Heft 3/2000 - Subkanäle - Archäologien


Leinwand Europa

Die dritte Manifesta in Ljubljana versuchte, europäische Grenzerfahrungen auszustellen

Georg Schöllhammer


»Manifesta bashen« war ein beliebter Smalltalksport in diesem europäischen Kunstweltsommer. Ziemlich schnell hatte sich ein recht negatives Urteil über die dritte Auflage der europäischen Biennale für zeitgenössische Kunst durchgesetzt. Die Kritik am Großevent, der zum ersten Mal in eine postsozialistische Stadt, in das slowenische Ljubljana, platziert worden war, hatte zwei Stoßrichtungen. Insbesondere von den neu erstarkten Playern des Kunstbusiness waren werkkonservative Einwände zu hören: die Manifesta habe einen Problemkatalog und nicht Kunst ausgestellt, ihr Issue seien pc-moralisierende Aussagen zur gegenwärtigen Verfasstheit Europas gewesen. Von anderer Seite kam der Einwand, die Biennale sei ortsunspezifisch und hegemonial aufgetreten und habe es verabsäumt, mit den lokalen Szenen Ljubljanas zu koalieren.
Gerade in dieser Verweigerung lag aber eine der Stärken der Veranstaltung. Die Biennale an den öffentlichen Kunstinstitutionen und Museen der Stadt zu verorten, war, erinnert man sich an die Debatten um den hybriden Charakter der ersten beiden Manifestas und deren zweifelhafte Rolle als Städtetourismusagent, eine nachvollziehbare Entscheidung: Allianzen mit den lokalen Szenen zu suchen, hätten diese auch als Versuch verstehen können, Kontextcredits abzustauben. Durch die Enthaltsamkeit der Veranstalter funktionierte die Arbeitsteilung trotz budgetärer Disparität: Die wesentlichen Local Player nutzten die Aufmerksamkeit, die der Event erzeugte, für ihre Selbstdarstellung mit eigenen Veranstaltungen, und ihre Klage, hier werde der Ausschluss fortgeschrieben, mit dem man vor Ort ohnedies zu kämpfen habe, wirkte etwas künstlich. Die Rezeption der Manifesta als eine die Kunst verstellende Themenausstellung hatte sich das Viererteam der KuratorInnen wohl selbst zuzuschreiben. Das opake Informationsmanagement im Vorfeld der Schau, die krude Adaption eines Begriffs aus der Psychiatrie, »Borderline Syndrome«, und eine insgesamt diffuse theoretische Fundierung suggerierten ein krisen- und nicht kunstorientiertes Konzept.
Dieses Vorurteil bestätigte sich beim Gang durch die vier Ausstellungsorte nur insofern, als – zum Beispiel im Vergleich mit Harald Szeemanns Versuch, mit »Apertutto« in Venedig 1999 zur Manifestavorgabe aufzuholen – der Einfluss des sich ja wieder hegemonial gebärdenden Kunstmarktes zurückgedrängt erschien. Man fand erheblich wenig von Galerien gestützte und mitproduzierte Kunst, und man fand eine Unzahl von Arbeiten, die sich nicht ausschIießlich als Illustrationsmaterial einer These verstehen ließen.
Anstelle des Vorwurfs einer didaktischen Favorisierung politisierter Positionen war den KuratorInnen viel mehr jener der Unübersichtlichkeit des Gesamtlayouts zu machen, die allenfalls die internen Auseinandersetzungen des Teams Francesco Bonami, Ole Bouman, Mária Hlavajová und Kathrin Rhomberg um Displaymacht transparent werden ließ. Wesentliche Arbeiten zu Fragen, die sich nicht nur in Regionen Europas jenseits der Union stellen – Fragen nach Alternativen zur scheinbar alternativenlosen Transformation postsozialistischer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme in Richtung neoliberaler westlicher Demokratien, nach der Überzeichnung von vielen sozialen Konflikten durch ihre Darstellung als kulturelle oder die identitätspolitische Frage nach den Territorien der Kunst in Zeiten des Eventismus – blieben oft von den allzu heterogenen Arrangements des Ausstellungsparcours verstellt.
Die Einengungen in der Herangehensweise des Manifesta-Teams fanden derart weniger thematisch oder auf der Ebene des Ausschlusses von Genres oder ästhetischen Praxen ihren Ausdruck, als in allzu kurzen Schlüssen in Bezug auf Formate und Methoden von Repräsentation. Auf die offenbar zentralen kuratorischen Ausgangsfragen an die Kunst – Wie lässt sich das Reale fassen? Was bedeutet ästhetische Transformation? Was ist der Ausdruck künstlerischer Subjektivität? – fand das Team reduktionistische Antworten: Das Reale? Ein dokumentarisches Video! Transformationen? Das Fiktionalisieren von Orten und Biografien! Subjektivität? Die eskapistische Flucht in Privatuniversen!
Wie viele der Großausstellungen der letzten Jahre setzte auch die Manifesta einen Schwerpunkt auf das Laufbild. Je länger man sich durch die insgesamt über sechs Stunden Feature, Fiction, Montage, Kurzfilm, KünstlerInnenvideo, Doku und elektronisch archivierte Performances durcharbeitete, die auf Split Screen, Kinoleinwand, im Single Channel oder Multidisplay- Installationsformat präsentiert waren und über alle Ausstellungsorte nach einer Art demokratischem Zufallsprinzip verteilt schienen, desto schwerer fiel es, sich ein konzises Bild der kuratorischen Intentionen zu machen.
Warum war ein mitunter durchaus perfekt gemachter Videofilm des Abenteurers Joost Conijn, der von der Realisierung des Bubentraums, mit einem selbstgebauten Flugzeug über die Sahara zu fliegen, handelt, als eine der zentralen Arbeiten der Manifesta präsentiert? Warum versteckte sich dagegen die komplexe Videoinstallation von Phil Collins, »How to make a Refugee«, die von der medialen Produktion pseudodokumentarischen Interviewmaterials für die großen TV-Konzerne in Skopje und den Flüchtlingslagern in Stenkovic und Chegrane erzählt, durch die harte Raumakustik kaum hörbar, in der ständigen Sammlung der Moderna Galerija? Was bezweckte man damit, Arbeiten zur Migrantlnnenproblematik zu zeigen, wie etwa die auf Split Screen aufgeblasene, naiv-appellative Doku über den Aufbau einer privaten Schule für Immigrantenkinder durch einen illegalen Schwarzafrikaner in Israel oder Ursula Biemanns TV-Format-Dokuvideo über die Ausbeutung mexikanischer Arbeiterinnen in der Grenzregion zu den USA in zwei verschiedenen Ausstellungshäusern zeigte? Weshalb blendete man die Verhandlung von Migration überhaupt geografisch aus Europa weg und legte den Fokus dagegen auf Krieg und ethnisch-territoriale Konflikte? Die symbolische Abarbeitung dieses europäischen Traumas ließen die Ausstellungsmacherlnnen dann zusätzlich Arbeiten auswählen, in deren Zentrum Kinder stehen, wie Jasmila Zbanics Interviewband »After, After« und Adrian Pacis eindringlichem Homevideo »Albanian Stories«, in dem seine zweijährige Tochter Jola das Erlebnis des schwelenden Bürgerkriegs und der Flucht in ein Märchen übersetzt. Warum wurde der jungen Schottin Sarah Tripp für ihr nettes Videofilmprojekt zur Frage »Was bedeutet für sie Gott?« der einzige Kinosaal der Ausstellung freigemacht, während Kinoarbeiten, wie die in Filmkreisen überbekannte Brasilia-Montage des deutschen Dokumentaristen Matthias Müller in einem Durchgangszimmer auf schlechten Beams wummerten? Was trägt Müllers Arbeit zum Thema bei, außer vielleicht, die Ungleichzeitigkeit der Methodendiskussion, die sich zwischen einer repräsentationskritischen Tradition des Dokumentarfilms und den neueren dokumentarischen Formaten von Künstlervideos auftut, sichtbar zu halten?
Woran diese Manifesta letztlich krankte, waren solche Fragen des Displays und des kuratorischen Handwerks. Es verwunderte also kaum, dass diese Konfusionen sich in der medialen Rezeption des schon durch seine Gründungsgeschichte im Verdacht stehenden Ereignisses, die Kunst als Normalisierungsagentin europäischer Einigungsprozesse einzusetzen, abbildeten. Der ebenso effektvolle wie banale Reminder an die noch immer existierenden Grenzziehungen in Europa, den Sejla Kameric über zwei Stege der Dreierbrücke im Zentrum Ljubljanas aus den Grenzkontrollleitschildern »EU« und »Others« baute, war neben dem naiv-fröhlichen Tunnelspiel der italienischen Gruppe Stalker, deren Plastikbälle sich als mit Wünschen beschriebene Hoffnungsträger für das Ende dieser Grenzziehungen in die Stadt verteilen sollten, das meistzitierte Werk der Schau. Die feine Ironie von Josef Dabernigs Filmtraktat über Abwesenheit und Präsenz, »Wisla«, oder Pawel Althamers Eröffnungsperformance mit Passantendarstellerlnnen im Stadtraum kamen dagegen kaum an, ebenso wie Arturas Railas Video über die Ausbildung an der Kunstakademie Vilnius, ein Exkurs über die Trägheit von Institutionen und die Ungleichzeitigkeit der Kunstwelten innerhalb Europas, oder die Performance des als Broker verkleideten Sislej Xhafa, der am Bahnhof lauthals und gestikulierend die Anzeigentafeln mit Ein- und Abfahrtszeiten der Züge wie Börsenkurse kommentierte.
Was die Manifesta 3 zu einer wichtigen Ausstellung machte, waren solche Arbeiten. Und schließlich, dass sie den Begehrlichkeiten des Kunstmarktes widerstand und versuchte – zumindest taten das die beiden Kuratorinnen – gegen Kunstbetriebshierarchisierungen von Zentrum und Peripherie anzukämpfen. Der irritierendste Effekt, den diese Anstrengung zeitigte, war ein leiser: die Rückgewinnung eines längst in den rhetorischen Arrangements gegenwärtiger Galerienkunst verloren geglaubten Genres – der poetischen Assemblage als Medium einer kritischen Retroanalyse von Momenten des europäischen Modernismus: Ian Kiaers skulpturale Metapher auf Malapartes Verhältnis zur Architektur des Rationalismus, der italienischen Landschaft und den Blickkonstruktionen von Pieter Breughel, Denisa Lehockás verweisereiches Objekt-Arrangement oder Alexander Melkonians skurrile Stadtmodelle aus Motiven sowjetisch-imperialistischer Architektur der Sechziger und Siebziger.
Es war ein kleines Stück Musik, das die Aporien, in die sich die Manifesta verstrickt sah, vielleicht am eindringlichsten zum Ausdruck brachte. Susan Philpsz aus Belfast unterfüllte in Zehnminutenintervallen die Bahnübersetzung hinter der Moderna Galerija mit dem Klang ihrer unprätentiösen Stimme, die die »Internationale« sang. Es war, als stürzte daraus ein Strom von Erinnerung, Sentiment und Traurigkeit. Ein Kapitel der Moderne ist nicht nur in Ljubljana endgültig Vergangenheit. Seine Errungenschaften sind uns, wie die Option auf eine andere Gesellschaft, stückweise abhanden gekommen.

 

 

Manifesta 3 – Europäische Biennale für zeitgenössische Kunst, Ljubljana, 23. Juni bis 24. September