Heft 2/2002 - Nahost
Ein Labor nennt Catherine David den Libanon in der Dekade nach dem Bürgerkrieg; ein Labor mit einer Stadt im Zentrum. Beiruts widersprüchliche soziale Realität und deren phänomenologische Komplexität müssten Intellektuelle und Künstlerinnen geradezu zu Reaktionen anregen. Alle gelernten Erklärungsmuster gegenwärtiger Theorie und Reflexion würden an seiner Gegenwart abprallen.
Um Formen zum Verständnis dieser - neben Kairo - zweiten großen Kapitale der arabischen Welt geht es unter anderem in einer Projektreihe, die David jetzt unter dem Titel »Contemporary Arab Representations« zusammengestellt hat.1
Beirut, der Libanon: wie in anderen lokalen Situationen affirmieren auch in der arabischen Welt die gleichen politischen Eliten die technologische und ökonomistische Globalisierung, deren politischer Erfolg sich auf der Verwendung einer nationalistischen, religiös-fundamentalistischen und kulturell-traditionalistischen Rhetorik gründet. Wie um diese offensichtlichen Widersprüche zu verdecken, wird in den politischen Rhetoriken zwischen den positiven Errungenschaften einer technologischen Modernität und den imaginiert negativen eines westlichen kulturellen Modernismus fein unterschieden. Im Libanon ist nach dem Ende des (Bürger-) Krieges viel von dieser Doppelstrategie öffentliche Form geworden: Beirut entsteht gerade gänzlich nach den Modellen postfordistischen Stadtmanagements neu. In seiner Funktion als Rollenmodell für die Modernisierungsbestrebungen anderer Teile der arabischen Welt, die es nach dem Krieg wiedergewann, ist es jedoch den fundamentalisierenden Einflüssen islamistischer Konzepte besonders ausgeliefert.
Zumindest in den ausgestellten Repräsentationen - David nennt die Arbeiten bewusst nicht »Kunst« - scheinen viele der Künstlerinnen Nachkriegsbeiruts um die Wiedergewinnung zweier Modernitäten zu kämpfen: Eine säkularisierte, kulturell determinierte, internationalistische und eine andere, in der es ideologisch nicht schon verdächtig ist, lokale Traditionen positiv zu bergen und einen distanziert affirmierenden Umgang mit der Verlassenschaft arabischer Kulturen zu pflegen. Doch gerade die Identifikationsmöglichkeiten mit Bild- und Schrifttraditionsbeständen einer lokalen Kultur scheinen besonders verstellt zu sein und die Umarbeitung schwierig.
Jalal Toufics Video »Ashura: This Blood Spilled in My Veins« (1996) ist eine Dokumentation über rituelle Praktiken des Aderlasses in der schiitischen Kultur. Das Ritual bezieht sich auf ein angebliches Massaker an der Familie des Sohns des ersten Schiitischen Imam (und Enkel des Propheten), also auf einen Gründungsmythos des Schiismus. Toufics Video transformiert das Ritual, abstrahiert den Kontext. So entsteht ein eindrückliches Bildessay über Formen des Erinnerns an traumatische Momente kollektiver Geschichtserfahrung - respektive die Unmöglichkeit des Erinnerns außerhalb dieser ritualisierten Formen. Daran schließt Toufic die Frage nach der Möglichkeit der Bezugnahme auf diese traumatischen Situationen an, außerhalb religiös oder staatlich vereinnahmter- und daher schon »entzogener« - Erinnerungsschematismen. Es ist die Frage nach Häresie und Devianz, nach Widerständen, die in dieser Arbeit auftaucht.
Ähnliche Intentionen liegen den Arbeiten des ebenfalls in Beirut lebenden Walid Sadek zu Grunde. In Barcelona zeigt Sadek zwei unterschiedliche Projekte. »Al-Kazal« (»Faulheit«, 2000) ist ein Bildessay mit Gedichten des politischen Autors Bilal Khbeiz im Zeitungsformat. Sadek macht in ihm einen Seitenschritt weg von der Realität der vielfachen Konditioniertheit von Körperbildern in der libanesischen Alltagsikonologie hin zu einer Elegie auf sich selbst im Nichtstun genießende, als unver- und bewertbar träumende, intakte, nicht produktive Körper und Subjekte; auf Körperbilder eines foucaultschen modernen und sich selbst künstlerisch erst setzenden Subjektes.
Sadeks zweite Arbeit ist eine Installation: mit bewusstem Bezug auf die Displays eines Felix Gonzales-Torres bewegt sie sich um die Motive von Anwesenheit und Abwesenheit, um Schmerz und Verlust. Das Give-Away eines Plakates zeigt allerdings nicht Torres\'sche Wolkenbilder sondern ein männliches Bein, behaart, in seiner Präsenz direkt und banal. Kartonröhren sind seriell an den Wänden drapiert. »Die Anderen« ist der Titel des Arrangements. Das Hindernis, der optisch freigestellte Fuß, repräsentiert auch den nach wie vor männlichen, den chauvinistischen Raum libanesischer Gegenwart sublim.
Walid Ra\'ads Rekonstruktionsarbeit an einer - fiktiven - Geschichte der libanesischen Bürgerkriege (siehe auch S. 36ff), der schwierigen Staatswerdung des Libanon, der gescheiterten Identifikation rund um den Begriff einer libanesischen Nation, der positiven Affirmation Beiruts als möglichen Ersatz dafür, als dem Modell einer multimodernistischen Großstadt, ist in die Form eines Archivs gebunden. Ra\'ad zeigt in Barcelona erstmal auch eine Webseite der Atlas Group.
Ebenfalls in Rekonstruktionsarbeit - am Alltagsleben im Vorkriegsbeirut und der Biographie seines Vaters zwischen den Modernen, die später zur Heidenbiografie mutierte - zeigt Tony Chakar (»4 Cotton Underwearforlony«, 2001), wie weit gehend fiktionale Erzählstränge bis heute sich in kritische Geschichten einarbeiten und ganz eigene bildhafte Narrative entstehen lassen.
Paola Yacoub & Michel Lasserre (Beirut/Paris, siehe S. 28f) bearbeiten, wie schon bei ihrer Präsentation in der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, Fragen der Darstellbarkeit der Geschichtlichkeit von Landschaft anhand des »verlassenen« jedoch vom Krieg vielfach beschriebenen libanesischen Südens, des Grenzlandes zu Israel: Was ist die mögliche Sprache einer solchen Fotografie? Was ist die visuelle Evidenz dieses Raumes und seiner Architektur?
Eine Frage, die sich auch Tony Chakar gemeinsam mit Naji Assi und Studentinnen der Kunstakademie mit ihrem architektur- und stadtsoziologischen Multivisions-Bildessay gestellt haben. In dieser imagologischen Analyse der sozial gemischten, jedoch armutsgefährdeten Vorstadt Rouwaysset, erscheint der Stadtraum als erzählter Raum. Auch das »Monument for the Living«, ein nachkriegsmodernistischer Wolkenkratzer, einst das höchste Haus Beiruts, nie vollendet, immer Ruine geblieben, das von seiner ursprünglich geplanten Funktion als shopping-mall zum Scharfschützenstützpunkt und Kellergefängnis für Geiseln während des Krieges mutierte, ist ein solcher fiktional umgeschriebener Raum, dessen Geschichte Marwan Rechmaouis Arbeit erzählt. Erweitert wird dieser Befund in Davids Repräsentarium durch eine Videolounge mit Filmen von Khalil Hanoun, Mahmoud Hojeij, Ghassan Salhab, Mohammed Soueid und Akram Zaatari.
Gerade das unspektakuläre, das Ausschnitthafte der Präsentation erzeugte ein Bild, das sprechend die Repräsentationskämpfe verschiedener Machtdispositive um die Führerschaft in einer wieder gefundenen Zeit der Moderne zeigt - und somit auch Isolation, Entfremdung und Übermächtigung sowie die Schwierigkeiten, lokale Modernität zu leben.
1 »Contemporary Arab Representations« ist als langfristiges Projekt mit unterschiedlichen Formaten wie Seminaren, Publikationen, Ausstellungen und Aufführungen von performativen Arbeiten sowie Lesungen und Vorträgen an unterschiedlichen Orten angelegt. Es begann mit einem Seminar an der Universidad Internacional de Andalucia (UNIA) letzten Oktober, war im Februar mit einem Kolloquium an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart und mit Texten im Magazin »zehar«, das in San Sebastian erscheint zu Gast. Die Ausstellung in der Fundacio Antoni Täpies in Barcelona läuft von 3. Mai bis zum 14. Juli 2002. Im September (Eröffnung am 15.9.) macht das Projekt im Rotterdamer Witte de With einen Zwischenstopp, um dann unter anderem nach Kairo and Beirut weiter zu wandern.