Heft 2/2002 - Nahost
Auf Anregung von springerin trafen sich vier libanesische Künstler und Intellektuelle in Beirut zu einem Roundtable-Gespräch, das hier in Auszügen abgedruckt ist:
Walid Sadek, Karl Sharro, Tony Chakar und Bilal Khbeiz
nehmen Stellung zu den unterschiedlichen Positionen zum Israel-Palästina-Konflikt, wie sie sich im Gefolge des Libanonkriegs auf libanesischer Seite entwickelt haben; zum komplexen historischen Status der PalästinenserInnen innerhalb der Region; sowie zu unterschiedlichen Befreiungsszenarien, die dieser Komplexität Rechnung tragen.
Walid Sadek: Im Zuge der Entwicklungen in Palästina kommt es mir dieser Tage so vor, als würden viele Vorstellungen in Frage gestellt werden, die wir für wahr halten. Vorstellungen, die wir für schlüssig, ja sogar selbstverständlich gehalten haben, scheinen jetzt erschüttert und veraltet. Dementsprechend möchte ich eine erste annähernde Formulierung dessen anbieten, was in Zukunft als die »Vorstellungen der Besiegten« verstanden werden konnte.
Es konnte dies ein kritischer Augenblick sein, an dem die Werkzeuge der Kritik neu bewertet werden sollten und man noch einmal die Anstrengung unternehmen sollte, nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Wir scheinen hier im Libanon etwas außer Atem zu sein. Wir haben monatelang versucht, die syrische Präsenz im Libanon zu hinterfragen. Wir haben den Ton und den Nachdruck der Kritik an diesem arabischen Nachbarstaat verschärft. Wir haben die Palästinenserinnen in ihrem jüngsten Kampf gegen die israelische Besetzung genau beobachtet. Wir haben versucht, irgendeinen Weg zu finden, um Verantwortung übernehmen zu können, einen Weg, der nicht die Auswirkungen der Ereignisse auf die lokale libanesische Politik widerspiegelt. Nach all dem stehen wir heute etwas verwundert und verwirrt vor der immer wahrscheinlicher werdenden Möglichkeit eines palästinensischen Staates und zugleich vor dem beeindruckenden Widerstand jener Männer und Frauen, deren Leben plötzlich unersetzlich erscheinen.
Indem sich das Projekt eines palästinensischen Staats, der eben auf Opfern gebaut ist, nun stärke abzeichnet, drängt sich den Beteiligten sowie den BeobachterInnen ein wichtiges Detail auf Der palästinensische Staat bedeutet nicht nur das Ende einer rücksichtslosen israelischen Besatzung, sondern auch - vielleicht noch wichtiger - den unwiderruflichen Eintritt in die Weltgemeinschaft. Genau das ist aber in den angrenzenden arabischen Staaten normalerweise umgekehrt, dieser Eintritt wird gewöhnlich auf Kosten der Abwesenheit jener Individuen erreicht, die ihre individuelle Präsenz in der Welt in einem erzwungenen Exil suchen müssen, ob dieses nun physisch und real oder intellektuell und innerlich ist. Im erzwungenen Exil finden sich diese Individuen oft in einer Tradition wieder, die das Individuum in erster Linie als Subjekt in Bezug zu Gott versteht. Und eine der Folgen dieser Subjektposition ist, sich langsam von der Welt loszulösen und das Leben als temporären Übergang zu sehen, und zwar mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel, die hochmütig zum Ausdruck bringt, dass die Welt verändert werden muss.
Mit einigen ihrer Opfer haben es die PalästinenserInnen geschafft, den Staat als Zustand mit dem Zustand des Individuums in seiner Unschuld zu verbinden. Obwohl man sich vor Mystifikationen hüten muss, kann man sagen, dass die WiderständlerInnen in Jenin starben, noch bevor sie als MärtyrerInnen ausgerufen wurden. Und das ist der entscheidende Unterschied. Ihr Tod wurde nicht nur als Ereignis wahrgenommen, das der weltweiten Aufmerksamkeit wert ist, sondern auch als Tod, der unvermeidlich war. Damit wurde das Ereignis zum Massaker. Und in der heutigen Welt muss man erst massakriert werden, um von der internationalen Gemeinschaft als menschlich anerkannt zu werden. So verhält es sich nicht nur mit der Gewalt und der Ironie der Weltpolitik, sondern das ist auch der entscheidende Unterschied, den Jenin bedeutet. Diese PalästinenserInnen starben als Individuen und damit unschuldig - ein Attribut oder eine Zuschreibung, auf die bislang die Israelis ein exklusives Monopol hatten, die darauf beharren, individuelle BürgerInnen einer Nation mit einer »Verteidigungsarmee« (!) zu sein. Wenn Jenin nach der letzten Welle des ungleichen Kampfs als Beweis erscheint, dass ein Staat Palästina vor der realrechtlichen Gründung steht, dann kündet das auch vom Staat als Garant der Menschlichkeit der Bewohnerinnen und deren Möglichkeit zu sterben, bevor sie noch zu MärtyrerInnen gemacht werden.
Wenn ich von Unschuld spreche, meine ich natürlich nicht eine Art apriorischer religiöser oder vager menschlicher Unschuld. Die Unschuld, die ich meine, ist, einfach gesagt, ein Ideal, zu dem jene keinen Zugang haben, die sich für das Leben im Diesseits entscheiden. Die Welt zu betreten, bedeutet gleichzeitig die Unschuld aufzugeben, die allein jenen gehört, die ausschließlich »außerhalb« der Welt leben, das heißt, jenen, die das Leben als lästiges und ermüdendes Eintauchen in die Materie dieser Welt und den Tod als euphorische Befreiung betrachten, die sich mit keinem Leben vergleichen lässt. Tatsächlich entzieht sich diese Art Unschuld der Welt, obwohl man gerechter Weise zugeben muss, dass die Welt, in der wir leben, trotz aller notwendigen Kritik an dieser religiösen Unschuld unfair, ja sogar niederschmetternd ist.
Die Unschuld, die ich hierzu beschreiben versuche, ist eine, die die PalästinenserInnen mit dem Staat als Zustand verbunden haben. Es ist nicht nur eine rechtliche Unschuld, sondern auch ein individualisierender Faktor, durch den wir unsere Individualität und unsere Teilhabe an dieser Welt erlangen. Diese Unschuld erlaubt uns, in dieser Welt zu arbeiten und ihre Geschichte zu konstruieren. Einem solchen Individuum das Leben zu nehmen, ist eine Überschreitung und eine Herabsetzung seiner ganzen Menschlichkeit. Diese Unschuld gibt dem Individuum das Recht, seinen eigenen Anfang zu setzen und neu zu beginnen, wie es ihm beliebt (obwohl sie ihm nicht das Recht gibt, sich der Welt zu entsagen). Dieser Unschuldsbegriff umreist einen wichtigen Wechsel in den menschlichen Gesetzen, die ja zu »Spielregeln« geworden sind. Dieser Wechsel markiert eine Abkehr vom früheren rechtlichen Rahmen, der zwar die menschlichen Belange geordnet und reguliert, die Störenfriede und GesetzesübertreterInnen aber bloß ausgeschlossen hat. Was das Gesetz/Spiel betrifft, baut dieser rechtliche Rahmen auf die zustimmende Beteiligung an den Prinzipien des Spiels und seinen internen Abrechnungen und Bilanzen. Denn das moderne Gesetz kann nach Hannah Arendt nur jenes Eigentum schützen, das sich zuvor ein/e Verbrecherin angeeignet hat. In Palästina ist ein/e Widerständige/r jedoch immer ein/e Terroristin und sonst nichts, und darf also weder Eigentum besitzen noch ein Leben oder gar eine Meinung haben. Der Tod - oder besser Märtyrertod - wird ihm oder ihr als Gnadenakt für ein unauslöschlich falsches Leben angeboten. Deshalb muss man an diesem Punkt fragen, warum wir uns scheinbar selbst aus diesem Land verbannen, wenn wir
eine weltliche Demokratie fordern.
Karl Sharro: Der Fall Palästina erzeugt intensive Gefühle unter den Libanesinnen, die von Sympathie und Verständnis bis zu Misstrauen und Feindseligkeit reichen. Diese Gefühle drücken sich verschiedenartig aus, nicht nur auf der Ebene der alltäglichen Gespräche, sondern auch im öffentlichen Sprachgebrauch und in politischen Äußerungen, die eine scharfe Trennlinie zwischen den libanesischen Gesellschaftsgruppen offenbaren. Das zeigt, dass diese Gruppen noch immer keinen gemeinsamen Diskurs formulieren können, der auf den Erfahrungen des Bürgerkriegs und der Nachkriegszeit mit ihrer gemeinsamen libanesischen Beurteilung und mit einem gemeinsamen Ausblick beruht.
Diese Gefühle und Ausdrücke von Sympathie bis hin zu Feindseligkeit stehen mit zwei unterschiedlichen Einstellungen gegenüber den PalästinenserInnen und ihrer Sache in Verbindung. Während die eine noch die Denkweise des Bürgerkriegs fortsetzt, drückt die andere die unterschiedlichen kulturellen Identitäten der einzelnen libanesischen Gesellschaftsgruppen und die Art und Weise, in der diese Gruppen ihre Identität gegenüber der palästinensischen konstruieren, aus.
Abgesehen vom offensichtlichen Widerspruch zwischen Sympathie und Feindseligkeit im libanesischen Diskurs über die Palästinenserinnen gleichen sich diese Einstellungen darin, dass sie die Palästinenserinnen meist »abstrakt« betrachten und sie so auf eine fixe Identität reduzieren. Sie kennen keinen anderen Sinn für deren Existenz. Das führt dazu, dass die Palästinenserinnen oft entmenschlicht werden, und zwar nicht nur dadurch, wie sie wahrgenommen und eingeschätzt werden, sondern auch dadurch, wie mit ihnen gesellschaftlich und politisch umgegangen wird.
Eine vorherrschende Einstellung sieht die Palästinenserinnen als Vorhut im Kampf gegen Israel, das als Teil jenes westlichen Schemas wahrgenommen wird, dessen Ziel die Aufrechterhaltung eines Brückenkopfs in diesem Teil der arabischen Welt zu imperialistischen Zwecken ist. Dieses vereinfachte Verständnis des Zionismus und seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen verwandelt die Palästinenserinnen in Verteidiger der arabischen und islamischen Symbole, die sich geografisch innerhalb Palästinas befinden, und weist die wichtigste Bedeutung der palästinensischen Identität dieser Schutz- und Verteidigungsfunktion zu.
Diese Verteidigungsfunktion geht von einer fast mythologischen Dimension aus, die mit den verschiedenen Ausdrucksweisen der palästinensischen Identität korreliert. Folglich wird jeder Versuch, andere politische oder kulturelle Ausdrucksweisen dieser Identität zu finden, als unwichtiger als diese Hauptfunktion angesehen und kann somit diskreditiert oder misstrauisch betrachtet werden. Das Projekt, auf einem Teilgebiet des historischen Palästina einen unabhängigen palästinensischen Staat zu errichten, was die Palästinenserinnen zu Bürgerinnen ihres eigenen Landes machen würde, wird dann als Kompromiss angesehen, der mit den mythologischen Anforderungen der palästinensischen Identität unvereinbar ist.
Der Begriff des Märtyrertums ist ein Ausdruck dieser weit verbreiteten Haltung gegenüber den Palästinenserinnen. Jedes palästinensische Opfer wird als »Shaheed« oder Märtyrerin bezeichnet, auch wenn er oder sie ohne absichtliche Teilnahme am Konflikt getötet wurde.
Die absichtlichen Märtyrerinnen, die »lstishhadi« erlangen einen noch höheren Status. Damit wird der Tod als erwünscht angestrebt und nicht mehr als das Scheiden aus dem Leben, sondern als dessen Höhepunkt angesehen. Dieser Ansicht nach sind alle Palästinenserinnen lebende Märtyrerinnen, deren Lebenszweck nur durch das Märtyrertum erfüllt werden kann. Folglich gelten alle Versuche, andere existentielle Mechanismen für das palästinensische Individuum zu formulieren, als häretisch.
Eine weitere Haltung unter den Libanesinnen ist zum Teil eine Erweiterung der Trennungen des Bürgerkriegs, in den auch bewaffnete palästinensische Organisationen verwickelt waren. Sie hängt auch damit zusammen, wie die libanesische Identität historisch entstanden ist.
Diese Haltung drückt nicht nur die Feindschaft gegenüber den Palästinenserinnen aus, sondern auch Herabsetzung, indem sie ein moralisches Modell benützt, das vereinfachende Versionen von Geschichte, Kampf und Identität der Palästinenserinnen reproduziert, die dann auf einer absolutistischen moralischen Grundlage verurteilt werden können. Demnach wird den Palästinenserinnen unter anderem vorgeworfen, ihr Land absichtlich verlassen zu haben, um andere Länder an unterschiedlichen Orten gründen zu wollen, was zu vereinfachenden Lesarten führt.
Diese feindliche Haltung hängt mit einer speziellen Vorstellung vom Libanon als Nation oder Schutzraum zusammen, in dem unterdrückte Minderheiten Zuflucht vor feindlichen Mächten finden können. Diese Idee gründet sich auf historische Migrationen von Minderheiten in den Libanon, um dem Libanon eine mythische Rolle als Schutzpatron der Unterdrückten zuzuweisen. Die libanesische Identität wurde in der Folge durch diese Rolle gestärkt, die den Libanon von seinen Nachbarländern unterscheidet. In dieser Idee des Libanon als Nation/Schutzraum wird die Bindung an das Land zur Tugend und einer libanesischen Grundeigenschaft.
Folgt man dieser Idee, werden die oberflächlichen Widersprüche zwischen Libanesinnen und Palästinenserinnen evident. Erstens haben die PalästinenserInnen ihr Land angeblich leichtfertig aufgegeben, während die Libanesinnen das ihre historisch verteidigt haben. Demnach wären erstere letzteren moralisch unterlegen. Zweitens heißt es, die Palästinenserinnen hätten die Libanesinnen aus ihrem eigenen Land zu vertreiben versucht, um im Libanon einen anderen palästinensischen Staat zu gründen.
Diese spezielle Interpretation des Libanonkriegs ist immer noch weit verbreitet. Demgemäß scheiterten die palästinensischen Versuche am gerechten libanesischen Widerstand, der alle angewandten Mittel rechtfertigte. Nebenbei bemerkt, hat diese Wahrnehmung bis jetzt jedes Hinterfragen der Gräueltaten während des Bürgerkriegs verhindert und auch die notwendige Aufarbeitung verschoben, welche moralischen Verantwortungen die unterschiedlichen Gruppen dafür zu tragen haben.
Die feindliche Haltung gegenüber den PalästinenserInnen gründet sich also nicht nur auf deren Beteiligung am Bürgerkrieg, sondern auch auf die vermeintlich unterschiedlichen Merkmale der konstruierten palästinensischen und libanesischen Identität. Nicht zufällig gab es ungefähr zur Zeit der ersten Intifada die ersten Zeichen von Sympathie für die Palästinenserinnen unter denen, die sie traditionell als Eindringlinge sahen.
Das allein reichte und reicht noch immer nicht aus, um den Palästinenserinnen die Sympathie aller LibanesInnen zu sichern. Wie konnten wir diese Einstellung erklären, wo doch die Palästinenserinnen ihre Kampftaktik geändert haben, was dem libanesischen Volk die palästinensische Identität vorteilhafter erscheinen ließ?
Eine Antwort auf diese Frage findet man in einem anderen Teil der libanesischen Identitätskonstruktion, nämlich in der Idee des Libanon als buchstäbliche und metaphorische Oase. Nach dieser Idee wird die libanesische Identität auf Grundlage der für den Libanon im Gegensatz zu seinen Nachbarländern entscheidenden geografischen, sozialen und kulturellen Merkmalen untermauert. Dieser Mythos wurde teilweise als Abwehrmechanismus gegen das Eindringen der überwältigenden arabischen Identität verwendet, die den Libanon ständig zu verschlingen drohte. Die Wahrnehmung der PalästinenserInnen als Teil dieser arabischen Identität und nicht als ein Volk mit eigener unabhängiger Identität erhält die Feindlichkeit in einem Bevölkerungsteil der LibanesInnen immer noch aufrecht und verhindert andere mögliche Haltungen.
Wie dem auch sei: Sowohl die palästinenserfreundliche als auch die palästinenserfeindliche Einstellung wurde seit dem Beginn der Intifada anhaltend in Frage gestellt. Die Ausformung und Bekräftigung der palästinensischen Identität sowie ihr Neuerscheinen als Nationalidentität erschüttert diese schon lange bestehenden Haltungen. So entsteht ein genuines Verständnis in Bezug auf die Art und Weise, wie die palästinensische Identität entstanden ist. Das wird uns - hoffentlich - eine Lehre dafür sein, wie man auch die libanesische Identität neu formen konnte, indem man sich nämlich um die Realität kümmert und nicht um Mythen.
Können Sie also ausmachen, ob und wie sich diese sehr beschränkte und oft missverstandene Solidarität oder zumindest diese komplizierte Verwicklung mit den Palästinenserinnen in ein dauerhaftes Engagement verwandeln kann, auf das man wird aufbauen können?
Tony Chakar: Nach den Vorfällen im Lager von Jenin entschied sich die Universität, an der ich unterrichte, den Studentinnen den Nachmittag frei zu geben, damit sie an einer Demonstration für das palästinensische Volk teilnehmen könnten, wenn sie wollten. Das war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeentscheidung, liegt doch die Universität mit über ihren 8o % christlichen Studierenden in einem »christlichen Vorort« von Beirut. Außerdem ist sie eine Kunstakademie - die erste im Libanon und wahrscheinlich die politisch konservativste. Gleichzeitig mit dieser Entscheidung gab es während der Frühvorlesung eine hitzige Diskussion, in der einige Studentinnen scheinbar lange vergessene Ängste zum Ausdruck brachten: »Warum sollten wir ihnen helfen? Haben nicht sie den Krieg begonnen und damit den Libanon ruiniert?« Man horte aber auch: »Unser Land ist doch auch unter Besetzung! Kümmern wir uns doch zuerst um unsere eigenen Probleme!«, und so weiter. Und wirklich, warum sollten »wir« »ihnen« helfen? Andererseits muss man sich fragen, warum jedermann und jedefrau im Libanon eine Meinung über die Ereignisse in Palästina hat. Wegen der geografischen Nähe? Wegen dem Libanonkrieg und der Verwicklung der Palästinenserinnen darin? Aus Sorge um unsere »arabischen Brüder«?
Der Kampf zwischen Arabern und Israelis ist nicht neu, und es wurden bereits zahlreiche Gründe vorgebracht, um das Unerklärliche zu erklären.1975 zog der Libanon wegen genau dieser Frage gegen sich selbst in den Krieg: Sollen wir uns aus dem Nahostkonflikt heraushalten und unsere wertvolle Zeit lieber darauf verwenden, mehr Geld zu verdienen und unseren Wohlstand zu genießen, oder sollen wir an der Seite der PalästinenserInnen an der Front kämpfen? Alle Probleme und Trennlinien innerhalb des Landes schienen sich um dieses Thema herum zu kristallisieren. Und auch nach i Jahren Krieg, einer israelischen Invasion und zehn Jahren Frieden haben sich die LibanesInnen immer noch nicht entschieden. Ich weiß selber noch immer nicht, warum ich Magenkrämpfe bekomme, wenn ich israelische SoldatInnen einen weiteren palästinensischen Zivilisten zusammenschlagen und demütigen sehe, und warum ich emotional überwältigt bin, wenn ich vom heldenhaften Widerstand im Lager von Jenin höre. Vielleicht sind es die gebrochenen Knochen - eine existenzielle Frage also, wie sie Sartre (zitiert von Adorno) gestellt hat: »Hat das Leben irgendeinen Sinn, wenn es Menschen gibt, die andere prügeln, bis ihnen alle Knochen im Körper brechen?« Kann also die Unterstützung der palästinensischen Sache dem Leben einen Sinn geben? Ist es das?
Die libanesische Linke der sechziger und siebziger Jahre hatte eine klare und einfache Antwort: Wir sind EINE [arabische] Nation, wurden durch die imperialistischen Kolonialmächte in künstliche Länder mit künstlichen Grenzen geteilt, und zwar von denselben imperialistischen Kolonialmächten, die auch Israel als kolonialen Vorposten errichteten, um die Trennung der arabischen Nation weiter voran zu treiben. Die Islamisten ersetzen »Araber« durch »Moslem« und »Nation« durch »Ummah« und so weiter. Wer hat gesagt, dass das Leben kompliziert sein soll? Aber ist es nicht dieser Mangel an Komplexität, der dazu geführt hat, alle palästinensischen Flüchtlinge als «Kampfmasse» zu verstehen, deren Existenz sinnlos wird, wenn sie nicht in einem permanenten Zustand der Revolution und des Kriegs bleiben? Ist nicht DAS die tiefere Ursache, warum man all jene Palästinenserinnen als Verräterinnen betrachtet, die im heutigen Israel geblieben sind, nur um ein normales Leben zu führen? Ist es nicht das, was zu den entsetzlichen Bedingungen der palästinensischen Bevölkerung in den Flüchtlingslagern geführt hat? Und ist es letztlich nicht scheinheilig, ja sogar feige, die Palästinenserinnen als »Treibstoff« für eine totale arabische Revolution missbrauchen zu wollen, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemals stattfinden wird? Nach dem Ausschließungsprinzip können wir also die Theorie streichen, dass »wir alle Araber sind«. Sie funktioniert nicht mehr und hat, genau betrachtet, auch niemals funktioniert. Und die PalästinenserInnen sind sich dieser Tatsache am genauesten bewusst. Warum also sollten wir ihnen dann helfen? Weil wir in ihrer Nähe leben? Na und? Zypern liegt auch in unserer Nähe, und niemand hier weiß, was dort los ist. Israel liegt noch näher, aber wir werden wohl länger warten müssen, um Leute in den Straßen Beiruts aus Sympathie für israelische Zivilistinnen demonstrieren zu sehen.
In Zeiten wie diesen wäre ich am liebsten ein Palästinenser. Dann wüsste ich eine Antwort: Wir kämpfen oder wir sterben. Keine Alternativen. Wir - das heißt, der Rest in dieser Region, der weder das Privileg eines Europäers hat, der die palästinensische Sache aus humanitären Gründen unterstützt, noch das eines pan-arabistischen oder islamistischen Spinners, der sein Mantra seit Jahrzehnten wiederkäut - wir tun, was wir können und kämpfen mit unseren Fragen. Vielleicht wird uns ein Anflug von Wissen retten. Des Wissens nämlich, dass alles irgendwie zusammenhängt. Dass sich alle Probleme der Levante um die palästinensische Sache drehen: von der Beschlagnahme aller Bürgerrechte durch das syrische Regime bis zur Besetzung des Libanon durch Syrien - alles im Namen der »strategischen Kriegsinteressen gegen den zionistischen Feind«. Die fehlende Demokratie in Israel, die israelische Invasion im Libanon und die Besetzung des palästinensischen Landes, genauso wie die merkwürdige Theorie der PLO und ihrer Verbündeten, dass die Straße nach Jerusalem durch die christliche Stadt Jounieh im Norden Beiruts führt, die Massaker von Shatila und Sabra durch die israelische Verteidigungsarmee und ihre libanesischen Verbündeten - all das hängt mit der palästinensischen Sache zusammen und lässt uns die Frage stellen, die man gar nicht stellen und schon gar nicht beantworten soll, weil »keine Stimme lauter ist als die Stimme des Kampfers«. Bei allen israelischen Gräueltaten auf palästinensischem Gebiet haben jetzt wieder die Palästinenserinnen die Richtung vorgegeben. Denn selbst inmitten des letzten Unabhängigkeitskampfs dieser Welt entschlossen sie sich, all ihre Regierungsstrukturen genau zu überprüfen und freie Wahlen abzuhalten - etwas, was die Libanesinnen nach dem Krieg in einem angeblich freien Land immer noch nicht geschafft haben, ganz zu schweigen davon, wie surreal so ein Vorschlag in Syrien oder Jordanien klingen würde, haben doch schließlich in Israel freie Wahlen auch nur einen Kriegsverbrecher an die Macht gebracht.
Am Ende scheint es, als würden wir all unsere Fehler und Mängel den Palästinenserinnen anhängen, obwohl sie alles gut zu machen scheinen - zu- mindest besser als alle anderen Völker in der Region. Das genügt, um sich die Frage zu stellen, wer denn hier eigentlich Hilfe benötigt.
Bilal Khbeiz: 1982 führten der Libanon und die PalästinenserInnen den ersten unmöglichen arabischen Krieg. Sie führten einen Krieg, der nicht stattfand, denn selbst als eine arabische Hauptstadt besetzt wurde, hörte man nichts außer einer jämmerlich beflissenen Reaktion auf die Massaker von Sabra und Shatila. Der wortgewaltigste Kommentar kam noch aus Syrien, das mit dem Libanon eine Grenze gemeinsam und damit die weitläufigste Kontrolle über sein »Schicksal« hat. Syrien beschuldigte die
palästinensischen Kämpfer, ihr Volk schutzlos in den Lagern zurückgelassen zu haben, um dort wie Schafe abgeschlachtet zu werden.
Die Besetzung einer arabischen Hauptstadt hinterließ kaum Spuren. Einige Libanesinnen waren sogar unter jenen, die sich über die Okkupation freuten und sie begrüßten. Es gibt eine Meinung, nach der dieses Land auf jene, die um es gekämpft und sich eingemischt haben, zugeschnitten und neu gegründet werden sollte. Diese Meinung impliziert, dass das Land noch nicht erwachsen ist. Wie sonst, meinen einige Libanesinnen, die Araber und die Welt, soll die libanesische Bevölkerung neu organisiert werden? Und wie soll diese Neuorganisation unbemerkt vonstatten gehen und keine Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen?
Im Libanon der sechziger Jahre gab es das so genannte Kairo-Abkommen, das den bewaffneten palästinensischen Widerstand an der israelisch-libanesischen Grenze ordnete. Binnen kurzer Zeit machte dieses Abkommen aber das ganze Land zu einem Grenzgebiet, das Ziel von israelischen Bombenangriffen und wiederholten Aggressionen wurde. Der Libanon wurde von einem Ende zum anderen zu einem Grenzgebiet, das kein Kernland mehr hatte, wo die Verängstigten Schutz suchen konnten, und auch keine »rote Grenze« zum Schutz seiner Hauptstadt vor der Besetzung. Wir wissen, dass der Libanon nicht das einzige Land war, das sich zugunsten der Verteidigung der größten arabischen Sache opferte - der palästinensischen Sache nämlich. Ägypten führte vier und Syrien drei offizielle Kriege. Jordanien führte zwei Kriege und einen Bürgerkrieg, der das Land fast zerstörte. In dieser Hinsicht ist der Libanon also nicht einzigartig. Einzigartig macht ihn aber, dass er es nie schaffte, den Krieg an seinen Grenzen gemäß normaler militärischer Abläufe zu führen.
Im Gegenteil: Die Kriege begannen immer in der Hauptstadt und verlagerten sich erst dann an die Grenzen. Deswegen scheint der Libanon am sensibelsten, was die palästinensische Sache betrifft. Einige Libanesinnen sagen schon seit Jahren, dass dieser Staat ein geteiltes Volk, ein vergewaltigtes Land und eine unvollständige Souveränität darstelle und so dieselbe Aufmerksamkeit verdiene wie die Palästinenserinnen in ihrem Kampf um legitime Rechte. Denn wer würde schon die PalästinenserInnen bitten, beispielsweise den Irak oder Kuwait mit ihrem Leben zu verteidigen? Einige Libanesinnen glauben, dass ihr Fall gleich wichtig wie der palästinensische sei, ja vielleicht sogar noch größer und tragischer. Umso mehr, als doch die Palästinenserinnen selbst zum libanesischen Leid beigetragen haben. Und so darf man nicht vergessen, dass der libanesische Bürgerkrieg nicht bloß entlang der Trennlinie zweier libanesischer Gruppen mit unterschiedlichen Kampfparolen geführt wurde, von denen erstere die bedingungslose Unterstützung des bewaffneten palästinensischen Widerstands und das Offnen der libanesischen Grenzen zur Befreiung Palästinas forderte, während die andere den Libanon aus der Nahostkrise heraushalten wollte, weil er weder die Mittel noch die Kapazität für einen großen Krieg hatte. In beiden Fällen und im Lichte dieser beiden Kampfparolen war der Libanon nicht zwischen jenen geteilt, die für das Land und die Nation eine sekundäre Rolle, und jenen, die eine expansive Rolle über die engen libanesischen Grenzen hinaus in die Nachbarländer anstrebten. Denn der Libanon ist das einzige Land im Nahen Osten, dessen Volk niemals - weder öffentlich noch im Geheimen - das Territorium eines Nachbarlandes annektieren wollte. Sogar Jordanien gelang es, wann immer es wollte, den Traum eines vereinigten haschemitischen Königreichs zu träumen. Sogar die verbannten Palästinenserinnen selbst wollten so etwas wie einen vorläufigen Staat im Libanon gründen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die palästinensische Sache im Libanon ausschließlich unter zwei Hauptaspekten diskutiert wird. Beim ersten geht es um die Unterstützung der Palästinenserinnen in ihrem Kampf gegen die Besatzung und beim zweiten um die Rolle der Palästinenserinnen in der Destabilisierung des Landes.
Die palästinensische Sache ist unbeschreiblich komplex. Deshalb können wir eine Unterstützung der Palästinenserinnen in der ganzen Welt erleben, noch bevor wir ein Foto des palästinensischen Präsidenten öffentlich in einer großen Demonstration tragen dürfen.
Dieser Tatsache sollten wir Beachtung schenken. Düne sie wäre es schwer zu verstehen, wie das vergossene Blut, das zerstörte Leben und die Märtyrer libanesisch sein könnten, wenn doch der syrische Präsidenten den »Ummah« (die pan-arabisch-islamische Nation) und zugleich den Widerstand anführt. Der Südlibanon wurde unter exorbitanten Kosten an menschlichem Leid befreit. Der Sieg aber, wenn man ihn so bezeichnen durfte, war ausschließlich ein syrischer.
Diese seltsame Situation wäre unbegreiflich, gäbe es nicht folgende drei Gründe für sie: erstens die sekundäre Rolle des Libanon als Nation und seine Unfähigkeit, eine expansive Rolle einzunehmen; zweitens die Einengung des Kernlandes bei gleichzeitiger Ausweitung der Grenze, was die Hauptstadt selbst zum offenen Kriegsgebiet gemacht hat; und drittens die Ignoranz der Libanesen und ihrer Führer gegenüber möglichen Auseinandersetzungen, während man sich unmögliche Kriege aufgehalst hat.
Alle arabischen Kriege fanden statt, außer dem, der den Libanon fest neben Israel verankert hätte. Die ganzen achtziger Jahre hindurch kämpfte der Libanesische Nationalwiderstand (Lebanese National Resistance) gegen die Israelis und blieb trotzdem im Untergrund. Erst als die Hisbollah den Widerstandskampf gegen die Israelis aufnahm, wurde dieser Krieg öffentlich bekannt. Mit anderen Worten, er wurde ein wichtiges Thema, als der Widerstand mit regionalen anstelle von nationalen Interessen zusammenfiel.
Die PalästinenserInnen leiden gleich wie die Libanesinnen gelitten haben. Das Projekt Israel geht gegen sie extrem brutal und brutaler als gegen jede andere arabische Nation vor. Auch die Palästinenserinnen mussten nicht nur für die Unabhängigkeit mit ihrem Blut bezahlen, sondern auch für ihr Recht, die Verhandlungen selbst zu führen und ihre eigenen Entscheidungen zutreffen. Das wäre höchstwahrscheinlich nicht nötig gewesen, wenn einige andere arabische Staaten immer noch bereit wären, in den Krieg gegen Israel einzutreten. Heute hört man von ein paar Arabern den Aufruf, zu den Prinzipien von Madrid zurückzukehren. Aber kümmert es jemanden, was denn diese Prinzipien von Madrid eigentlich sind? Wenn ich mich recht erinnere, annektierte die jordanische Delegation die palästinensische, worauf es geradezu ungeheuerliche arabische Akzeptanz für das Fehlen einer unabhängigen palästinensischen Stimme gab. Natürlich ist das den Arabern nicht peinlich, besonders weil die PalästinenserInnen als schwach eingeschätzt werden. Diese Einschätzung scheint immer noch vorzuherrschen. Im Zuge des skandalösen Versuchs, die Palästinenserinnen dorthin zurückzustufen, wo sie vor zehn Jahren waren, durfte Arafat nicht einmal seine Rede auf dem arabischen Gipfeltreffen in Beirut live halten. Arafat, ein Anführer, der einst vor den Vereinten Nationen gesprochen hatte und den dissidenten Staaten als Hauptmitglied angehört hatte, durfte in Beirut nicht sprechen. Sind das die Prinzipien von Madrid, die von einigen eingefordert werden?
Selbst auf die Gefahr hin zu übertreiben, kann man behaupten, dass die Palästinenserinnen über jene Zeit hinaus sind, in der sie ihre Sache und ihren Kampf an die arabischen Führer delegieren mussten, egal welche Unterstützung diese auch versprachen. Zum einen kommen die Araber bei der Forderung der Einhaltung der UNO-Resolutionen nicht an die Hartnäckigkeit der Palästinenserinnen heran. Trotzdem erkennen jene, die unlängst Youssi Sand gelesen haben, wie viel palästinensisches Blut noch vergossen werden wird müssen, bis die nach Frieden rufenden Israelis endlich die Annahme fallen lassen, dass sie über Art und Form des zukünftigen palästinensischen Staates entscheiden werden. Am Tag, als Sharon zum Premierminister gewählt wurde, gaben FriedensbefürworterInnen in Israel der palästinensischen Regierung dafür die Schuld. Die Palästinenserinnen übernahmen diese Verantwortung und wurden in Jenin und Nablus abgeschlachtet. Und trotzdem hielten die AnführerInnen der israelischen FriedensbefürworterInnen an ihrem selbst erklärten Vorrecht fest, über die Relevanz Arafats zu entscheiden - ob er es überhaupt noch wert sei, dass man mit ihm verhandle. Was soll das für ein Frieden werden, wenn sich die Feindesparteien ihre Verhandlungspartner selbst aussuchen?
Wenn man das alles bedenkt, werden die PalästinenserInnen wahrscheinlich noch mehr zu leiden haben, bevor die Welt überzeugt sein wird, dass sie ihre Belange selbst in die Hand nehmen können. Und doch haben sie wenigsten schon den halben Weg zur Freiheit zurückgelegt, während die Libanesinnen
Übersetzt von Thomas Raab