Heft 1/2002 - Netzteil
Angesichts des momentanen Trends zur Hyperrealität digitaler Räume fällt die australische Künstlerin Melinda Rackham positiv auf: Ihre netzbasierten Arbeiten, in denen sie fremd und abstrakt anmutende, von der Realität scheinbar losgelöste Zonen schafft, sind Fantasien und Modelle von Identität und Subjektivität im vernetzten Raum. In den letzten Jahren gewann sie verschiedene Preise, so den Preis des Stuttgarter Filmwinter 2001 für ihr 3D-Multi-User-Environment »empyrean« und den Leonardo New Horizons Award 2000 für »[carrier]«
In den frühen Fantasien über den Cyberspace Anfang der neunziger Jahre stand stets das Thema Entkörperlichung im Zentrum der Diskussion. Die Arbeiten von Melinda Rackham nehmen eine andere Perspektive ein: Es geht weniger um das Verschwinden des Körpers und den Sieg der Intelligenz über das Fleisch als um neue Formen der Verkörperlichung, wenn auch jenseits gewohnter Körper- und Subjektbilder. Vielmehr begegnen wir »niederen« Lebensformen, abstrakten, aufgelöst oder zersplitterten Entitäten und Räumen, die entfernt an so etwas wie Nano-Entitäten, zelluläre Existenzen und Planeten erinnern.
Das Work-in-progress-Projekt »empyrean«, das in unterschiedlichen Versionen als Single- oder Multi-User-Arbeit existiert, besteht aus sieben verschiedenen Raum- oder Qualitätszonen, so genannten »scapes« oder »e_scapes«, in die man sich jeweils einloggen kann. Ihre bedeutungsträchtigen Namen void, order, beauty, truth, strange, chaos, charm entsprechen auch der Namensgebung von Partikeln in der Quantenphysik. Man könnte sagen, dass diese »e_scapes« - diese elektronischen Landschaften, die auch Fluchtwege sind - Körper- und Affekt-Zustände in die Sprache digitaler Codes übersetzen und verräumlichen. Jede dieser Zonen ist anders aufgebaut und besteht aus Unter- oder Nebenzonen; zum Beispiel bewegen sich in der Zone »beauty« Linien und Strahlen rhythmisch und evozieren eine Art Labyrinth oder Tiefenstruktur, in die man dennoch nicht eindringen kann, da es weder ein Innen noch ein Außen gibt. Ähnliches geschieht beim Besuch von »truth«. Hier verwandelt sich eine Art schwarz-roter Planet bei näherer Erkundung in eine Blutzelle, dann in ein Herz, in dem sich die UserInnen bewegen, in das sie aber nicht eindringen können. Sätze wie »They want to know«, »Data is active«, »Matrix is active« schwirren herum, verweigern aber letzte Antworten auf die Frage, um welche Körper und Geschlechter es sich hierbei handeln könnte. Manchmal tauchen Sätze auf wie »I am the goddess, was relativ eindeutig eine weibliche Agentin benennt. Auch unter den Avataren, die Leuchtsteinen oder Kugeln ähneln und visuell somit jeglichen Bezug zu etwas Menschlichem ausschalten, gibt es neben Pickles, Symborg oder Quincy eine Miss Fluffy. Diese verweist auf Weibliches, ohne sich mit dem Bild einer Frau kurzzuschließen. Die Kommunikation der Avatare ist noch sehr beschränkt, sie können quietschen (»squeeze«) oder ihre Oberfläche verfärben (»blush«), nur im Chat-Fenster kann man sich in Normalsprache unterhalten.
Der berückende Effekt von Rackhams utopischem »empyrean« - der Begriff verweist auf die mittelalterliche Vorstellung vom Himmelsgewölbe über der Erdplatte - resultiert aus der alles bestimmenden Fließästhetik und -metaphorik: »soft skinned e_scapes«, »hungry voids«. Alles ist in permanenter Transformation und Unbestimmtheit - eine Weichheit und Körperlichkeit, die jedoch auf keine bestimmten Körper schließen lässt. Vielmehr bewegt sich das Dargestellte jenseits oder unter dieser Signifkationsschwelle. Weil aber diese Fließästhetik auf Basisfantasien von Weiblichkeit rekurriert und dieses Moment durch die geschlechtsspezifischen Namen einiger AgentInnen noch verstärkt wird (Wörter wie goddess oder Miss Fluffy haben keine männlichen Entsprechungen), wird man den Eindruck nicht ganz los, dass das »emyprean« unbestimmt weiblich ist.1 Ob es sich hierbei um die altbekannte Festschreibung von Weiblichem als utopisch-fließende Entität handelt oder ob damit gerade auch gespielt wird, um Frauen als AgentInnen spezifisch zu adressieren, muss hier offen gelassen werden.
Ein/e Überträger/in sein
Der Körper als dynamischer Informationsstrom, als Molekül, Virus, intelligent agent, als fluides Geschlecht jenseits der Geschlechtsdichotomie, das dennoch eher weiblich zu sein scheint - dies ist auch die Körper- und Subjektvorstellung, die Melinda Rackham in »[carrier]« inszeniert, einer Netzarbeit aus dem Jahr 1999. Das Virus wird als »sHe« benannt, das heißt als ein Wesen, das beide Geschlechter gleichzeitig und dennoch möglicherweise eher universell weiblich ist, weil das »s«, das Weiblichkeit markiert, im Wort »sHe« enthalten ist und ausgesprochen wird, während das große »H« stumm bleibt. Dass es tendenziell eine »Sie« ist, zeigt sich auch in den darauf folgenden femininen Personalpronomen wie etwa »her swarming consciousness«.
Rackham ist, wie man erfährt, Trägerin (Carrier) des Hepatitis C-Virus, mithin nach der allgemeinen Auffassung eine mit einem Fremdkörper Infizierte. In »[carrier]« ist das Virus ein intelligent agent, das die UserInnen begrüßend umarmt und erotisch-zärtlich sprechend durch die Website führt. Die Infektion wird inszeniert als Moment der Lust, der Vermischung mit dem/der anderen; es kommt zu einem Körper- und Identitätstransfer, bei dem man sich in die Position eines/einer »Kranken« begibt. Mit anderen Worten: Hier ist - auch wenn es als Akt der Liebe und der Schönheit erscheint - ein Moment des Niedergangs und Verfalls impliziert: Virus-Werden, Krank-Werden, Multipel-Werden.
Auf dieser Reise begegnet man abgewandelten Modellen viraler Symbiose, die in die innere Welt der Immunologie führen. Man klickt sich in E-Mail-Berichte anderer Infizierter ein, die von ihren täglichen Erfahrungen, Begrenzungen und Ängsten erzählen. Ein seltsam paradoxer Zustand wird dabei erreicht, der sich zwischen dem Liebesdiskurs mit dem Virus, den fluid-berückenden Bildern und den erschütternden Aussagen Betroffener auftut. Fragen stellen sich wie: Was heißt es, ein/e TrägerIn zu sein? Was heißt es, eine Symbiose mit etwas eingegangen zu sein, das Teil von dir ist und gleichzeitig gegen dich, gegen deine Moleküle arbeitet? Entgegen herkömmlichen Darstellungen des infizierten Körpers als Schlachtfeld und des Virus als feindlichem Angreifer wird in »[carrier]« evident, dass der vermeintlich »eigene« Körper immer schon offen und voller Fremdkörper, mithin keine feste Entität, sondern mutierender, kommunizierender Datenstrom ist. Kranksein heißt in diesem Fall, dieses Offensein, Mutierende, Vernetzte und Prozesshafte des Körpers und der eigenen Körperidentität intensiv zu erleben; es heißt, diesen Zustand des Werdens als lebendigen zu bejahen, sich umarmen zu lassen und Lust darin zu finden, »markiert« zu sein.
Die Bedeutung, die dieser »Markierung« zukommt, verweist wiederum auf die Bedeutung von Differenz und Zugehörigkeit und damit auch auf die Geschlechterdifferenz als Grundkategorie für existentielles Sein. Sowohl in »[carrier]« als auch in »empyrean« ist zwar der Geschlechterdualismus, nicht aber die Frage nach Differenzen und nach dem Geschlecht aufgelöst. Es entsteht sogar der Eindruck, als ob Weibliches einen privilegierten Zugang zu neuen Formen einer entsubjektivierten, »niedrigen« Existenzweise hätte, in der Subjekt und Molekül, Matrix und Körper sich einander annähern können.
1 Dass Fließen kulturell mit Weiblichkeit assoziiert wird, haben Klaus Theweleit und Elisbeth Grosz eindrücklich aufgezeigt. Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt am Main 1995 (1977), Elisabeth Grosz, Volatile Bodies: Toward a Corporeal Feminism. Bloomington and Indianapolis 1994.