Heft 3/2000 - Subkanäle - Archäologien


Menschen über neue Realitäten belehren

Interview mit Fredric Jameson

Tomislav Medak


Fredric Jameson gilt zu Recht als derjenige, der auf bahnbrechende Weise Postmodernetheorie und marxistische Gesellschaftsanalyse aufeinander bezogen hat. Heute, gut 25 Jahre nach Jamesons erstem Befund über die neue kulturelle Logik des Spätkapitalismus, bieten sich genügend Gründe, um diesen Ansatz wieder aufzurollen und nach seiner aktuellen Gültigkeit zu fragen. Zuletzt waren es etwa das Thema Globalisierung, eine zunehmend ausbeuterische Weltwirtschaft und der Zusammenbruch des Kommunismus, welche Jamesons Rede von Fragmentierung und »cognitive mapping« auf die Probe stellten

tomislav medak: Was halten Sie, als Theoretiker der Postmoderne und Miterfinder ihrer Terminologie, von der Art und Weise, wie man heute über die Postmoderne diskutiert? Ist die von Ihnen postulierte Verbindung der Postmoderne mit dem Spätkapitalismus in Zeiten der Globalisierung immer noch aktuell?

fredric jameson: Ich war nicht der erste, der den Begriff »postmodern« verwendete, und glaube auch nicht, dass wir jemanden finden werden, der ihn das erste Mal gebraucht hat. Die Geschichte des Terminus geht zurück bis in die zwanziger Jahre und früher. Ich würde aber sagen, dass sich der Begriff erst mit dem Buch von Jean-François Lyotard etablierte. Er verwendet ihn aber, wie ich denke, auf eine ganz andere Weise. Demgegenüber habe ich versucht, zwei Dinge klar zu machen: erstens, dass es zu einer fundamentalen kulturellen Veränderung gekommen ist, zu einer Modifikation in der Logik der Kultur, und dass damit zweitens eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung einhergeht, welche von meinem Standpunkt aus betrachtet gewisse fundamentale Veränderungen in der Ökonomie selbst miteinschließt. Viele postmoderne TheoretikerInnen behaupten ja, es ginge dabei um einen Bruch mit den alten Formen des Kapitalismus. Ich hingegen meine, dass wir an diese Transformation dialektisch herangehen und uns auch Spekulationen darüber erlauben müssen. Genau wie Lenin seinerzeit sagte, es gebe ein zweites Stadium des Kapitalismus – nämlich das imperialistische, das eine Reihe neuer Prozesse in Gang setzt, wobei Profit weiterhin die Hauptmotivation darstellt und die Akkumulation des Kapitals bestehen bleibt –, genau so darf man heute über ein drittes Stadium des Kapitalismus spekulieren. Dies setzt eine Kolonisation der Weltmärkte im ökonomischen Sinn voraus, die weitaus umfassender verläuft, als dies im Imperialismus der Fall war. Die wichtigste Rolle dabei spielen neue Technologien, etwa die Atom-, vor allem aber die Informationstechnologie, das Finanzkapital steht weiterhin im Zentrum des Interesses. Demzufolge haben wir es noch immer mit einem Stadium des Kapitalismus zu tun, das sich genauso marxistisch beschreiben ließe. Dabei geht es um eine Differenz der Identität, um eine Modifikation des Kapitalismus, bei der das Grundsystem erhalten bleibt. Und das, obwohl wir uns schon in einer neuen ökonomischen und kulturellen Situation befinden, die sich von jener des Imperialismus grundlegend unterscheidet. Ich glaube, dass die imperialistische Zeit von einem Modernismus in Kunst und Philosophie bestimmt wurde, der einen entscheidenden Bruch mit Formen des Kapitalismus, wie sie für das neunzehnte Jahrhundert typisch waren, repräsentiert. In derselben Weise korrespondiert heute die kulturelle Postmoderne mit dem dritten Stadium des Kapitalismus.

Was ist die Frage, die sich die Theorie der Postmoderne heute zu stellen hat?

Es gibt mehrere Dinge, die ich in dem genannten Buch[1 ]gerne modifizieren würde. Zunächst denke ich, dass es wichtig ist, einen Unterschied zwischen dem Postmodernismus als einem Stil in der Kunst und der Postmoderne als einer Form des Alltagslebens zu machen. Man sagt heute zum Beispiel, dass die Postmoderne in der Architektur vorbei sei. Es habe diesen Stil gegeben, der einmal neu war, nun aber sei eine Serie von neuen Stilen angebrochen. Deswegen erscheint es jedoch nicht plausibel, den Terminus »postmodern« auf eine ganze Epoche anzuwenden, deren Ende wir jetzt noch nicht voraussehen können, da sie sich noch immer entwickelt. Man kann aber in einem sehr begrenzten Sinn von Kunststilen reden und sie einfach Postmodernismus nennen. Die Postmoderne selbst hingegen ist ein viel breiteres Konzept, das heute immer noch wertvoll ist. Ich möchte dem jedoch etwas hinzufügen, und das ist ein ernsthaftes Versäumnis in meiner Beschreibung, zu dem es wahrscheinlich gekommen ist, weil wir uns in den achtziger Jahren noch nicht darüber im klaren waren: Heute würde ich nämlich sagen, dass Postmoderne und Globalisierung ein und dieselbe Sache sind. Man redet darüber einmal im Sinn eines kulturellen Phänomens und ein anderes Mal im allgemeinen Sinn eines ökonomischen, politischen oder finanziellen Prozesses. Mir scheint aber, dass diese Phänomene untrennbar miteinander verbunden sind. Die Postmoderne ist die Kultur der Globalisierung, und die Globalisierung ist das dritte Stadium des Kapitalismus. Ich glaube, dass es in unserem Interesse sein müsste, diese drei Termini als Synonyme zu verstehen.

Welche politischen Spannungen bringen diese neuen ökonomischen und kulturellen Prozesse mit sich?

Heute stehen wir vor einem einigermaßen komplizierten Problem, da das politische Handeln im Rahmen des Nationalstaates stattfinden soll, während die Dynamik der Macht und Politik transnational geworden ist. Bis jetzt haben wir innerhalb des gegebenen nationalen Rahmens noch keine politischen Handelnden gefunden, welche auch im internationalen Rahmen agieren könnten. Die Demonstrationen in Seattle sind das erste Beispiel von Menschen, die experimentieren und versuchen, innerhalb eines einzelnen Nationalstaates Einfluss auf internationale Angelegenheiten zu gewinnen. Es wird immer politische Revolutionen in spezifisch nationalen Situationen geben; es wird Krisen, Kämpfe, gescheiterte Revolutionen geben, aber heute ist das Kapital eine globale Angelegenheit, und zwar in viel größerem Ausmaß als das jemals der Fall war, sodass eine Politik, die dagegen antreten will, neue Formen und Instrumente erfinden und auch neue Handelnde imaginieren muss. Wir wissen, dass es auf Seiten des Kapitalismus transnationale Akteure gibt. Viele dieser transnationalen Konzerne agieren global, nur die Arbeiterbewegung hat sich nicht auf dieser Weise entwickelt. Es gibt zwar entsprechende internationale Organisationen wie etwa Verbindungen von Gewerkschaften, sie stellen aber noch keine neue »Agenten« der Veränderung dar. In diesem Sinn habe ich von »cognitive mapping« geschrieben: Es ist dies der Versuch herauszufinden, wo sich die Kraftfelder dieser gesellschaftlichen Prozesse befinden, wer oder was die Akteure sind, die in diesen Feldern tätig sind. Ich glaube, dass wir uns immer noch mitten in der Postmoderne befinden und dass die neuen historischen »Agenten« noch nicht aufgetaucht sind. Wir befinden uns also in einer Übergangsphase, wo alles noch explorativ und spekulativ ist und wir einfach keine Analyse der vorhandenen Schwächen oder ökonomischen Probleme vornehmen können, in der Art wie Lenin es seinerzeit mit einfacheren Lösungsvorschlägen gemacht hat. Das wäre, wie ich meine, die Aufgabe des Marxismus heute.

Was halten Sie von der These einiger AutorInnen, dass wir uns in einer postpolitischen Ära befinden, dass wir also in einer globalisierten Welt leben, die keine Politik und keine Ideologie mehr braucht?

Das sind zwei getrennte Fragen. Erstens ist offensichtlich, dass es in einer Situation, in welcher immer mehr Menschen ihre Jobs verlieren, in welcher sich die Sicherheitsnetze weltweit auflösen, in zahlreichen Ländern etwa in Südamerika oder in den Vereinigten Staaten selbst viele Menschen nie einen Job hatten und in ihrem Leben auch nie einen finden werden, in welcher die alten Methoden der Schaffung neuer Arbeitsplätze einfach versagen und die alten Produktionsformen verschwinden – dass es in dieser Situation zu politischen Kämpfen kommen muss. Wenn man sagt, die Politik würde verschwinden, so meint man damit meistens, dass die politisch Handelnden, die Instrumente und Kategorien für diese neuen Kämpfe noch nicht existieren. Wir sollten vielmehr davon ausgehen, dass es eine neue Politik geben wird, wir aber noch nicht wissen, was für eine Art von Politik das sein wird.
Wenn es aber um Ideologie geht, so ist die Lage anders: Hier muss man sagen, dass sich die Natur der Ideologie geändert hat. Zu behaupten, es gäbe keine linke und keine rechte Ideologie mehr, wäre absurd. Es lässt sich immer bestimmen, ob jemand links oder rechts steht. Generell kommt man stets an den Punkt, wo Menschen die Entscheidung treffen müssen, auf welcher Seite sie stehen. Diese Art von Dynamik gibt es ständig. Nur die alten Formen von Ideologie, die dies verschleiern und an die man noch glauben musste, sind obsolet geworden. Wir sollten uns vielmehr darauf konzentrieren, wie Ideologie heute funktioniert. Hier sind die Analysen von Slavoj Zizek sehr interessant. Zizek behauptet, dass in einer Situation, in der Ideologie durch Zynismus ersetzt wird, das heißt, durch das offene Anerkennen der brutalsten ökonomischen Triebe, nichts mehr so wie früher funktionieret. Und damit müssen wir umgehen lernen. Eine Ideologie zu demaskieren, zu subvertieren, anzugreifen oder das, was man früher Ideologiekritik genannt hat, funktioniert heute einfach nicht mehr. Die Linke hat eine Reihe von Kategorien aus der Ideologiekritik geerbt, die allesamt nicht mehr unserer Zeit entsprechen.

In letzter Zeit wurde häufig die Frage nach einem neuen politischen Subjekt aufgegriffen, etwa im Versuch Alain Badious, den Universalismus als Mittel einer neuen politischen Subjektivierung zu denken, die über den Rahmen der modernen liberalen Demokratie hinausgeht. Wo sind die »Agenten« einer globalen Veränderung zu finden?

Ich glaube, dass eine politische Theorie, die das Ökonomische negiert, auf fatale Weise fehlgeht und zu Sterilität verurteilt ist. Klasse ist auf fundamentale Weise eine ökonomische Kategorie, und jede zukünftige Politik wird auf einer Rekonstruktion von Klasse basieren müssen. Im amerikanischen Kontext sind in den letzten 20, 30 Jahren die Themen Ethnizität und Gender immer wichtiger geworden, wobei man oft geglaubt hat, diese seien etwas gänzlich anderes als Klasse, und Klasse sei deswegen einfach out oder wäre bestenfalls von lokaler Bedeutung. Ich denke aber, dass alle diese Aspekte miteinander verknüpft sind und dass die neuen Formen von Subjektivität bzw. des Klassenbewusstseins auf einem breiteren Begriff der Klasse beruhen, in dem Ethnizität, Gender etc. eine integrale Rolle spielen. In der amerikanischen Situation wird der Ruf nach einem Universalismus stark von jenen Leuten kritisiert, die von Race oder Gender Politics her kommen. Man versteht diesen Universalismus als altmodische patriarchale Version von Klassenpolitik. Man muss daher sehr vorsichtig mit dem Begriff des Universalen umgehen. Andererseits bedarf eine globale politische Bewegung der Integration des Partikularen und des Spezifischen, worauf man heute so stark insistiert, in ein universales Schema. Solche universalen Schemen, wie sie uns heute angeboten werden, etwa die Menschenrechte, sind im wesentlichen Ideen der Mittelklasse. Und hier sehe ich eine Aufgabe für die marxistischen Intellektuellen – nämlich an die Verbindungen zwischen diesen lokalen und individuellen Phänomenen und dem Universalismus des kapitalistischen Systems zu erinnern und sie aufzuzeigen. Wenn man den Begriff der Totalität angreift und dabei den Marxismus beschuldigt, er würde die Totalität überbewerten, ohne das Individuelle zu berücksichtigen, so übersieht man, dass es das Kapital ist, das totalisiert. Der Kapitalismus ist der totalisierende Faktor.

In den letzten 20 Jahren des Postmodernismus konnten wir beobachten, wie das kulturelle Paradigma die Sphäre der Politik immer mehr kolonisiert hat. Wie steht es demgegenüber mit der politischen Bedeutung von Kultur?

Hier ist die Frage, was Kritik heute bedeutet, ob es noch die negative Kraft der Kulturkritik gibt, wie man sie in alten Zeiten theoretisiert hat. In der modernen Kunst hielt man Didaktik für ein absolut nichtkünstlerisches Phänomen. Man erwartete von Kunstwerken nicht, dass sie uns über irgendetwas belehren oder einen philosophischen, intellektuellen Inhalt haben. Man setzte einfach voraus, das diese Kunstwerke autonom existieren. Einer der größten Vorteile der Postmoderne liegt darin, so scheint es mir, dass sie der Didaktik nicht mehr feindlich gegenübersteht. Ein Großteil der gegenwärtigen kulturellen Produktion ist voll von Material, das das Reale in einer neuen Art berührt. Ich sehe keinen Grund, warum die charakteristische postmoderne kulturelle Produktion nicht in der Lage sein sollte, den Menschen neue Realitäten zu zeigen, sie über diese Realitäten zu belehren und ihnen die globale Situation bewusst zu machen. Das scheint mir eine politische Aufgabe der gegenwärtigen Kultur zu sein. Es stimmt, dass heute alles kulturalisiert wird, dass alles Kultur geworden ist, Politik, Ökonomie, etc. Ein anderes Problem ist aber, dass Kultur auch Big Business geworden ist. Deswegen kommt es innerhalb der Kultur selbst zu einem Konflikt zwischen KünstlerInnen, die viel Geld machen oder direkt im Business arbeiten, und einer anderen Art von KünstlerInnen, die ideologisch links stehen (oder auch nicht) und als KritikerInnen des Systems gelten. So kann man selbst in der Postmoderne von einer Art Kulturkampf zwischen verschiedenen Formen von Kultur reden.

Welchen Eindruck haben Sie von der Ausstellung »What, how and for whom«2 gewonnen?

Ihr habt eine Zeit hinter euch, in der sich herausstellte, dass nicht alle Phantasien über den Kapitalismus wahr sind. So gibt es jetzt eine Kunst, die reflexiv ist. Sie macht sich lustig über die marxistischen Materialien, andererseits gelingt es ihr aber, diese Materialien auf ironische Art und Weise aufzubewahren, und zwar in einer Situation, in der diese KünstlerInnen selbst unter den Druck des existierenden kapitalistischen Regimes geraten sind. Die verschiedenen Ebenen und die Ironie in dieser Art von Kunst sind sehr kompliziert. Sie bezieht in ihr Spiel die Vertrautheit mit den sozialistischen Formen ein, mit denen man aufgewachsen ist, aber gleichzeitig eröffnet sie auf ironische Weise die Möglichkeit, dass diese Formen auch etwas Positives an sich hatten und nicht einfach in die Rumpelkammer der Geschichte gehören. Wir haben hier etwa eine 126 Pfund schwere Kiste mit Kommunistischen Manifesten. Sie gehören zwar der Geschichte an, sind aber in dieser Präsentation voller Witz – und trotz allem immer noch da in der Kiste. Diese Kiste kann jederzeit geöffnet werden, um davon wieder Gebrauch zu machen. Die Stellung dieser KünstlerInnen zur sozialistischen Vergangenheit ist sehr kompliziert und gleichzeitig sehr interessant. Das unterscheidet sich stark von dem, was ich noch vor zehn Jahren in den postsozialistischen Ländern gesehen habe.

 

 

1 Postmodernism Or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham, North Carolina: Duke University Press, 1992.

2 What, how and for whom – Zum 152. Jahrestag des Kommunistischen Manifests, Zagreb, Dom HDLU (Kroatische Gesellschaft bildender KünstlerInnen) und net.culture club MAMA, Zagreb,16. Juni bis 10. Juli 2000