Heft 2/2002 - Lektüre
In seinen Notizen zum »Passagenwerk« stellt sich Walter Benjamin, Brecht exzerpierend, folgende Frage: Ob die Fotografie, die einst (aufgrund der langen Belichtungszeiten, die am Anfang nötig waren) bei der Aufnahme von Gesichtern deren Vielschichtigkeit zusammenfassen konnte, nicht vielleicht in Zukunft die Gesichter stattdessen zerlegen könnte? Diese Brecht'sche Zerlegung, so die HerausgeberInnen, hätte zwar nicht die Fotografie, wohl aber das Kino bereits versucht: mit der Großaufnahme. Diesen Versuch nachzuzeichnen und »als Entwurf einer Kulturgeschichte der Gesichterdarstellung anzudeuten«, hat sich der Sammelband vorgenommen.
Um derart das Feld des Gesichtes abzustecken, suchen die VerfasserInnen der Beiträge - darunter VertreterInnen aus dem deutschsprachigen, romanischen und anglikanischen Raum, ergänzt durch drei klassische Positionen (Simmel, Sartre, Epstein) - Schnittstellen (Frühes Kino, Modernes Kino, Andere Künste, Medien) auf, in denen die Gesichterdarstellung im Jahrhundert des Films ins Zentrum rücken, problematisiert werden oder neue Akzente erhalten.
In einem Rückgriff auf die Entwicklung der Physiognomie im 19. Jahrhundert zeichnet der amerikanische Filmtheoretiker Tom Gunning eine verschüttete Vorgeschichte des Films nach, in welcher der »gnostische Impuls« eine zentrale Rolle einnahm. Der wissenschaftlich-medizinische Einsatz der Fotografie zum Studium der Gesichter und zur »Lektüre« moderner Krankheiten anhand der Gesichtsveränderungen hatte die Entwicklungen auf dem Gebiet der Fotografie ständig vorangetrieben. So stand Albert Londe, dem Chemiker der Salpêtrière, etwa eine Kamera mit zwölf Objektiven zur Verfügung, die es ihm erlaubte, Aufnahmen mit kurzer zeitlicher Progression zu erstellen. Diese Entwicklung führte schließlich geradewegs zur Erfindung der Filmtechnik. Das Erkenntnisinteresse blieb denn auch dem Frühen Kino, in dem das Genre der »facial expressions« bzw. Gesichtsausdrucksfilme große Bedeutung einnimmt, erhalten. Auffällig ist zugleich die Überlagerung von Erkenntnisinteresse und Komik, Neugier und karnevaleskem Vergnügen, das Gesicht erscheint in einem durchaus ambiguen Licht. Auf einem ganz anderen Terrain, in Dokumenten von Gesichtsbildern russischer Gefangener aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, spürt Karl Sierek jenes Antlitz auf, das Emmanuel Lévinas im Unterschied zum Gesicht als Kategorie der Dialogizität bestimmt hat und das gerade den Zweck der Typisierung subvertiert.
Eine neue Schnittstelle stellt das Entstehen des narrativen Kinos dar. Die Großaufnahme von Gesichtern wurde anfangs als Bruch innerhalb der narrativen Struktur problematisiert, nach einem kurzen Zwischenspiel allerdings kehrte sich das ins Gegenteil, und dieser Einstellungstypus wurde umso nachhaltiger zu einem konventionalisierten ästhetischen Verfahren. Nach Jacques Aumont hatte die Geschichte des Gesichts gegen Ende des Stummfilms einen Kulminationspunkt erreicht, in der das Kino »Epiphanie des Gesichts« und das Gesicht Spiegel der Subjektivität zu sein vermochten. Der Umschwung sei etwa durch die Abnutzungen des Stargesichts und die Ausbeutung des Gesichts als »Ausdrucksmaschine« herbeigeführt worden. Diese »Entgesichtung« wurde im Hollywoodkino der letzten Dekaden auf exzessive Weise auf unterschiedlichen Ebenen fortgesetzt.
In zwei spannenden Detailanalysen werden differenzierte Gegenmodelle aufgezeigt: Pasolinis eigentümliche Kunst der Gesichterdarstellung kennzeichnet (in »Il Vangelo Secondo Matteo«) eine subtile figurative Syntax. Gianikian/Ricci Lucchi und Peter Tscherkassky dagegen bedienen sich gegenwärtig jeweils unterschiedlicher dekonstruktiver Verfahren (Vergrößerung, Verlangsamung, Nachbearbeitung, etc.), um aus historischem Filmmaterial »gefundene« Gesichter gewissermaßen zu retten bzw. ihre unbewussten Codes (gegen ihre ursprünglichen Intentionen) offen zu legen.
Im Spannungsfeld anderer Künste ist - beispielsweise in der Malerei - das Verschwinden der Gesichter schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu bemerken. Interessanterweise reagiert der Film auf die Malerei und versucht gerade eine Darstellung der »Gesichter von innen«. So lässt sich eine Spur von Henri Michaux zu Ingmar Bergman verfolgen: In Bergmans »Persona« werden die Körper solcherart überschritten, an ihrer Oberfläche sichtbar werden die dahinterliegenden Kräfte.
Schließlich haben die strukturellen Veränderungen des 20. Jahrhunderts (von der Verstädterung bis zum Golfkrieg) sich auf die Gesichtsbilder ausgewirkt. Die totalitäre Politik der Moderne hat nach Giorgio Agamben mehrfach zu einer »grotesken Verfälschung des Antlitzes« geführt. Mit seinem Begriff des Antlitzes als »Zusammen-Sein der verschiedenen Gesichter« allerdings verweist Agamben nochmals zurück auf Benjamin.
Neben der Spannweite der Themen kennzeichnet den Band ebenso ein breites Spektrum von Herangehensweisen, von der phänomenologischen Skizze über die filmtheoretische Analyse bis zum philosophischen Traktat. Mitunter geht einiges an Zentripetalkraft verloren, das Disparate wie die mehrfachen Neuansätze können andererseits jedoch auch zum Vorzug des Unternehmens gezählt werden.