprenganschlag auf das Grab, in dem Heinz Galinski – vormals Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde – ruhen sollte. »Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört«, zitiert der Film Walter Benjamins Grabrede. »Normal« ist, wenn täglich jüdische Friedhöfe geschändet werden und – so spielt dies der Film von Hito Steyerl durch – eine Videoüberwachung vorgeschlagen wird.
Normalität ist ein Zwangsverhältnis, das keineswegs zwangsläufig ist, wie der Film »Wotenick« herausarbeitet. Zu Beginn wird ein Schild aufgerichtet: »10.416 – Aktuelle Arbeitslosenzahl im Landkreis Demmin«. Regisseur Axel Kalhorn, der wie Thomas Heise zwanzig Jahre vor ihm in Babelsberg zum Dokufilmer ausgebildet wird, beobachtet eine »Integrationsmaßnahme für Jugendliche und junge Heranwachsende« in Mecklenburg. Ein Junge mit Küchenschürze erntet Salat und belegt anschließend eine Menge Brötchen. Eine Ausbildnerin schaut ihm dabei über die Schulter. Eine Schulklasse quält sich elendig durch deutsche Grammatik oder Grundbegriffe der Demokratie. In der Übungshalle werden Mauern aufgebaut oder hölzerne Pflanzgitter gezimmert. Zwischendurch gibt’s fischkundliche Angelausflüge oder Bootstouren ins Umland.
»Susanne – was macht dich noch glücklich? Arbeit kann doch nicht das einzige sein?« »Na und Familie. Essen, trinken. Kino macht micht nicht glücklich, Fernsehen auch nicht.« Susanne sieht man nach der Integrationsmaßnahme in einem Altenheim arbeiten. Vor den Augen der Kamera trägt Betreuer Bengt Jacobs seine »Zwischeneinschätzung an den Landkreis Güstrow« dem Beurteilten André vor: »Feinmotorik und Grundrechenkenntnisse mangelhaft. Kannst du so zustimmen?« Später spricht er noch von Persönlichkeitsstörungen – »das ist ein Teil von dir«. Ronnie wiederum ist »im Moment nicht ausbildungsfähig«, da er häufig fehlt. »Ich kann nur die gelben Scheine in Empfang nehmen – ich bin kein Arzt«, kommentiert still der Betreuer. Etwaige Vorbehalte – schon wieder ein einfühlsamer Film über rechte Kids, und dies in einer Einrichtung, welche sie zur Arbeit zwingt – zerbröseln rasch. Bengt Jacobs sorgt sich um die Heranwachsenden in einer ebenso lakonischen wie sorgsamen Art. Seine in sommerliches Licht getauchten Hausbesuche bei den Jugendlichen – wieder mal blau gemacht, mit der Freundin zelten gefahren, irgendwelche Koksdealereien oder Klebstoffschnüffel – nehmen nie repressive Züge an.
»So’n großen Jungen krieg’ ich auch nicht mehr gebogen, bin doch auch nur eine Handvoll«, spricht eine Mutter ihre Hilflosigkeit aus. Hier erkennt man, welch ungeheure Aufgabe die Einrichtung in Wotenick übernimmt. Diese zumeist kurzhaarig-bulligen Typen erregen kein plumpes Mitleid, wie es »Neustadt« offeriert. Man spürt, wie ihre Unselbständigkeit in Agression umschlagen könnte, sie jedoch auch ganz andere Wege einschlagen können. Die vom Film geteilte Sorge um sie ist nüchtern, nie kumpelhaft und erschüttert aufgrund der Abwesenheit von Zukunft. No Future ist keine Wahl mehr, sondern wird als Schicksal empfunden. Als das Stichwort Wikinger fällt, blitzt bei mir automatisch die NPD-Organisation Wiking-Jugend auf. Doch es ist damit nur eine Bootsfahrt auf der Peene gemeint, in einem nachgebauten Schiff, die den Film beschließt: Wie schnell mich die zwanghafte Koppelung Arbeitslosigkeit-Osten-Rechts selbst gefangen nimmt, stelle ich hierbei fest, wo doch der Film eben diesen Zwangscharakter unterläuft.