Heft 4/2001 - Netzteil
Eine zufällige Begegnung im Zug, wenige Wochen nach dem Anschlag auf das World Trade Center: Eine seit Jahrzehnten in Österreich lebende Tunesierin preist die Vorzüge der laizistischen Orientierung des tunesischen Staates, ereifert sich über grassierende Verschwörungstheorien und die mangelnde Rationalität in den laufenden politischen Debatten, um dann bruchlos von »dem« Medienskandal dieser Tage zu sprechen. Alle wüssten es, nur die westlichen Medien offenbar noch immer nicht - oder noch schlimmer: Sie verschweigen es. 4.000 Juden seien am 11. September nicht zur Arbeit in den Twin Towers erschienen, nur die selbstverständlich mehrheitlich jüdischen Reporter seien Minuten nach dem Anschlag zur Stelle gewesen - ganz so, als ob sie davon schon vorher vom Auftraggeber des Anschlags, dem israelischen Geheimdienst Mossad, informiert worden wären.
Am 17. September wird dieses Konstrukt laut eines »Spiegel«-Artikels von dem libanesischen Fernsehsender Al-Manar, der sich auf seiner Homepage zur »psychologischen Kriegsführung gegen den zionistischen Feind« bekennt, in die mediale Umlaufbahn gehievt. Später findet es sich in der US-Netzzeitung »Information Times« wieder und pflanzt sich in unzähligen Email-Versionen fort. Am 18. Oktober schließlich zitiert das US-amerikanische Magazin »Newsweek« eine von Gallup International durchgeführte Umfrage in Pakistan: 48 % der Pakistanis glauben demnach, dass Israel hinter den Anschlägen auf das World Trade Center steht. 25 % glauben an eine inneramerikanische Verschwörung, 12% halten Osama Bin Laden für den Auftraggeber der Anschläge.
So kann Massenskepsis in Massenglauben umschlagen. Der neu bekräftigte Glaube basiert paradoxerweise auf massentauglich gewordenem Misstrauen, dem »Verdacht«, wie der Kunsttheoretiker und Philosoph Boris Groys den Antrieb nennt, der uns die mediale Zeichenproduktion hinterfragen lässt. »Don`\'t trust anybody!« heißt es nicht nur in der »Akte X« und bei Descartes. Dieser fundamentale Verdacht geht über den mittlerweile geläufigen Zweifel an der Abbildfunktion medialer Bilder weit hinaus. Er richtet sich weniger auf manipulative oder propagandistische Techniken, auf Fragen der Simulation oder Wahrhaftigkeit von Bildern und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit, sondern auf das, was in den Bilderzählungen nie vermittelt werden kann: auf die verborgenen Motive und Hintergründe ihrer Produktion. Warum werden wir wann welchem Bild, oder allgemeiner, welchem Zeichen ausgesetzt?
Die Anschläge vom 11. September bieten einen paradigmatischen Projektionsraum für die Verschwörungstheorie, »die einzige Theorie, die unser reales Verhältnis zur medialen Welt beschreibt« (Boris Groys). Warum? Mehrere Kriterien erscheinen hier relevant: der Überraschungseffekt (die Anormalität, die normalisiert werden muss), die Dimension des Schreckens (je erschütternder die Tat, desto glaubwürdiger scheint der paranoide Blick auf den Ausnahmezustand), die dem Terror notwendig innewohnende Medialität (ohne Medienverbund wäre er nicht mehr als ein gewöhnliches Verbrechen).
Zunächst ist in Erinnerung zu rufen: Die Attentate trafen die Weltöffentlichkeit völlig unvorbereitet. Heute, nachdem die Maschinerie der Interpretationen läuft und das Schockhafte des Ereignisses verdaut erscheint, ist dieser Überwältigungseffekt längst verpufft. Niemand spricht mehr ernsthaft davon, dass nach dem 11. September alles anders geworden sei. Gerade das zunächst Unfassbare des Terrors aber machte wahrscheinlich den Schwall an nachträglichen Rationalisierungsleistungen und Deutungen auf der Basis von Verschwörungstheorien sinnfällig. Hinzu kommt, dass die Bilder der brennenden Wolkenkratzer Medien-Ereignisse par excellence darstellen, in denen mediale Inszenierung mit dem viel zitierten »Einbruch des Realen« zusammenfällt. Die eigentümliche Spannung von schockhafter Monstrosität, der scheinbar unmittelbaren Evidenz der Bilder und der allzu raschen Schuldzuweisung an die 19 Attentäter begünstigt jene Lesarten, die zumindest vorgeben, mit der kollektiv empfundenen Komplexität der Welt, die sich ja tatsächlich hinter der schieren Tat verbirgt, und einer spätestens seit dem Golfkrieg mainstreamtauglich gewordenen Medienskepsis Schritt halten zu können. An dieser Stelle bietet sich der paranoide Blick als der einzig kritische und nicht manipulierte an. Er vertraut nicht der offiziellen Sprache der Macht, die immer lügt, sondern untersucht sie systematisch nach ihren Fehlleistungen. Die Arbeit der parawissenschaftlichen Verschwörungstheorie erinnert daher sowohl an die Spurensuche des Detektivs wie auch an die des Psychoanalytikers, beides Professionen, die auf Autonomie und Unbestechlichkeit pochen.
Die vielfältig wuchernden Verschwörungstheorien haben zumindest eines gemeinsam: Sie sehen in singulären Ereignissen weniger Brüche als Kontinuitäten, als Fortsetzungen der immer schon ablaufenden Verschwörung mit anderen Mitteln. Deshalb kommt die Mär von den 4.000 nicht zur Arbeit erschienenen Juden nach wenigen Wochen wieder in dem ideologischen Raum an, der sie erzeugt hat. Deshalb fallen viele andere in den ewig gleichen Dogmatismus zurück, der die Wahrnehmung gegen die Wirklichkeit abdichtet: Der Übervater CIA/Pentagon/Mossad/USA/Israel selbst war es, weil er es immer schon war, nur die Opfer wechseln. Dieses Mantra der Selbstviktimisierung ist, wie die Verbreitungsformen der paranoiden Legenden über den 11. September nahe legen, nicht nur von institutionalisierten, hierarchischen Medien, sondern vor allem von der dezentralen Kettenbrief-Demokratie des Internet verstärkt worden. In gewisser Weise ist das Internet in seinem unendlichen Verweischarakter sogar das Leitmedium der Verschwörungstheorie schlechthin: Es gibt immer noch einen Link dahinter. Die Wahrheit ist immer da draußen - im Netz.
Und noch etwas zeigt das Netz: Die Popularisierung von Paranoia muss nicht zwangsläufig, wie manchmal mit Hinweis auf Analphabetismus, mangelnde Bildung oder unterentwickelte Medienfreiheit etwa in Pakistan argumentiert wird, einem von oben verordneten Verblendungszusammenhang geschuldet sein, der die AdeptInnen immer auch zu Opfern ihrer medialen Inkompetenz degradiert. Sie kann auch Resultat eines zynischen Bewusstseins sein. Mit Zizek könnte man behaupten: Sie wissen, was sie tun, und sie tun es trotzdem.
Kompliziert wird die Angelegenheit allerdings dadurch, dass tatsächlich allerorten Verschwörungen im Spiel sind. Höchstwahrscheinlich waren auch die mutmaßlichen El-Quaida-Attentäter Teil einer solchen. Ganz sicher sogar arbeitet die CIA in eben diesem Moment eine andere aus. »Die Frage ist nicht, ob du paranoid bist, sondern ob du paranoid genug bist«, meint Thomas Pynchon. Dessen virtuose Darstellung der Hermeneutik als paranoide Kunst über tausende Seiten weist auch auf die prinzipielle Unabschließbarkeit einer subversiv gewendeten verschwörungstheoretischen Weltwahrnehmung hin. Heute, da sich viele Menschen in einer Art ideologiefreiem Schwebezustand wähnen, in dem »politische Präferenzen und Entscheidungen eigentlich bedeutungslos und praktisch unmöglich sind«, so die Politologin und Paranoia-Forscherin Jodi Dean in einem allerdings vornehmlich auf die USA gemünzten Befund, erscheint die Anfälligkeit für mehrheitsfähige paranoide Konstruktionen größer denn je. Produktive Wissensformen können daraus wohl nur dann entstehen, wenn der darin artikulierte, vorgebliche Befreiungsakt von ideologischer Indoktrinierung, wie etwa in den Fiktionen Pynchons, einen notorisch nomadischen Charakter beibehält und sich gegen eine Verpflichtung auf neue (alte) Gewissheiten sperrt.