Heft 2/2001 - Du bist die Welt
Marx sah im Verhältnis von Zeit und Subjektivität den Schlüssel zur Lösung des Rätsels von Arbeit und Ware – in Form einer »Kristallisation der Zeit«.
Kino, Video und digitale Technologien legen eine andere Kristallisation der Zeit nahe, einen neuen Maschinentyp, der im Gegensatz zu den mechanischen und thermodynamischen Maschinen nicht Zeit allgemein kristallisiert, sondern die Wahrnehmungsdauer, die Sensibilität und das Denken.
Bergson versteht unter »Kristallisation der Zeit« einen Prozess der Kreation und Akkumulation von Kräften. Für ihn stellt die Dauer »eine spezifische Kraft« dar. Aber um welche Kraft handelt es sich? Es handelt sich weder um eine kinetische noch um eine potentielle Kraft. Bergson fügt sich in die materialistische Tradition ein, nach der die Kraft in enger Verbindung zur Empfindung steht. Er führt in die Qualifikation der affektiven Kraft eine wesentliche Determination ein: Die affektive Kraft kann nur in Bezug zur Zeit, zur Dauer begriffen werden. Auf diese Weise entdeckt er eine Beziehung zwischen affektiver Kraft, Subjektivität und Zeit-Dauer.
Die Aktivität, die die Bildtechnologien implizieren, betrifft direkt die spezifische Kraft, die man das »Spüren einer Anstrengung« oder »Aufmerksamkeit« nennt. Die Maschinen zur Zeitkristallisation wirken direkt in den Prozess der »Produktion von Subjektivität« ein, denn sie schließen sich mit den Affekten, der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Sprache und dem Denken zusammen.
Die Aufmerksamkeit, von der Bergson spricht, ist nicht die individuelle psychologische Aufmerksamkeit, sondern die Kraft, die spürt und agiert, indem sie die Bilder und unterschiedlichen Zustände des Bewusstseins produziert.
Bevor nämlich Bilder und Töne erzeugt werden, produzieren die Zeitkristallisationsmaschinen Dauer, erst die Möglichkeit ihrer Reproduktion erlaubt die Herstellung von Bildern und Tönen. Die Zeitkristallisationsmaschinen sind die »Motoren« der Synthese, Kontraktion und Kreation affektiver Kräfte. Ein »neuer Typ« einer »kraftvollen nicht-organischen Energie« bildet die Materie, die diese Kräfte arbeiten lassen.
Um zu analysieren, in welcher Weise die affektiven Kräfte und die Produktion der Subjektivität heute im Zentrum des Prozesses der kapitalistischen Wertschöpfung stehen, muss man die von Deleuze und Guattari entwickelte Analyse des Kapitalismus mit einer informationsökonomischen Analyse verbinden.
Eine ganze Reihe von Kategorien, die zur Konstitution einer Kritik der politischen Ökonomie dienten, müssen aufgegeben oder neu formuliert werden. Das gilt im Besonderen für die Kategorie der »Arbeit«, die ohne jede Nostalgie mit den durch die neuen technologischen Anordnungen erregten, produzierten und konsumierten Aktivitäten und affektiven Kräften konfrontiert werden muss. Das Konzept der »lebendigen Arbeit« war der Hebel der Kritik der »Arbeit«. Der kritischen Marxismus interpretierte es als Ausdruck der Subjektivität des Arbeiters und ermöglichte so eine tiefgreifende Erneuerung der Kritik der politischen Ökonomie. Aber dieses Konzept blieb direkt mit der Qualifikation der Subjektivität als proletarische Subjektivität verbunden. Die marxistische Vorstellung einer »globalen Subjektivität« als ein den Kapitalismus definierendes Charakteristikum konnte folglich diesen Rahmen nicht verlassen.
Das Konzept der »Produktion von Subjektivität«, wie es die französische poststrukturalistische Philosophie – mit signifikanten Unterschieden – entwickelte, ermöglicht einen radikalen Bruch mit der marxistischen Definition der »lebendigen Arbeit« (und kann gleichzeitig seine ursprüngliche Intuition aus einer anderen Perspektive wiedergewinnen): die »zum Arbeiten gebrachte« Subjektivität ist einfach irgendeine Subjektivität, wenn sie nicht mehr als ausschließlich proletarische bezeichnet werden kann. Im postmodernen Kapitalismus ist die benjaminsche Unterscheidung zwischen Arbeit und Wahrnehmung – oder auch die aus den 70er Jahren stammende Unterscheidung zwischen Arbeit und Affekt – durch die Definition der »allgemeinen Aktivität« überflüssig geworden, die die Produktion »unabhängig von jeder Arbeit mit einem Mehrwert versieht (Kinder, Pensionäre, Arbeitlose, Fernsehbetrachter/innen)».
Daraus ergeben sich insofern enorme Probleme, als es nicht nur darum geht, Arbeit und Subjektivität, Arbeit und Sprache, Arbeit und Affekte miteinander zu verbinden. Man muss die Anordnungen und Bedingungen der »Wertschöpfung« und der Produktion der Subjektivität in einer Welt komplett neu definieren, in der »es keine Unterscheidung zwischen Mensch-Natur, Gesellschaft-Natur, Industrie-Natur mehr gibt … (und) … keine voneinander relativ unabhängigen Sphären oder Kreisläufe« (Deleuze/Guattari). Diese Umdefinition erfordert die Rekonstruktion des Konzeptes der »Aktivität«, der affektiven »Kräfte«, der »freien Handlung«, die durch den Kapitalismus und die Arbeiterbewegung gleichermaßen pervertiert und mystifiziert wurde. Beide Gesichtspunkte haben sich niemals aus der theoretischen und politischen Unterordnung des Konzepts der Kraft unter das Konzept der Arbeit befreit.
Wir geben die meisten Kategorien der »Kritik der politischen Ökonomie« auf, aber nicht die marxistische Methodologie: nämlich die Notwendigkeit, das genetische, kreative, differentielle Element, das Marx als »lebendige Arbeit« definierte, diesseits der Kategorien der politischen Ökonomie zu entdecken. Die meisten Begriffe von Sprache, Kommunikation und Information verdecken und mystifizieren die Anordnungen der Produktion der Subjektivität und der sie konstituierenden affektiven Kräfte. Tatsächlich findet sich in Sprache und Kommunikation die Tendenz, die Subjektivitäten, Virtualitäten und affektiven Kräfte im Inneren der »geistigen Fähigkeiten« einzuschließen, aber einmal so definiert, findet sich dort die ontologische und politische Neuartigkeit, als Intersubjektivität, als »Bezug zum Anderen«.
Man müsste Habermas, Shannon und die Mehrzahl der Linguisten dabei ähnlich behandeln wie Marx die »klassischen Ökonomen«.Sprache, Kommunikation und Information sind unter den neuen Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation die Formen der Verräumlichung der affektiven Kräfte. Im Inneren der »Sprache«, der »Kommunikation«, der »Information« ist das genetische, plastische Element, das alleine ihre Konstitution und ihre Entwicklung erklären kann, nicht zu bestimmen. »Aber woran halten sie sich eigentlich, wenn der Sozius derart auf die Tatsachen der Sprache reduziert wäre und die letzteren wiederum auf binarisierbare, ›digitalisierbare‹ Signifikantenketten?« (Felix Guattari)
Deleuze/Guattari stellen in »Mille Plateaux« nicht nur fest, dass die Produktion des Wertes nicht mehr auf der »menschlichen Komponente der Arbeit« basiert, sie versorgen uns auch mit den notwendigen Elementen, um den Bezug zwischen Produktion der Subjektivität und Zeitkristallisations-Maschinen jenseits der Kategorien des Gebrauchswerts und des Tauschwerts ausdrücken zu können.
Die Lohnarbeit ist nur in dem Maße (im ökonomischen Sinne) »produktiv«, in dem sie es schafft, das Begehren und die affektiven Kräfte aufzunehmen und zu disziplinieren. Der Kapitalismus hat diese Aneignung immer durch Trennungen erreicht: zwischen Fabrik und Gesellschaft, zwischen proletarischen und anderen Formen von Subjektivität, zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, zwischen Arbeits- und Lebenszeit, zwischen Hand- und Kopfarbeit. Nur unter diesen Bedingungen stellt sich die »produktive«, vom Kapitalismus hervorgebrachte Beziehung zwischen Subjektivität, Körper und Zeit als Stärke des Kapitals und der Lohnarbeit dar.
Die von den Kämpfen 1968 angekündigte »große Transformation« liegt darin, dass die Beziehung zwischen Begehren, affektiven Kräften und Zeit ihren Weg nicht mehr über die Lohnarbeit nehmen muss, um Reichtümer zu produzieren. Die Informationsökonomie zeigt uns, wie der Kapitalismus selber in seinen avanciertesten Formen die Beziehung zwischen Affekten, Wünschen und Zeit ohne Rückgriff auf die Disziplinierung der Fabrik organisiert und in einem offenen Raum die Affekte und Wünsche jedes und jeder Einzelnen aufnimmt (ohne dabei zwischen produktiv und unproduktiv oder zwischen »proletarischen« und anderen Subjektivitäten zu unterscheiden), um sie zur Produktion von Profit zu finalisieren.
Die von Felix Guattari in den 70er Jahren entwickelte Analyse des fortgeschrittenen Kapitalismus lässt uns die immer wichtiger werdende Rolle verstehen, die die affektiven Kräfte und die Zeitkristallisationsmaschinen in der Organisation der Ökonomie spielen werden. Guattari stellt zwei komplementäre Aspekte ins Zentrum seiner Analyse, die sich seitdem bestätigt hat. Erstens beschränkt sich der zeitgenössische Kapitalismus nicht darauf, die Arbeit auszubeuten, sondern die komplette Gesellschaft. »Die Begriffe des kapitalistischen Unternehmens und der Arbeitsplätze sind vom Ensemble des sozialen Stoffs nicht mehr zu trennen, der sich selbst direkt unter der Kontrolle des Kapitals produziert und reproduziert. Der Begriff des kapitalistischen Unternehmens muss um die Gemeinschaftseinrichtungen, um die staatlichen Institutionen, die medialen Apparate, die Arbeitsplätze und um die Mehrzahl der nichtbezahlten Aktivitäten erweitert werden. In gewisser Weise nimmt die Konsument/in im Supermarkt einen Arbeitsplatz ein, die Fernsehzuschauer/in vor ihren Schirmen.« (Guattari)
Der Kapitalismus beschränkt sich nicht mehr darauf, die »Arbeitszeit« auszubeuten, sondern die »Lebenszeit«. Um ein Konzept von Foucault zu benutzen: Der zeitgenössische Kapitalismus definiert sich als eine »Biomacht« und eine »Biopolitik«. Das Leben ins Zentrum der Wertschöpfung zu stellen, impliziert – und hierin findet sich der zweite Aspekt von Guattaris Analyse – die zentrale Position der das Leben konstituierenden affektiven Kräfte für die Wertproduktion.
Die Organisation der Wertschöpfung umfasst also nicht nur die »ökonomisch bestimmbaren«,sondern auch die mentalen und affektiven Werte, die »geistigen Fähigkeiten«-- aber auch die unpersönlichen Affekte, die sich am Ausgangspunkt der Produktion von Subjektivität anordnen.
»An dieses grundlegende Funktionieren der perzeptiven, sensitiven, kognitiven und linguistischen Verhaltensweisen dockt die kapitalistische Maschinerie an, denn die Individuen sind ebenso mit Wahrnehmungsweisen oder Wunsch-Normalisierungen »ausgestattet wie Fabriken, Schulen, Territorien.« (Guattari)
Der Kapitalismus »fabriziert« nicht nur die Ströme primärer Materie, Energieströme, Ströme menschlicher Arbeit, sondern auch Wissensströme, semiotische Ströme, die Affekte, Sensationen, Haltungen und kollektive Verhaltensweisen reproduzieren. Die Dispositive der Produktion von Subjektivität entsprechen zunehmend den Prozessen der Produktion von Reichtümern.
Nach Guattari definiert sich der Kapitalismus durch einen Prozess der Deterritorialisierung des Realen, der nur durch die asignifikanten semiotischen Maschinen und die selbst wiederum deterritorialisierten Zeichenströme kontrolliert und integriert werden kann. Die Macht stellt auf ökonomischem Niveau keinen Diskurs her, sondern ist mit den asignifikanten semiotischen Maschinen beschäftigt. Guattari bezieht sich dabei wesentlich auf Geld, die Organisation seiner Zirkulation und asignifikante Börsenraster. Die deterritorialisierten Ströme der Subjektivität werden durch die deterriorialisierten Ströme des Geldes aufgenommen und kontrolliert.
Der zeitgenössische Kapitalismus definiert sich durch eine fortgesetzte Bereicherung an semiotischen Komponenten und asignifikanten semiotischen Aneignungsmaschinen, die sich nicht mehr auf Geld und seine Derivate beschränkt. Das Arbeitenlassen des »Sozius« und der affektiven Kräfte bedarf einer spezifischen Maschinerie. Hier sieht Guattari die Zunahme dessen, was wir Zeitkristallisierungsmaschinen genannt haben (Fernsehen, das Kino, die elektronischen Netzwerke), die eine die Subjektivität unmittelbar betreffende Semiotisierungsarbeit bewirken.
»In dem das Kapital sich der Informatik und der Medien bedient, manifestiert es sich heute -- jenseits von Hart- und Papiergeld, Krediten, Aktien und Besitzurkunden etc. -- in semiotischen Operationen und jeder Art Machtgebrauch.« (Guattari)
Die Verwertung des Lebens benötigt Maschinen, die in der Lage sind, die affektiven Kräfte und die sie konstituierende nichtorganische Energie aufzunehmen. Mit den Zeitkristallisationsmaschinen beschränkt sich die maschinische Integration nicht mehr nur auf die Produktionsorte, sondern entwickelt sich auch in allen anderen sozialen und institutionellen Räumen: Medien, Netzwerke, Gemeinschaftseinrichtungen etc. Unsere ganze Arbeit soll zeigen, wie der Kapitalismus mit diesen neuen Maschinen »jenseits von Lohnarbeit und monetarisierten Gütern Kontrolle gewinnen kann über eine Multitude an Macht-›Quanten‹, die andernfalls in lokalen, häuslichen oder libidinalen Ökonomien verkapselt blieben. «
Das Neue an Guattaris Analyse liegt darin, dass für ihn die »kollektiven Einrichtungen« (zu denen die Medien und die digitalen Netzwerke gehören) keine »ideologischen Staatsapparate« sind, wie das Althusser vorsah. Für Guattari handelt es sich hier nicht um Dispositive der Reproduktion der Ideologie, sondern der Reproduktion der Produktionsmittel und -beziehungen. Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre bestätigt seine Analyse und radikalisiert sie bis zur Behauptung, dass die Informationsökonomie heute aus diesen Einrichtungen Dispositive der unmittelbaren Schaffung ökonomischen Reichtums gemacht hat. Durch die Informationsökonomie sind sie selbst der am meisten dynamische und quantitativ der wichtigste Teil der postfordistischen Akkumulation geworden.
Auf der Basis von Guattaris Begriffsbildung lässt sich eine andere wichtige Bewertung der Zeitkristallisationsmaschinen entwickeln, die eng mit der Kritik an ihrer Funktion ideologischer Reproduktion verbunden ist. Die Zeitkristallisationsmaschinen arbeiten nicht nur in Richtung auf »Repräsentation«, sondern auch und vor allem in Richtung auf »Affekte«. Um eine bergsonsche Unterscheidung zu benutzen: durch die Arbeit der Produktion, der Erhaltung und der Akkumulation der Dauer pfropfen sich diese Maschinen gleichermaßen auf die »affektiven« und die »repräsentativen Empfindungen« auf. Diese Maschinen funktionieren auf einem doppelten Register der asignifikativen Semiotiken (der Dauern, der Intensitäten, der Affekte) und der signifikanten Semiotiken (der Repräsentationen, der Ideen, der Gefühle). Diese Unterscheidung ist wichtig, um die Zeitkristallisationsmaschinen nicht auf Dispositive der ideologischen Produktion zu reduzieren und zu verstehen, wie sie an der Akkumulation der Energie eines »neuen Typs« im Sinne Bergsons mitwirken. Durch dieses doppelte Affektniveau ziehen die Zeitkristallisationsmaschinen die Wünsche und die affektiven Kräfte in die Informationsökonomie mit hinein.
Während die signifikanten Maschinen und Semiotiken die Person, also die »leicht manipulierbaren« subjektiven Repräsentationen (Ideen und Gefühle) verpflichtet, ordnen die asignifikanten Maschinen und Semiotiken »infra-personelle, infra-soziale Elemente nach einer molekularen Wunschökonomie an, die nur mit viel mehr Aufwand im Inneren der geschichteten sozialen Verhältnisse zu platzieren ist. Durch das unmittelbare Arbeitenlassen von perzeptiven Funktionen, Affekten und unbewussten Verhaltensweisen, ergreift der Kapitalismus von einer Arbeitskraft und von Wünschen Besitz, die diejenigen der Arbeiterklasse im soziologischen Sinne weit hinter sich lassen.« (Guattari)
Übersetzt von Stephan Geene, Erik Stein
Dieser Text ist ein Vorabdruck aus Maurizio Lazzaratos neuem Buch »Videophilosophie«, das im Sommer 2001 bei b_books in Berlin erscheinen wird. Maurizio Lazzarato wird am 16. und 17. Juni beim von den Wiener Festwochen und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien koproduzierten Symposion »Auf der Suche nach dem postfordistischen Subjekt« referieren.