Heft 4/2001 - Netzteil


Neue Aktionspotenziale - News from the Networld

Zur Informationsverbreitung auf Mailinglisten und Webseiten nach dem 11. September 2001

Vera Tollmann


Am 11. September erschwerten oder verunmöglichten lange Ladezeiten die Nutzung des Internet als Newsfeed - zumindest für diejenigen, die nicht in einem mit Breitband ausgestatteten Unternehmen an ihrem Arbeitsplatz saßen. In kürzester Zeit konnte das Netz jedoch wieder unter erhöhter Aufmerksamkeit als Generator alternativer Nachrichten glänzen. Unter anderem. Nicht allein die Rolle einer kritischen Instanz wird mit dem Medium verbunden - eine Überfülle an Gerüchten bestätigt die manipulativen, inoffiziellen Eigenheiten der Cyber-Kanäle. Das DIY-Prinzip hat durch simples Verlinken ein dichtes Netz von zentralen intellektuellen Texten geschaffen. Nach einer ersten Phase von raschen emotionalen Reaktionen funktionierte die Verständigung dabei hauptsächlich über »collaborative text filtering«.

Der Stichtag S11 gibt Anlass, das Netz als Kommunikations- und Informationsmedium zu prüfen: Erhöht das Netz tatsächlich das Informationspotenzial? Werden im Internet anderswo nicht veröffentlichte Nachrichten zur Verfügung gestellt? Dem Netz ist die Möglichkeit zur ungefilterten Meinungsäußerung inhärent, keineswegs aber lässt es sich gegenwärtig als Ort politischer Meinungsbildung verstehen: Erst wenn politische Entscheidungen, Alternativen etc. jenseits des Kommunikationsraums durchgesetzt werden, kann man von politischen Auswirkungen der Technologie sprechen.

Unkontrolliert synchron verschickte Kettenbriefe wie jener, der am 31. Oktober in Berlin vor dem S- und U-Bahnfahren warnte, gehören schon länger zum Alltag auf Mailinglisten. In diesem Fall handelte es sich angeblich um eine veröffentlichte Privatnotiz, die ein unbekannter Afghane seiner Lebensgefährtin in Berlin hinterlassen haben soll. Um sicher zu gehen, welche Nachrichten umgehend in den Trash gehören, kann man sich beim Hoax Info Service (www.tu-berlin.de/www/software/hoaxlist.html) oder auf snopes2.com schlau machen. Beides sind täglich upgedatete Webseiten, die Falschmeldungen und unbegründete Warnungen auflisten. Symptomatische Berühmtheit erlangte die Zahlensymbolik einer angeblich im Zusammenhang mit den Attentaten stehenden Flugnummer: Änderte man in einem Word-Dokument die Schrifttype auf Wingdings, so schien ein Code auf, der S11 als einen von Israel geplanten Angriff auswies. Ähnliche verschwörerische Entdeckungen verbreiteten sich in den letzten Wochen, wie beispielsweise die Entdeckung eines Teufelsgesichts in den Rauchschwaden des WTC. Solche und ähnliche parawissenschaftliche Ware ist seit Wochen im Online-Angebot. Von penetranter Raffinesse ist etwa das Netzprojekt touristguy.com: Es enthält unter anderem ein schlichtes Porträt eines Rucksacktouristen auf der WTC-Aussichtsplattform, in dessen Hintergrund das erste »Attentatflugzeug« zu sehen ist - ein zynischer Seitenblick auf den medialen Echtzeiteifer.

Zusätzlich zu den vielen, bereits existierenden Webseiten, die einen »11. September«-Link etabliert haben, sind in den letzten Monaten unzählige neue Sites entstanden, die mit ungefilterter Subjektivität den Verlauf der Ereignisse dokumentieren. Mit Open-Source- Programmen wie Blogger kann sich jede/r leicht eine Webseite einrichten und Inhalte posten. Meist sieht dies so aus, dass ein Webmaster Textlinks mit kurzen Erläuterungen aneinanderreiht - und damit die bereits bestehenden Informationsketten weiter potenziert (www.blogger.com). In der kurzen Geschichte des Internet als Nachrichtenmedium weist die Netzlandschaft einerseits Grenzen auf - etwa durch Sprachbarrieren -, andererseits werden Möglichkeiten geboten, historische Texte, Videomaterial und Radio-Files auf unbefristete Zeit zu veröffentlichen und das in allemal ausgewogeneren Nachrichtenrationen als auf CNN.

Thinking Aloud

Auf der Mailingliste Nettime stellt Ivo Skoric, ein Kroate, der in New York lebt, in unregelmäßigen Abständen »Media Watch«-Emails zusammen: Das sind überwiegend Weblinks, die kategorisch nach Hintergrund- und Newstexten sortiert sind - darunter gibt es aber auch Sparten wie »young (aimed at youth)« oder »gimmicky«. In seiner ersten »Media Watch«-Aussendung erklärt »One Man Medium«-Skoric seine Motivation, aus dem sporadischen Posten auf Nettime ein spezifisches Medienformat machen zu wollen: »Angetrieben durch das Versagen der elektronischen US-Mainstream-Medien, über den Anti-Kriegsprotest am Times Square vom 7. Oktober zu berichten, entschied ich mich, ein Media-Watch-Projekt zu starten, so wie es westliche NGOs mit kroatischen, bosnischen und serbischen Medien während der jugoslawischen Kriege getan haben. Damals glaubte man, dass die staatseigenen elektronischen Mainstream- Medien von den nationalen Regierungen verwendet wurden, um Zustimmung zum Krieg zu schaffen. Mit den Worten Noam Chomskys werden hier in den U.S. die Medien jetzt auf ziemlich genau die gleiche Weise benutzt.« Die medienanalytischen Kommentare Skorics erscheinen fast täglich und berücksichtigen Material wie die Videobotschaften Bin Ladens - den Skoric inzwischen auf das Label OBL reduziert hat. Sein Service liegt sozusagen in der kritischen Pressekommentierung.

Symbolische Verhandlungen

Der Handlungsbedarf nach S11 führte also in erster Linie zu ellenlangen Linklisten. Seit S11 gibt es ganze Handapparate voll Lesestoff zu den ökonomischen, politischen und historischen Implikationen (vgl. etwa www.bpb.de). Es wird damit ein diskursives Feld eröffnet, in dem die BetreiberInnen der entsprechenden Webseiten mit forciertem Informationsmanagement zu kämpfen haben. Auch auf der medienunabhängigen Nachrichtenseite Indymedia, die einen wichtigen Bezugspunkt für die Anti-Globalisierungsbewegung darstellt, steht die WTC- Rubrik direkt unter dem Schlagwort Genua. Seit S11 kam es innerhalb dieser Bewegung verstärkt zu Irritationen, vor allem durch den Umstand, dass es immer weniger einen klar ausgewiesenen Raum für Gegenaktionen zur U.S.-dominierten Globalisierung zu geben scheint. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, als würde nun primär eine bestimmte symbolische Raumordnung in den Vordergrund rücken - die der kulturellen Codes. »No Logo«-Autorin Naomi Klein bemerkte dazu, dass sich die »Symbole des Kapitalismus in einer schrecklich veränderten semiotischen Landschaft wieder finden« (vgl. ihr »Signs of the Times« auf http://www.thenation.com/doc.mhtml?i=20011022&s=klein). Die Rekontextualisierung, die Image-Wars, die subversiven Aneignungen der Anti- Globalisierungsbewegung müssten sich jedoch von den Verhandlungen auf symbolischer Ebene verabschieden, um an Durchsetzungskraft zu gewinnen. Klein legt damit nahe, dass ungeachtet der politischen »Rückschläge« von S11 weiterhin dringend nach sozialen und ökonomischen Alternativen gesucht werden muss. Für den Netz-Betrieb bedeutet dies unter anderem, dass vermutlich bald neue Aktivitäten über Mailinglisten und Websites vorbereitet und das Medium damit wieder gemäß seiner primären Vorzüge verwendet werden wird: nämlich neue Aktionspotenziale inmitten verwirrender Informations- und Gerüchtexzesse auszuloten.