Heft 2/2001 - Netzteil
Bevor die tijuanischen Elektronikkünstler Pepe Mogt und Melo Ruiz genug eigenes Equipment hatten, um ihre Musik selbst produzieren zu können, gingen sie mit ihrem tragbaren Rekorder in Musikgeschäfte, um die neuesten Synthesizersounds aufzunehmen. »Jetzt geht es uns nicht mehr um das Einspielen von Keyboard-Sounds, sondern um das Einfangen und Abmischen der Geräusche der Stadt«, sagt Mogt, der gemeinsam mit Ruiz das Elektronikduo Fussible (gesprochen: foo-SEE-blay) bildet, einer der Protagonisten des »Nortec Sound«.
Zu einer Zeit, als die TJ-Künstler das Gefühl hatten, mit ihrer Musik nicht mehr weiter zu kommen, obwohl sie die ganze Bandbreite von Elektronic Dance und experimentellen Sounds produzierten, begannen Mogt und Freunde, auf Partys zum Spaß mit traditionellen mexikanischen Norteño-Beats herumzuexperimentieren. Der »Soundtrack« der verarmten Baja-California-Region, die sich von Mexiko bis nach San Diego erstreckt, ist eine Mischung aus allem Möglichen, was von amerikanischen Radiostationen zu empfangen ist, dem holprigen Norteño und der blechernen Banda-Musik aus der Sinaloa-Region, die von unzähligen Straßenkombos überall dort gespielt wird, wo sie die Möglichkeit sehen, ein kleines Trinkgeld zu ergattern: in Bars, Restaurants, Hotels, Casinos, Einkaufszentren. »Wir haben uns auf den Partys gegenseitig aufgezogen ? du musst ein wenig Sinaloa reinmischen. Nimm ein paar Banda-Rhythmen dazu, und du kriegst was Ordentliches raus«. Aber das hat mich zum Nachdenken gebracht«, sagt Mogt, der mittlerweile 30 ist. »Manche dieser Rhythmen klangen gar nicht so schlecht, und ich dachte, ich sollte das ausprobieren - jetzt oder nie«.
Mogt, der mit bürgerlichem Namen José Trinidad heißt, suchte an den üblichen Orten und Lokalen der Stadt nach Banda- und Norteño-Klängen, um den speziellen Sound der waltzenden Trommeln und der Blechinstrumente aufzunehmen. Bei den Aufnahmen auf der Straße störten die Umgebungsgeräusche der Stadt, also ging er ins Studio, in dem die meisten dieser Bands ihre Demos produzieren. Nachdem er mit den neuen Sounds in seinem Repertoire herumgespielt hatte, verteilte Mogt die rohen Norteño-Aufnahmen an seine Musikerfreunde und gab so den Anstoß zu einer musikalischen Revolution.
Ramon Amor Amezcua a.k.a. Bostich antwortete mit »Polaris«, dem Eröffnungstrack der jüngsten Produktion »The Tijuana Sessions Vol. 1«, das in den Vereinigten Staaten auf Chris Blackwells Palm Label herauskam und unter dem Namen des Nortec-Kollektivs veröffentlicht wurde, dem Fussible, Panoptica, Plankton Man, Terrestre und Cloifila angehören. Dieser Track mit seinen knappen, ausgelassenen Bongoklängen und dem Tuba-Gedröhn wurde zur Vorlage dessen, was Nortec später ausmachen sollte. Mit 38 Jahren ist Bostich der Veteran der Crew, und für »Polaris« wurde er mit dem Namen »Godfather of Nortec« bedacht. »Fussible, Panoptica und ich waren vom ersten Moment an begeistert von diesen Sounds. Seit Jahren hatten wir mit verschiedensten Richtungen, von Drum?n?Bass bis Trance, experimentiert«, sagt Bostich, ein Pionier der mexikanischen Elektronikszene. Bostischs erstes Album »Electroniche« (Opción Sonica) kam 1994 heraus. »Als ich begann, die Trommeln und diese hybride Percussion dazu zu mischen, fanden die Tuba und alle diese Dinge ganz automatisch Eingang in den Song.«
Zur Feier der Veröffentlichung der »Tijuana Sessions Vol 1.« des Nortec-Kollektivs erklärten die Organisatoren Nortec City für eine Nacht zum Elektronik-Suburb von TJ und luden die internationale Presse zur Party. Die Hymne dieser post-utopischen Verschmelzung ist eine freche, wabbelige Bongo-Techno-Mischung von Hiperboreal mit dem Titel »Tijuana for Dummies«.
Würde ein Stadtführer mit diesem Titel existieren, müsste er Tijuanas »Sin City«, die in der Zeit der Prohibition und Prä-Vegas-Casino-Ära ihre Hochblüte hatte, ein eigenes Kapitel widmen. Ungefähr 80 Cantinas erstrecken sich auch heute noch entlang der Hauptstraße der Stadt, der Avenida Revolución, genannt La Revo. Während es für die 18-jährigen in den Staaten noch verboten ist, hängen hier Tausende von Teenagern an jedem Wochenende in den Straßen und Lokalen ab. In dieser Stadt wurde Mexikos Äquivalent zu JFK, der verheißungsvolle Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio, vor sechs Jahren ermordet. Durch die hier angesiedelten »Maquiladoras«, die Produktionsstätten von Panasonic und Sony, ist die wirtschaftliche Lage besser als in den meisten anderen Städten Mexikos. Die Stadt profitiert auch vom Drogenhandel. Wie als Überbleibsel aus dem alten »Wilden Westen« hängen Plakate mit dem Aufdruck »Wanted« an öffentlichen Plätzen und versprechen 2 Millionen Dollar Belohnung für die Ergreifung der lokalen Drogenbosse. »Die jungen Leute, die in die Nortec-Kultur involviert sind, haben all das inhaliert«, sagt Enrique Jiménez, ein Nortec-Journalist und Gründer des Labels Nimboestatic, auf dem einige frühe Tracks von Fussible, Terrestre und Panóptica aus der Prä-Nortec-Zeit erschienen.
»Worum es bei Nortec geht, ist >mestizaje< - eine Fusion von zwei Welten. Vor drei Jahren hätte das noch niemand für möglich gehalten.«
Wie in allen Grenzgebieten, wo sich bei zwei aneinander reibenden Kulturen die Linien, die sie eigentlich trennen sollten, langsam verwischen, bildet sich auch hier eine neue Form von Kultur. Die Vorhut bildet eine Gruppe von jungen KünstlerInnen aus verschiedensten Bereichen - Grafik-Design, Mode, Video, Literatur und Musik - die sich spontan mit Nortec identifiziert haben. Grafik-DesignerInnen setzen einer Warhol-artigen Collage von Colosio einen Norteño-Hut auf. Die Kids auf der Tanzfläche tragen mexikanische Ponchos mit Quasten über ihren Hightech-Overalls. Und Schriftsteller verlagern ihre Geschichten in einen Rave, auf dem die Arellano-Brüder des tijuanischen Drogenkartells ihre Geschäfte machen.
Die Kompilation ermöglicht Einblicke in das jüngste Kapitel einer Geschichte des Electronic Sound, die in Baja circa 15 Jahre zurückreicht. Terrestre mischt eine durchgeknallte, mit harten Blaskapellen- und Jazz-Fragmenten versetzte, wie durch die Jukebox gespulte Techno-Polka mit dem Titel »Tepache Jam«, und verweist dabei auf das fermentierte Fruchtgetränk Aztec, das vor kannibalischen Opferritualen getrunken wurde. Auf Panópticas Ambient Dub »And L.« werden die Trommeln, Hüte und Kuhglocken durch ein Geschnappe und Geknister eines analogen Filters gejagt. (»And L.« kann zweisprachig gelesen werden ? nicht englisch ausgesprochen als »AHN-da-lay« ist es der Schlachtruf Speedy Gonzales und heißt auf mexikanisch »Beeilung!«). Und Fussibles »Ventilador«, mitkomprimierten Breakbeats und unzusammenhängenden Melodien, die durch Waschbrettgeschrammel nochmals zerstückelt werden, wirbelt den Strom noch einmal durch, der das Gefühl von »Mexicanness« über alle Grenzen hinaus trägt.
»Wir hatten nicht vor, mit der Sprache zu spielen, die Mischung aus Spanisch und Englisch ist Teil unseres Alltags«, sagt Panóptica alias Roberto Mendoza, der den Begriff Nortec geprägt hat. »So reden wir einfach, wie viele Latinos in den Staaten auch.« »Worum es bei Nortec geht, ist >mestizaje< - eine Fusion von zwei Welten. Heute ist ganz klar, wie all das zustande kam, aber vor fast drei Jahren hätte das niemand für möglich gehalten«, sagt er. Einer der Begriffe, die das Kollektiv zur Definition ihres musikalischen Ansatzes aufbrachten, war »Tech-Mex«, in Abwandlung von »Tex-Mex«, aber das war zu U.S.-orientiert. Dann kam die Idee, »Norte« zu nehmen, da ganz Lateinamerika an die US-Grenze drängt. »Wir haben mit den Wörtern herumgespielt, bis >norteño technology< und >norte techno< auftauchten«, erinnert sich Mendoza. »Als der endgültige Begriff >Nortec< feststand, kam uns das sehr sinnhaft vor.«
Nach all der Zeit ohne jegliche Stimm-Samples könnte Hiperboreals »Tijuana for Dummies« ein nächster Schritt in der Nortec-Entwicklung werden. Der Song versucht in einem neuen Ansatz, die Tijuana-Vibes mit einer weiblichen Stimme zu transportieren, die auf Hispano-Englisch auffordert: »This is Tijuana...Come In!«
Übersetzt von Isabelle Marte