Heft 2/2001 - Artscribe
Vielleicht wird die zukünftige Kunstgeschichte einmal das ausgehende zwanzigste und beginnende einundzwanzigste Jahrhundert als die mnemokritische Ära der Kunst charakterisieren. Denn zahlreiche Ausstellungen und künstlerische Projekte haben in den letzten Jahren Fragen der Erinnerung, Aufbewahrung und Rekonstruktion von Vergangenem in den Mittelpunkt gestellt. So hat in jüngerer Zeit ein neuer Begriff – »Gedächtniskunst« – Verbreitung gefunden, und hierzu existieren sowohl eine Reihe von Blueprints, wie Gerhard Richters »18. Oktober 1977«, als auch entsprechende Künstlerarchetypen (beispielsweise die sogenannten Spurensicherer Jochen Gerz und Christian Boltanski). Die Ausstellung »Das Gedächtnis der Kunst« in Frankfurt, deren Exponate zum größten Teil in der Schirn-Kunsthalle und – in geringerer Anzahl – auch im Historischen Museum sowie in der Paulskirche zu sehen waren, unternahm den Versuch, das mittlerweile vielfältig ausdifferenzierte Spektrum existierender Positionen vorzustellen. Die Aktualität des Leitmotivs wurde auch daran deutlich, dass das Gros der Arbeiten der 38 vertretenen Künstlerinnen aus den neunziger Jahren stammte. Diese steckten ein weites Feld von Themen ab, die zur Zeit auch im akademischen Bereich Hochkonjunktur haben: die Implikationen von Erinnerungsorten und Speichermedien, die Gestaltung von Mahn- und Denkmälern, durch bestimmte Erinnerungskulturen vorgegebene Erinnerungsweisen, Funktionen des Gedächtnisses wie beispielsweise Identitätsbildung oder das Problem der Selektion bei Aufbewahrung und Archivierung (auch durch das Museum selbst – selbstreflexive Institutionskritik gehört ja zum guten Ton). Neben den gezeigten künstlerischen Arbeiten liefern einige der Texte im umfangreichen Katalog zum Teil völlig eigenständige Beiträge zur Behandlung dieser Problemkomplexe. Beachtenswert ist beispielsweise der aufschlussreiche Vergleich von individuellem und kollektivem Gedächtnis durch die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann; der Historiker Bernhard Jussen überprüft in seinem Beitrag die Berechtigung tradierter beziehungsweise imaginierter Grenzen zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Beschäftigung mit geschichtlichem Material.
Mehrere Arbeiten stellen explizite historische Bezüge her, vor allem zu Episoden, die als gesellschaftliche Umbrüche oder Epochen politisch motivierter Gewaltausübung Eingang ins kollektive Gedächtnis der westlichen Welt gefunden haben, also unter anderem die Französische Revolution, der Terror des Nationalsozialismus, die Ära des utopischen Sozialismus in der Sowjetunion, das Apartheidregime in Südafrika sowie »dunkle Episoden« der US-amerikanische Geschichte wie die Sklaverei, der Vietnamkrieg oder die staatliche Gewaltanwendung gegen die Studentenbewegung. In den Arbeiten von Jörg Herold, Hughie O`Donoghue, Hiromi Tsuchida und Ute Weiss-Leder geht es darum, die Erinnerung an die Geschehnisse und Topoi des Zweiten Weltkriegs um kaum bekannte oder von der Geschichtsschreibung unbeachtete Aspekte von Opfererfahrungen zu erweitern. Der Darstellung von Einzelschicksalen kommt dabei eine besondere Rolle zu, wie etwa in Weiss-Leders audiovisueller Installation, die den Erinnerungen der Wolgadeutschen Luisa Filbert an die von Stalin veranlasste Deportation aus ihrer Heimat nach Sibirien Gehör verschafft. Von Jörg Herold stammt das im Außenbereich der Schirn-Halle errichtete »Mahnmal für einen Matrosen«, dessen kommemorativer Inhalt ohne Hintergrundinformationen aus der äußeren Gestalt (zwei aus Schalenholz gefertigte Wände, deren Querschnitt ein schiefes Ypsilon ergibt) nicht zu erschließen ist. Die Lektüre der entsprechenden Hinweise verrät, dass Herold an die Torpedierung deutscher Flüchtlingsschiffe in der Ostsee im Jahr 1945 erinnern möchte und das Mahnmal so angelegt hat, dass die End- und Berührungspunkte der Wände die Abschussstellen versenkter Boote markieren. Aber nicht nur die Leiden der (deutschen) Zivilbevölkerung werden künstlerisch verarbeitet, auch traumatische Erlebnisse aus Sicht der Kriegführenden sind repräsentiert: Eine kleine Reihe düsterer, symbolbeladener Bilder O`Donoghues basiert auf Feldpostbriefen seines Vaters, der als britischer Soldat in Italien und Nordafrika gekämpft hat. Beim Gang durch die Ausstellung entsteht so mitunter der Eindruck, als würden alle Gewalterfahrungen gleichermaßen in einer Art entropischem Gedenkprozess aufgehen, in dem die Unterschiede der politischen, gesellschaftlichen und psychischen Grundbedingungen für die verschiedenen Schreckenserlebnisse zunehmend verschwimmen.
Die verschiedenen Kontexte von Gewalt, Leid und Tod bleiben auch in einem anderen Teil der Ausstellung im Verborgenen. Eine Handvoll Arbeiten sind dem Herbst 1977 gewidmet, der in Deutschland in den vergangenen Monaten sowohl in der öffentlichen Diskussion (oft in eigentümlicher Kopräsenz mit der Debatte um die 68er-Vergangenheit heutiger Regierungsmitglieder) als auch in der kulturellen Produktion zu einem allgegenwärtigen Topos wurde. Während Gerhard Richters Arbeit (Übermalungen von Seiten des Buches »Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion«) aufgrund des unausweichlichen Vergleichs mit seiner berühmten RAF-Bildreihe und ihrer ungünstigen Hängung blass bleibt, macht die Arbeit »1967-1993. Die Toten« von Hans-Peter Feldmann durch ihren ostentativen Gestus der unvoreingenommenen, politisch neutralen Dokumentation auf sich aufmerksam. Neunzig Fotokopien von Zeitungsfotos auf grauen DIN-A3-Bögen zeigen Polizisten, Terroristen, Geiseln und andere zivile »Kollateralopfer« (zum Beispiel einen bei einer Straßenkontrolle irrtümlich erschossenen Autofahrer), die im Zusammenhang mit Anschlägen und staatlichen Gegenmaßnahmen ums Leben kamen. Dabei geht es dem Künstler in eigenen Worten darum, »die Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte aus einer gewissen Distanz zu betrachten und auf das Ausmaß des Geschehenen hinzuweisen«1. Bei der Betrachtung dieser Opferserie sind schon die Schussgeräusche aus dem nächsten Raum zu hören, wo in der multimedialen Installation von Dara Birnbaum ein Strom der Bilder all der Geiseln, Toten und Terroristen auf die BesucherInnen eindringt – ohne dass deutlich wird, aus welchen Gründen und Perspektiven diese Ereignisse in der Gegenwart eine bestimmte Interpretation erfahren, in eine bestimmte Form gegossen werden oder für wen dieses Kapitel deutscher Geschichte heutzutage instrumentalisierbar ist. Dass dann beispielsweise in Anne und Patrick Poiriers quasi-archäologischer Sammlung der Fundstücke aus einem abgerissenen Frankfurter Altbau alte Ausgaben des »Spiegel« mit RAF-Titelgeschichten scheinbar zufällig herumliegen, trägt ebenso wie der in weiten Teilen der Ausstellung hörbare Trauermarsch dazu bei, ein Assoziationskarussell entstehen zu lassen, auf dem sich sämtliche Gewaltopfer der Geschichte, durch ihr Opfersein vereint, vor den BesucherInnen im Kreis zu drehen scheinen.
Problematisch ist zum gegebenen Zeitpunkt vor allem, dass dieser Zug der Ausstellung analog zur entdifferenzierten, denunziatorischen Verwendung des Gewaltbegriffs2 in den aktuellen Debatten zu 68/77 verläuft. Obwohl einzelne andere Arbeiten bemerkenswerte Interventionen gegen die Vorherrschaft von bestehenden Monokulturen des Erinnerns darstellen (etwa die Beiträge von Renée Green, Kara Walker, Marcel Broodthaers oder Allen Ruppersberg), so bleibt doch insgesamt der Eindruck bestehen, dass »Das Gedächtnis der Kunst« eher auf diffuse historische Grundkonstanten – wie das unausweichliche Ineinandergreifen von Umbruch und Leid – verweist als zentrale Fragen der Perspektivität, Konstruktivität und Instrumentalisierung von Geschichte und Erinnerung sichtbar zu machen.
1 Hans-Peter Feldmann: 1967-1993. Die Toten. (Studentenbewegung, APO, Baader-Meinhof, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen, RAF …). Düsseldorf 1998.
2 Begrüßenswert war nach den vielen medialen »Gewalt«-Beschwörungen in Talkshows, Kommentaren und Glossen – bei aller Vorsicht gegenüber der notorischen kulturkonservativ-ästhetisierenden Verstiegenheit – der Essay von Karl-Heinz Bohrer, »Fantasie, die keine war«, in: Die Zeit, 8. Februar 2001.