Heft 3/2000 - Lektüre
Der an der Universität Giesen lehrende Germanist und Kulturwissenschaftler erzählt die Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums als eine Geschichte sich verändernder Argumentationsweisen. Wie hat sich das Deutungsmuster Bildung und Kultur, seitdem es um 1800 erfolgreich »konzeptualisiert« worden war, zu einer Leitidee gesellschaftlicher (Selbst-)Wahrnehmung entwickeln können? Kultur als praxisfernes Paradigma eines deutschen Pfarrhausidealismus hat sich nicht nur von dem englischen und französischen Begriff der »civilisation« abgehoben; es hat sich im 19. Jahrhundert immer mehr auch zum sprachlichen Kampfgebiet gegen die verschiedene Etappen der kulturellen Moderne entwickelt. Als Surrogate einer bis 1871 aufgeschobenen Nationengründung wurden Bildung und Kultur, beziehungsweise die Geistesheroen Goethe und Schiller, zu Schlüsselthemen einer sich zunehmend radikalisierenden öffentlichen Rede. Die Nation der Dichter, Denker und Rassisten war geboren. Bollenbeck analysiert die Rhetorik der in Kampfstellung gebrachten Weimarer Klassik, als deren zentrales Argument die Schönheit des autonomen Werks als Ausdruck freier Individualität übernommen wurde, in verschiedenen Bereichen des kulturellen Lebens. Etwa den Einfluss, den Wagners Antisemitismus auf die Konstituierung eines kulturellen Antisemitismus hatte. Originäre deutsche Wesenskunst wendete sich als ursprungsmythologisches Phantasma gegen alle Boten des Fremden, ob sie nun in Gestalt »des Juden« oder als avantgardistische Musik auftraten. Nach der Nationsgründung 1871 verschärfte sich die Rhetorik, und das Selbstverständnis des liberalen Bürgertums - Meinungsfreiheit! - verlor an Lautstärke. Selbst die »moderaten Modernen«, also die Nicht-Bürgerschreck-Modernen wie Max Liebermann oder Thomas Mann wurden beschimpft.
Es gehört zu den vielen Vorzügen dieser Studie, dass sie in ihrer Analyse sich nicht lediglich auf die sogenannten Höhenkünste beschränkt. Gerade die Massenkünste einer nichtkunstzentrierten Ästhetik waren es, die sich der Kunst-Genie-Religion des Bildungsbürgertum entzogen, gleichzeitig aber durchaus die Schönheits- und Harmoniebedürfnisse einer sentimentalen Leserschaft bedienten. Diese Paradoxie spitzte sich zu, als 1933 - Bollenbeck spricht in diesem Zusammenhang von der »Selbstaufgabe des deutschen Bildungsbürgertums« - plötzlich die große Zeit des deutschen Kulturwesens anbrechen sollte - und von einer zur Rhetorik passenden »idealen« Ästhetik außer Arno Breker nichts zu finden war. So setzte Göbbels dann auch lieber auf die - in militanten Bildungsbürgerkreisen abgelehnte - »trivialen« Massenkünste Film und Radio. Selbst Mickey Mouse und zahlreiche US-Filme liefen in den Nazi-Kinos. Mit Schaudern nur kann Bollenbecks fächerübergreifender Ideengeschichte und Diskursanalyse entnommen werden, wie sehr sich die Diktion der Nazis aus der radikalen Bildungsbürgerrhetorik herleiten lässt. Zahlenmäßig eine verschwindende Minderheit, sozial angesiedelt vor allem im Beamtentum, trug das Bildungsbürgertum maßgeblich zu einem deutschen Sonderweg in der kulturellen Moderne bei, der nach 1945 jedoch keine Fortsetzung fand. Und so kann Bollenbeck letztendlich feststellen: »Die Wertungs- und Ordnungsvorstellungen einer spezifisch deutschen bildungsbürgerlichen Kunstsemantik haben ihre Wirkungsmacht verloren.«