Heft 2/2002 - Nahost


Eingreif-Strategien

Ein Gespräch mit dem palästinensischen Regisseur Elia Suleiman über dessen neuen Film »Yadon Ilaheyya« (»Göttliche Intervention«)

Christophe Wavelet


Christophe Wavelet: Sie arbeiten gerade an der Fertigstellung des Films »Yadon Ilaheyya«, den Sie in Israel gedreht haben – in einem Kontext, der gelinde ausgedrückt der einer schrecklichen Krise ist, und das mehr denn je. Was bedeuten dieses Projekt und die Erfahrung der damit verbundenen Dreharbeiten für Sie?

Elia Suleïman: Sobald der Film fertig gestellt ist, werde ich die Tragweite der inszenierten Erzählung besser verstehen, gerade angesichts des historischen Moments und der Ereignisse, die seinen Kontext bilden: Israel, die Attentate des 11. September, etc. Im Moment stehe ich noch zu sehr unter der Schockwirkung, die aus dem Verhältnis zwischen dem Drehbuch und den Ereignissen, die sich während der Dreharbeiten abgespielt haben, resultierte, weil beides ja sozusagen am selben Ort spielt … Es ist, als würde man heute der Aktualisierung dessen beiwohnen, was Paul Virilio vor nicht allzu langer Zeit zum Thema Krieg und Film prophezeite, und zwar in ihrem Verhältnis zu den Beschleunigungsphänomenen der Gegenwart. Beim aktuellen Stand der Dinge frage ich mich zum Beispiel, bis zu welchem Grad noch eine Form von künstlerischem Eingreifen möglich ist, das der Unverzüglichkeit der Ereignisse entkommen könnte, wo mir mit diesem Film doch genau das Gegenteil widerfahren ist. Die brennende Frage lautet daher: Ist die Situation, die ich gerade erlebt habe, rein konjunkturell bedingt, oder muss ich mich auf die radikale Unmöglichkeit vorbereiten, dem Geschehen vorzugreifen, angesichts dieser beispiellosen Beschleunigung, welche die Geschichte erlebt, von der meine Filme handeln. Alles läuft gegenwärtig mit rasender Geschwindigkeit ab – ein Crescendo an Invasionsphänomenen und eine Erfüllung der mit der Globalisierung zusammenhängenden Verfahren –, sodass die unausweichliche Frage lautet, wie wir herausfinden können, wohin wir uns von hier aus bewegen … Das ist es, was mich im Moment am meisten beschäftigt.

Wavelet: Mit »Yadon Ilaheyya« (»Göttliche Intervention«) kehren Sie an verschiedene Schauplätze Ihrer früheren Filme zurück. Inwiefern war die Situation der jüngsten Dreharbeiten anders als bei den vorherigen Filmen?

Suleïman: Als ich »Der arabische Traum« drehte – Dreharbeiten, die wesentlich einfacher waren, aus Gründen, die einerseits mit dem Filmprojekt und andererseits mit dem Kontext zusammenhingen –, befand ich mich in Jerusalem. In anderen Worten, ich hielt mich an einem Ort auf, der künstlerisch gesehen nur ein Gefühl der Platzangst hervorrufen konnte. Jegliche Form von ästhetischer Vermittlung stieß hier schnell an Grenzen, was nur schwer tolerierbar war, und das alles zu einer Zeit, die von der Machtergreifung einer neuen Form von Faschismus markiert war. Ich hatte zuvor gerade »Chronik eines Verschwindens« gedreht und befand mich in einem fortgeschrittenen Zustand psychischer Erschöpfung. Heute noch bin ich mir nicht im Klaren darüber, ob dieser Zustand dem Leeregefühl zuzuschreiben war, das man gewöhnlich nach vollendeten Dreharbeiten empfindet – dieser Film hatte schließlich eine beachtliche Anstrengung erfordert –, oder ob er speziell aus dem Kontext resultierte, in dem ich damals arbeitete. Eines ist jedenfalls sicher, und zwar, dass ich mich pausenlos gegen Interferenzen zur Wehr setzen musste, die direkt auf diesen Ort einwirkten, zugleich reell und in der Phantasie, auf halber Strecke zwischen den unmittelbar bevorstehenden historischen Ereignissen (in ihrer tastbarsten, konkretesten materiellen Realität), und der kosmischen, oder sagen wir: poetischen Überlegung, die ich damals anstellen musste, um diesen Film zu drehen. Ich war an einem derartigen Sättigungsgrad angelangt, dass ich begann, einen Text zu schreiben, der dann später zu einem Element des Films wurde. Was dieser Text vor Augen führt, ist die Unmöglichkeit jeglicher Überlegung in einer Sphäre, wo das, womit man konfrontiert wird, nichts mehr mit Widerspiegelung, Echo oder Transformationspotenzial irgendeiner Art zu tun hat. In anderen Worten handelt es sich hier um die abstrakte Definition dessen, was Faschismus ist, und nichts anderes.
Diese Depression hat de facto noch länger angedauert, und dann war sie eines Tages vorüber … Zumindest glaube ich das, weil ich seither einige andere Filme gedreht habe! Meine »Schlussfolgerung« bestand darin, dass trotz allem eine Form von Hoffnung bleibt, dass verschiedene Möglichkeiten der Reflexion bestehen wie auch die Möglichkeit – und ist sie auch noch so schwach –, dass eine Veränderung zustande kommt.

Wavelet: Wie sieht es damit gegenwärtig aus?

Suleïman: Da ist noch eine andere Frage, die mich beschäftigt: Wie kann man vorgeben, man greife dem Ereignis vor? Wie kann man es antizipieren, wenn uns nicht einmal vergönnt ist zu warten, wenn der Feind gerade dabei ist, das Trauma zu »schreiben«, es zu vergeschichtlichen, und wenn wir nicht einmal die Möglichkeit haben, die unmittelbaren Effekte davon aufzuzeichnen? Es ist diese Frage, die unaufhörlich in der Geschichte des Drehbuchs zu meinem letzten Film »herumspukt«. Man könnte übrigens das Problemfeld erweitern, indem man es globaler betrachtet. Ich bin wirklich der Meinung, dass wir uns gegenwärtig an einem historischen Moment befinden, wo wir gezwungen sind, unter »Regimes einer faschistischen Demokratie«, wie ich das nenne, zu leben, oder anders gesagt: in einem demokratischem Faschismus: Jedes Individuum geht weiterhin wählen, um ganz demokratisch seinen Wahlzettel in die Urne zu werfen. Es geht dabei nur noch darum, eine Art von Regime zu bestätigen, das höchst undemokratisch erscheint. Man wählt noch, ja, aber indem auf jegliche Urteilskraft verzichtet wird, indem man sich verbietet, den freien Willen auszuüben, und das zu Gunsten eines Rituals, das Massenmord, so genannte »Reinigungsoperationen« etc., zulässt.

Wavelet: Konkreter?

Suleïman: Es mangelt nicht an Beispielen, leider! Nehmen Sie das Beispiel Israels, oder das der Vereinigten Staaten … Seien wir uns im Klaren: Der 11. September ist das Beste, was der amerikanischen Regierung passieren konnte. Dank dessen fühlt sie sich endlich befugt, »Armageddon« wiederaufzuführen, aber diesmal live. Und das ist im Prinzip genau das, was sie seit langem heraufbeschwört. Was Sharon anbelangt, so ist das ein ganz eigener Traum für sich: das Modell eines völlig faschistischen Typus, eines Revanchisten … Heute musste ich an ihn denken, und zwar an den Aspekt seiner unerbittlichen Animalität: an das Aussehen zuerst, natürlich, aber auch an seine Art zu reden, die direkt aus einem schlechten Zeichentrickfilm stammen könnte. Ich fragte mich, welcher bizarren Spezies er nur angehören könnte … Schließlich fand ich es heraus: In Wirklichkeit ist Sharon eine Fledermaus. Aber nicht irgendeine Fledermaus, sondern von einer hybriden Art, eine Art Mutant, das Ergebnis unbekannter genetischer Manipulationen, die in unvorstellbaren Labors heimlich realisiert wurden. Eine emanzipierte Fledermaus, wenn man so will. Übrigens hat sie sich so sehr aufgeblasen, dass sie so dick ist wie ein Rind. Ja, das ist’s: Sharon ist dieser Rindsvampir, der sich nicht mehr anstrengen muss, um sein Gleichgewicht zu halten, und dem das Wunder gelingt, sich in aller Öffentlichkeit kompromittieren zu können. Kurz gefasst, ist er das Spiegelbild dessen, was der Faschismus heute geworden ist: Man braucht sich nicht mehr zu verstecken oder maskiert voranzuschreiten, keine Rechtfertigungen mehr für die begangenen Gräueltaten zu erfinden und auch keinerlei Schamgefühl mehr empfinden. Übrigens sind die Vampire von heute im Stande, rund um die Uhr Blut zu saugen, wie die monströse Rindsfledermaus meiner Fabel. Der einzige Unterschied zu einer wirklichen Fledermaus ist eigentlich der, dass dieses kleine Tier beinahe etwas Charmantes hat, während im Falle Sharons … (Gelächter)

Wavelet: Gibt es heute keine Platzangst mehr?

Suleïman: Doch, nur … die Ereignisse während der Dreharbeiten haben sich nach einiger Zeit mit der Erzählung, die ich für das Drehbuch des Films erarbeitet habe, überschlagen. Ich hatte es zwei Jahre vor diesen Ereignissen geschrieben, der Kern der Erzählung spielt in der Umgebung eines Checkpoints. Dieser Checkpoint wurde während der Dreharbeiten de facto zum Kern der an die Ereignisse anknüpfenden Vorkehrungen – genau in diesem Kontext, in dem ich geplant hatte, die Handlung des Films stattfinden zu lassen. Dazu kommt noch, dass in der Filmerzählung die Situation derart kulminiert, dass dies bereits an Absurdität grenzt. Und plötzlich geschieht so etwas in der Realität! Und währenddessen herrscht rundherum eine beharrliche Ruhe, welche die angeblich zivilisierten Reaktionen begleitet, die immer verstockter werden.

Wavelet: Was verstehen Sie unter »angeblich zivilisierten Reaktionen«?

Suleïman: Ich spreche selbstverständlich von Europa und den Vereinigten Staaten. Dasselbe betrifft auch den Rest der Nationen, die sich heute anmaßen, den Schutz der »zivilisierten Welt« zu sichern und die Standards der modernen Gesellschaften mit »menschlichem Antlitz« aufrechtzuerhalten … Daher diese quälende Frage: »Wovon sprechen wir hier eigentlich?« Vor gar nicht so langer Zeit war die Situation im Kosovo nicht sehr anders. Man hatte damals dasselbe Gefühl: Wie ist es möglich, dass niemand da ist, der versucht, diesen Erpressungen Einhalt zu bieten? Diesbezüglich bleibt sogar das Absurde Theater weit hinten nach … Während ich hier mit Ihnen spreche, wird zum Beispiel Herrn Milosevic der Prozess gemacht. Nebenbei bemerkt: Wer könnte sich vorstellen, dass Sharon einmal dasselbe widerfahren könnte? Aber lassen wir das … Wie dem auch immer sei, man bemerkt, dass die sinistre Dramaturgie all dieser Ereignisse derselben Regel folgt. Wir werden aufgefordert abzuwarten, bis die allerletzten Folterungen, die allerletzten Morde und Vergewaltigungen stattgefunden haben, auf dass eine Interventionsmöglichkeit in Betracht gezogen wird. Um den Schein zu wahren, zweifellos … All dies lässt vermuten, dass es inzwischen eine wahre Kontinuität gibt, zu der sich alle »großen Mächte« entschlossen haben. Nun aber besteht diese Kontinuität aus überlegtem Schweigen anstatt aus ausdrücklichen Reaktionen, die man angesichts so vieler Tragödien eigentlich erwarten würde. Man müsste wirklich blind sein, um nicht zu sehen, dass all das heute an eine Art Euphorie grenzt, die völlig verrückt ist. Angesichts der Ereignisse vom 11. September und dessen, was ihm vorausgegangen ist, sowie angesichts dessen, was die Globalisierung an Unerbittlichem produziert hat, finde ich es höchst an der Zeit, alle diese Ereignisse als das anzusehen, was sie wirklich sind: die Teile ein und desselben Puzzles, das zu dem morbiden Manierismus, zur Feigheit und zum Zynismus geführt hat, welche die Einstellung allzu vieler Nationen angesichts der Ungerechtigkeit und des Horrors charakterisieren. Während wir also dem exponentiellen Anwachsen dieser Ungerechtigkeiten und dieses flagranten Horrors beiwohnen – und ich rede hier nicht ausschließlich von Palästina, sondern im gleichen Maße von Afrika, von Lateinamerika, etc., – stellen wir was fest? Anstatt ein Alarmsignal zu senden, das eigentlich von den von dieser Situation profitierenden Ländern in Erwägung gezogen werden müsste, wohnen wir, ganz im Gegenteil, einem schweigsamen Frohlocken bei oder zumindest einem Legitimierungsunternehmen, dessen Ziel es ist, die Kontinuierlichkeit dieser Art von Einstellung zu festigen. Ebenso gut ließe sich sagen, dass man zu unserer Zeit leicht der Paranoia verfallen könnte. Wie sollte man schließlich nicht von einer Art Terror betroffen sein, angesichts des Chaos, das unser aller gemeinsame historische Situation darstellt. Und wie könnte man nicht sehen, dass dies der Rückschlag gegenüber einer Sorglosigkeit ist, von der man nichts hatte wissen wollen. Und dies ohne das die gravierenden Faktoren eher noch verschärfen …

Wavelet: Was bedeutet es also für Sie, in diesem Kontext und unter diesen Umständen Filme zu drehen?

Suleïman: In gewisser Hinsicht ist jeder Film Anzeichen einer bestimmten Art von Hoffnung: der Hoffnung auf Veränderung bzw. die Möglichkeit der Umwandlung. Aber ich möchte hinzufügen, dass jeder Film auch für eine Form der Notwendigkeit, ja sogar von Dringlichkeit einsteht. Nun ist mir aber in dem Kontext, in dem ich diesen Film gedreht habe, Folgendes widerfahren: Den Fragen, die das Drehbuch aufwarf, wurde durch die historischen Ereignisse eine grausame Antwort erteilt. All das war unvorhersehbar, und der Effekt der Unmittelbarkeit dieses Schocks hatte zur Folge, die Fragen selbst aufzulösen, und zwar dahingehend, dass sich auch das bisschen Spielraum, über den der Film damals noch verfügte – zu einer Zeit, wo er ein Projekt war, an dessen Grundlagen ich schrieb –, zerstört wurde. Angesichts einer derartigen Kollision verzweifelt man … Das ist so, wie wenn ich dieser Tage den Fernseher einschalte und ich mich dabei ertappe zu brüllen: »Aber was zum Teufel kann ich …« Die potenzielle Realität, die ästhetische oder künstlerische Vermittlung finden keinerlei Antwort, keinerlei Ausweg und bleiben der Unmittelbarkeit der Ereignisse gegenüber fundamental machtlos. Mir scheint, dass jede künstlerische Produktion daran scheitern muss, wenn schon nicht von der Wucht der Explosion und solch einem Umsturz Bericht zu erstatten, so doch daran, deren Kurs zu verändern. Was einem dann noch bleibt, ist ein vager Zynismus, nämlich die ästhetische Qualität der Arbeit, die man trotz allem erzielt hat, und die Spuren dieses Misslingen zu bewundern. Und das ist natürlich schrecklich … Das Gefühl, das am Ende einer solchen Erfahrung dominiert, ist Verzweiflung, reine Verzweiflung, aber auch Zorn. Jeden Tag, den ich an den Spezialeffekten des Films arbeite, bin ich verzweifelt: verzweifelt in dem Moment, wo ich in das Flugzeug nach Deutschland steige, wo bestimmte Bildbearbeitungen stattfinden, verzweifelt, wenn ich wieder zurückkehre, wo ich doch in mir die Kraft finden sollte, mich zu begeistern und der gesamten Bewegung Aufmerksamkeit zu schenken, dem Tempo des Films, etc. Und natürlich hoffe ich, mich zu täuschen. Ich hoffe, dass meine Äußerung eine gewisse Übertreibung enthält. Aber ich werde erst wissen, wie es um den Film und seine Kapazität, die geeigneten Fragen zu stellen, steht, wenn der Film vollendet ist. Das ist der einzige Spielraum für Hoffnung, der mir im Moment bleibt.

Wavelet: Woraus besteht die Welt dieses Films?

Suleïman: Von Ihrer Frage ausgehend gibt es zwei verschiedene Diskussionsebenen. Die erste betrifft das, was ich soeben erwähnt habe, und die zweite steht im Zusammenhang mit einem subjektiven Gesichtspunkt, das heißt, mit meinem Gefühl in Bezug darauf, was der Film möglicherweise erreicht hat – was aber nur ein Gefühl ist … Mein Anliegen beruht darauf, dass sich die Geschichtserzählung, wie sie heute in Palästina und Israel existiert, einer Lektüre demokratischer Art widersetzt. Die Bilder, die ich von einem Film zum anderen konstruiere, haben kein Zentrum – sie sind gewissermaßen davon befreit. Durch ihre Montage sorge ich stets dafür, dass genug Zwischen- und Spielraum für vielfältige Interpretationsmöglichkeiten besteht. Als ich »Yadon Ilaheyya« drehte, hatte ich Angst, dass der Geist des Faschismus, der nun seit einiger Zeit in Israel herrscht, nicht den nötigen Spielraum übrig lässt, sodass keine demokratische Lesart, wie sie sich dieses Projekt wünscht, zustande kommen kann. Heute, und um auf Ihre Frage zu antworten, scheint mir, dass es mir tatsächlich gelungen ist, das zu erreichen, was ich angestrebt hatte. Das ist eine erste Antwort.
Die zweite Antwort lautet, dass Hoffnung besteht. Und im Namen dieser Hoffnung werde ich, so lange ich die nötige Energie dazu habe, Filme drehen, um Israel zu bekämpfen, auf dass Israel endlich den entsprechenden Raum bietet, in der einer demokratischen Entwicklung zu ihrem Recht verholfen wird und der so konzipiert ist, dass er den BürgerInnen einer säkularisierten Welt dient. Diese Hoffnung ist es, die ich niemals schwinden sehen möchte. Jeder Film, den ich bislang gedreht habe, war eine Art kritisches Streben, das der Verzerrungslogik der Medien entgegentreten, das Räderwerk aufreiben und die Instanzen zerstören wollte, an welche die Konstruktionsweisen der Erzählungen und Repräsentationen geknüpft sind, die das Bett der dominanten Ideologie bereiten: einer Ideologie, die ihren Namen verschweigt. Der Unterschied besteht in der Art und Weise, wie dies von einem Film zum anderen gemacht ist. »Argument«, mein erster Film, entstand kurz vor Ausbruch des Golfkriegs. Darin werden eine Reihe von Gegen-Proben gespielt, angesichts der herkömmlichen Darstellung von AraberInnen, wie dies etwa in Hollywood üblich ist. »Ehrerbietung durch Mord«, der darauffolgende Film, ist aus meiner Reaktion auf die Konsequenzen, die dieser Krieg mit sich brachte, entstanden. Dies war bereits eine ziemlich verfeinerte Arbeit, die sich auf die charakteristischen erzählerischen Strukturen dessen konzentrierte, was im Film möglich ist, im Hinblick auf die Strategien der Medien, und vor allem des Fernsehens. Mit »Chronik eines Verschwindens« hat so etwas wie eine Verschiebung stattgefunden, eine Öffnung, die eine Art von »poetischer Überlegung«, wie ich sie vorhin erwähnte, möglich machen sollte. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich von gewissen Formen der, sagen wir, »frontaleren« Eingreifstrategie befreit. Ich habe mir dabei mehr Freiheiten erlaubt, mehr Atemluft, mehr Leben. Danach habe ich »Der arabische Traum« gedreht, der die direkte Konsequenz, zumindest teilweise, meines Lebens nach »Chronik eines Verschwindens« war, meines Lebens als ein in West-Jerusalem lebender Palästinenser. Dieser Film erzählt sehr präzise von der Unmöglichkeit, der ich damals ausgesetzt war, egal welche Bilder in einem Staat wie diesem betrachten zu können, in einer Situation, die für mich ein harte Prüfung war. Dann kam »Cyber Palestine« – aber das ist eine andere Geschichte. Um auf den Film zurückzukommen, den ich gerade gedreht habe: Er stellt unleugbar das Hauptereignis meiner Karriere dar, betreffend der Schwierigkeiten, mit denen ich bis heute als Filmregisseur konfrontiert bin, und zwar, was Aufbau und Verfahren von Erzählungen betrifft. All dies ist an die Art und Weise geknüpft, wie die historischen Ereignisse das Drehbuch »infiltriert« bzw. in gewisser Weise auf dieses »geantwortet« haben, wo sich doch die Dreharbeiten geplantermaßen auf dieses stützen sollten.
Zwei kurze Anekdoten noch zu diesem Thema: Zu einem gewissen Zeitpunkt der Dreharbeiten (die kurz vor der Intifada begonnen haben) war ich auf dem Set gerade mit Schnittarbeiten beschäftigt, und zwar in der Nähe eines Checkpoints, wie es sie heute zu Dutzenden in Israel gibt. Plötzlich bricht die Intifada aus. Es kommt ein Rettungsauto angerast, das in allen Details dem ähnelt, das für die Dreharbeiten bestimmt ist, inmitten des so genannten »Filmdekors«. Zu einem anderen Zeitpunkt drehte ich gerade eine Sequenz in Ost-Jerusalem, in der ein Gefangener in einem Polizeiauto getötet werden soll, während eine Touristin nach dem Weg zum geheiligten Teil der Stadt fragt. Plötzlich müssen die Dreharbeiten abrupt unterbrochen werden: Ein Bus fährt in die Straße ein, voll mit Soldaten. Er hält vor dem Schauspieler, den ich für die Rolle des Polizisten engagiert habe, und sie fragen ihn nach dem Weg, weil sie ihn für einen wirklichen Wachposten halten. Ich habe die Gelegenheit genützt und den Schauspieler diskret gebeten, er möge den, der die Rolle des palästinensischen Gefangenen spielte und das passende Kostüm trug, holen und ihm sagen, er solle sie informieren. Sie konnten es kaum fassen (Lachen). Also: Die Wirklichkeit hat dauernd in die Fiktion eingegriffen und umgekehrt, immer auf plötzliche Weise und immer verblüffend.

Wavelet: Mit dem feinen Unterschied, dass Sie durch Ihre Arbeit die Welt fiktionalisieren, während um Sie herum …

Suleïman: Sicher … Aber vergessen Sie nicht, dass, egal welche Realität Sie darzustellen versuchen, Sie nie richtig kräftig hineinbeißen können! Die Realität entzieht sich, das ist unvermeidbar. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen einem realen Checkpoint, so wie man ihn heute überall in Israel sieht, und dem im Film, den ich mir bar jeglicher Anwesenheit wünsche. Sie können natürlich immer weiter argumentieren, indem Sie fragen »Warum?«. Die gerechteste Antwort, die ich geben kann, lautet, dass ich versuche, die Gewalt mit Hilfe von Leere und Stille zu beschreiben, die sie eigentlich charakterisieren.
Was den Produktionsprozess anbelangt, so kann ich nur schwer sagen, wie ich an diesen Film herangegangen bin: Drehbücher und Scripts sind aufeinander gefolgt, eines das andere überdeckend, etc. Im Lauf der Arbeit verstand ich, dass das, was ich im Begriff war zu tun, eine Art zweite »Chronik …« war: Da ist Nazareth, und da ist Jerusalem. Der einzige reale Effekt, der sich über diese Struktur legt, ist der Checkpoint; und noch eine Reihe anderer struktureller Ähnlichkeiten, die man auf gleiche Weise feststellen kann. Mein Vater war in »Chronik …« physisch anwesend; hier ist er symbolisch dargestellt: Die Figur des Regisseurs, die ich spiele, erinnert sich an den Verlust des Vaters, auf eine Weise, von der man nicht sagen kann, ob sie auf das Drehbuch, auf die Erinnerung oder auf ein Flashback zurückgreift. Auch meine Mutter ist in diesem Film anwesend, allerdings in der Abwesenheit meines Vaters. Ich habe bestimmte Aufnahmen in demselben Haus gemacht, etc.Stilistisch bzw. ästhetisch gab es in »Chronik …« Referenzen zum Dokumentarfilm und ein Spiel mit den Codes dieser Art von Film, während im neuen Film die Inszenierung auf sichtbarere, offenkundigere Weise auftritt, und auch »gespielter«. »Chronik …« bezog sich vor allem auf die damalige Realität, während der neue Film von der Gegenwart handelt. In Nazareth zum Beispiel gibt es nicht mehr dieselbe historische Realität des Ghettos wie zu der Zeit, in der ich »Chronik …« drehte: Die Kontinuität der von Israel aufgezwungenen Unterdrückung hat eine Reihe von leicht zu ermittelnden Konsequenzen mit sich gebracht, wie zum Beispiel die radikale Verhinderung jeglicher Art von wirtschaftlichem Wachstumsprozess. Oder auch die Tatsache, dass jegliche kulturelle Begebenheit gegenwärtig mit einem Phänomen des Eingesperrt-Seins und des Erstickens konfrontiert ist; das betrifft alle PalästinenserInnen, die vor Ort leben, ohne Ausnahme, und ohne dass sie irgendeinen Spielraum hätten. Dies ist die beständigste Politik der Unbeständigkeit, die Israel seit jeher verfolgt hat, sie ist auch in ihren Effekten die raueste und in ihrem Vorgehen die immateriellste: So ist es auch unmöglich, Individuen zu finden, die etwa für Geld entscheiden könnten, was den PalästinenserInnen entschieden vorenthalten wird (mit Ausnahme der Rind-Fledermaus, die sich gut vorstellen könnte, all diese Leute auf Kommando in einen Bus zu verfrachten, ohne Rückfahrkarte und ohne irgend einen anderen Prozess). In Wirklichkeit ist das eher so etwas wie ein kumulativer Prozess, der seit langer Zeit über eine Myriade von Vorstößen abläuft und auf die Dauer eine Realität festsetzt, die immer unerträglicher wird, ja bis ans Ersticken grenzt, sodass die Leute ins Exil gezwungen werden. Von dieser Realität, die in Nazareth heute vorherrscht, handelt der Film, und das ist es, was ihn bis zu einem gewissen Grad von »Chronik…« unterscheidet. Und dann war in dem vorigen Film auch noch ein Hauch von Lieblichkeit, trotz allem. Sogar mein Blick, in der Art, in der ich meine Rolle interpretierte, war wie der eines Beobachters, eines Voyeurs oder eines Schlafwandlers, unergründlich: Die Augen blieben ausdruckslos und haben so den Blick der ZuschauerInnen in der dem Film eigenen Ökonomie mediatisiert. Und das alles in einem Modus, der auf jegliche subjektive »Investition« verzichtet, sodass jede/r Zuschauer/in diese subjektive »Investition« selbst aufbringen muss – ohne Kostenübernahme, aber auch ohne Rezept. Als wir die »Muster« (rushes) des neuen Films betrachteten, sah ich in Bezug auf die Ausdruckskraft der Figur, die ich spiele, etwas sehr Verschiedenes und in gewisser Hinsicht viel Bedrückenderes. Nicht dass ich mir bewusst gesagt hätte, dass ich genau das erreichen wollte; es ist mir vielmehr aufgefallen, als ich die Aufnahmen ansah und den Unterschied abschätzen konnte, der wesentlich bedeutender war als ich wusste oder zu wissen glaubte.

Wavelet: Wenn die letzte »Chronik«, die Sie dem Publikum zudachten, eine des »Verschwindens« war, wie der Titel sagt, wie steht es dann mit der durch andere Mittel fortgesetzten Chronik, in einem Kontext, von dem Sie zeigen, dass er nicht mehr derselbe wie damals ist?

Suleïman: Ich glaube, dass das, was durch den ganzen Verlust und das Verschwinden hindurch den Film auszeichnet, etwas ist, was man einem imaginierten Eingreifen oder »Einfall« zuordnen könnte, das auf gewisse Weise viel klarer ist. Hier sollte der Hinweis genügen, dass mehrere Auferstehungen vorkommen, die gewissermaßen Fantasie-Siege des Regisseurs sind …

Wavelet: Was manifestiert sich in diesem Fall von der Verzweiflung, die Sie vorher erwähnt haben?

Suleïman: Die Verzweiflung betrifft sozusagen den inneren Dialog, aber sie geht kaum in die poetische Dimension über, die es dem Film erlaubt, überhaupt realisiert zu werden. Wenn ich mit den Dreh- und Schneidearbeiten fertig bin und alleine bin, überkommt mich von Neuem diese Mischung aus Verzweiflung und Ärger, viel stärker, als ich es beschreiben kann … Das ist auch speziell das, was ich empfinde, wenn ich dieser Tage den Fernseher einschalte – so wie jeder Palästinenser, der außerhalb dieses Kontexts lebt und hilfloser Zeuge dessen ist, was sich heute dort abspielt.

 

 

Übersetzung: Gudrun Mazoyer

Dieses Gespräch wurde für das Projekt »vista cansanda« in der Feuilleton-Beilage der brasilianischen Tageszeitung »VALOR« geführt, das im Rahmen des künstlerischen Beitrags von Moulène/ Sala für die Biennale São Paulo 2002 stattfindet.