»Kann man einen »Ort« gestalten, an dem die neuen Selbständigen einen Teil ihrer Bedürfnisse nach Identität und Kultur, Kommunikation und wechselseitigem Beistand befriedigt finden, ihre Vision einer »polis« zum Ausdruck bringen und damit beginnen können, eine Stadt im Maßstab ihrer Bedürfnisse und Wünsche zu projektieren?«
Diese Frage wirft Sergio Bologna, der große Mailänder Analytiker des gegenwärtigen Wandels von Lebens- und Arbeitsverhältnissen im postfordistischen Westeuropa, in einem von ihm mitgeschriebenen, utopischen Konzept für eine radikale Neukonzeption des Lebensraumes dieser Klasse auf, das wir in dieser springerin erstmals veröffentlichen. Bologna schließt mit einem Aufruf: »Wenn alle Dimensionen des politischen Handelns zu klein sind - und das ist eben der Fall für die neuen Arbeitsformen - kann nur die Dimension der Utopie realistisch sein.«
Gegenwärtig zirkulieren im Kunstbetrieb eine Vielzahl von Rückgriffen auf utopistische Konzepte des Modernismus. Re-Kombinationen von Future-World-Fantasien der sechziger und siebziger Jahre sind in allen kulturellen Feldern in Mode gekommen. Die Frage nach anderen Formationen und anderen Konditionen des Gesellschaftlichen wird in ihnen oft zugunsten eines futurologischen Formen-Eskapismus unterdrückt. Auf einer anderen Ebene scheint sie damit aber dennoch aufgeworfen: der des Raumes nämlich. Je mehr klar wird, dass zum Beispiel der im U.S.-amerikanischen Post-September neuformierte Nationalismus mehr als die reaktionäre Farce auf die transnationale Verflechtung von Kapitalagglomerationen ist, je mehr klar wird, dass die Idee von einer ästhetischen und politischen Autonomie der Lebensstile und -praxen den neuen politischen Kontroll- und Überwachungsphantasien im Weg steht, desto mehr wird evident, dass es eines neuen Ansatzes bedarf, um den globalen und räumlichen Übermächtigungsritualen des Spätkapitalismus gegenzuarbeiten. Die neue Herausforderung ist nicht allein eine des Umgangs mit den internen Problemen kultureller Identität oder den vielschichtigen Subjektpositionen, die auf eine Frage der Artikulation hinausläuft, auf das Gehörtwerden. Sie ist vielmehr eine Herausforderung des Raumes, in dem sich diese eigentlich unvereinbaren Wünsche des Subjektes nach Artikulation überlagern. Wenn Bill Ayers, ehemals Mitglied der 1969 gegründeten aktivistischen Bewegung »Weather Underground« und jetzt Professor in Chicago, in diesem Heft historische Phasen symbolischer Widerstandspolitik Revue passieren lässt, dann auch um darüber nachzudenken, welches veränderte Szenario KritikerInnen der offiziellen U.S.-Politik seither vorfinden, und von welchen Kriterien eine Kritik in Hinkunft geleitet sein kann.
Entgegen allen jüngsten Manifestationen einer No-Past-Philosophie geht es in Future Worlds, in Beiträgen, wie dem von Jason Simon, der die historischen Transformationen eines Korridors in Harvard fotografisch dokumentiert, oder dem von Andrea van der Straeten - über »Gerüchtekliniken« und die Fiktion gesellschaftlicher Ruhigstellung im Nachkriegsamerika - auch darum, nachdrücklich auf die heuristische Kraft historischer Analyse hinzuweisen. Jacques Attalis und David Toops Essays über Geschichte und ästhetische Praxis eines der identitätsproduzierenden Labels der Gegenwart, der elektronischen Musik, Nebojsa Jovanovic´s Text über Krieg, Kunst und Trauma in einem Protektorat, Tanja Försters Reportage über ein Kunstfestival im Nachbürgerkriegs-Beirut, der Blick in Szenepolitiken Ungarns und Russlands oder auf ein Video zweier junger Künstler über urbane Kontrollsysteme in London beschreiben gegenwärtige Formationen und Konditionen eines Raums, in dem Bologna die Modelle für seine politische Utopie sich entwickeln sieht - des kulturellen Raums.