Douglas Crimps neues Buch »Melancholia and Moralism: Essays on AIDS and Queer Politics« ist eine Seltenheit im heutigen akademischen Betrieb. Es hat mehr von den Bekenntnissen des Augustinus als von konventionellen akademischen Formen - ein zorniger, sehr persönlicher und leidenschaftlicher Bericht über die Kollision zwischen der kühl-distanzierten Haltung der Theorie und der eindringlichen Unmittelbarkeit einer Kultur in der Krise. Die Kultur, um die es geht, ist die der Gay Community in New York und, in weiterem Sinne, von Homosexuellen weltweit, und Crimp führt uns vor, wie man sein persönliches politisches Engagement in die umfassendere, diffuse Sphäre der abstrakten Vernunft einbringen und sich zugleich eine eindeutige Identität als Aktivist und als Wissenschaftler bewahren kann.
Crimps großes Unglück war und ist es, während der AIDS-Krise (seit den frühen achtziger Jahren bis heute) als Akademiker aktiv zu sein. Doch genau das erlaubt ihm auch, mit einer Unmittelbarkeit und Leidenschaft zu schreiben, wie sie andere KunsthistorikerInnen kaum aufbringen können, deren Enthusiasmus sich nur einem mehr oder minder arbiträren Interesse an ästhetischen Dingen verdankt. Im früheren Verlauf seiner Karriere schrieb Crimp über postmoderne Rahmenbedingungen der Fotografie und über institutionelle Kritik, und die wenigen Momente der Kunstkritik in »Melancholia and Moralism« sind wiederum mit diesen Themen befasst (insbesondere »Portraits of People with AIDS« und »The Boys in My Bedroom«). Aber sie sind zu wenige und zu dünn gesät, als dass man dies ein Buch über Kunst oder auch nur über visuelle Kultur nennen könnte. Vielmehr geht es, wie der Titel schon sagt, um »queere« Politik - in jedem Sinn des Wortes »queer« [schwul, merkwürdig, oder einfach nur abweichend, A.d.Ü.].
Politik ist für Crimp, wie er von Beginn an klar macht, explizit persönlich. Eine der größten Überraschungen dieses Buches ist es, dass er weder die AIDS-Epidemie selbst zum primären Ziel seiner Angriffe macht noch die Verweigerungshaltung offizieller amerikanischer Stellen, deren Verschleierungsversuche das öffentliche Bild der Krankheit mit bestimmen. Statt dessen polemisiert er ausführlich gegen Homophobie und insbesondere gegen eine virulente Tendenz, die gerade innerhalb der Gay Community verbreitet ist. Vor allem einige zum Mainstream gehörige schwule Autoren, wie der oberflächliche Randy Shilts und der narzisstische Andrew Sullivan, werden von Crimp heftig attackiert, nicht wegen ihres Opportunismus (im Falle Shilts') oder ihres Konservativismus (im Falle Sullivans), sondern wegen ihrer Art, sich der Melancholie hinzugeben. Crimp versteht Melancholie ganz so, wie Sigmund Freud diesen Begriff definierte: als einen abträglichen Zustand, der eintritt, wenn das Opfer beginnt, sich mit der negativen Beurteilung, die ihm von anderen vorgehalten wird, zu identifizieren. Wenn Crimp also von der »gefährlichen, ja sogar tödlichen Art, wie die Homophobie alle Aspekte unserer Kultur strukturiert«, schreibt (S. 162), meint er nicht die konservativen Kräfte der amerikanischen Rechten, angeführt von Senator Jesse Helms und vom National Institute of Health, sondern die Selbstverleugnungsimpulse dieser prominenten schwulen Autoren, die die schwule Community beschuldigen, sich trotz des unfassbaren Schreckens der AIDS-Infektionen noch immer kindisch und unverantwortlich (das heißt, selbstgefällig und übermäßig sexualisiert) zu verhalten.
Was Crimp nicht eingestehen will, ist, dass Autoren wie Shilts und Sullivan dank ihres etablierten Zugangs zu den Massenmedien in der Lage waren, das Thema AIDS in die Schlagzeilen zu bringen - etwas, das akademischen Autoren, auch Crimp selbst, nie gelungen ist. Crimp als Kunsthistoriker bevorzugt in den hier gesammelten Essays unmissverständlich die Hochkultur gegenüber der Populärkultur, und diese Voreingenommenheit schwächt seine Argumente. So kritisiert er beispielsweise in einem Essay von 1992 eine Ausstellung von Nicholas Nixons Fotografien von Menschen mit AIDS, die 1988 im New Yorker Museum of Modern Art stattgefunden hatte. Nixon, schreibt Crimp, manipulierte das Leben dieser Menschen, er reduzierte sie zu bloßen Symbolen der zerstörerischen Wirkung von AIDS auf den Körper. Zu Recht argumentiert Crimp, dass Menschen mit AIDS nicht als zerlumpte Parias dargestellt werden sollten, um nicht die Resignation angesichts der Krise in den Vordergrund zu stellen, sondern als die stolzen, mutigen und schönen Menschen, die sie immer noch sind. Er schreibt hierzu, er habe »naiver Weise angenommen, die über zehn Jahre hinweg immer wieder vorgebrachte Kritik dieser [Nixons] Art von Fotografie hätte eine gewisse Wirkung [auf den populären Erfolg dieser Art von Fotografie] haben sollen.«
Es stellt sich jedoch die Frage, warum Crimp nicht in gleicher Weise seine naive Einschätzung der Bereitschaft (oder Fähigkeit) eines Großteils des Publikums, seine bevorzugte Art von Kritik zu lesen und sich anzueignen, hinterfragt. Als ein Beispiel seiner bevorzugten Art von Kritik zitiert er eine Passage des Fotografen und Kritikers Allan Sekula - ein Autor, dessen Texte in Mainstream-Publikationen kaum anzutreffen sind. Crimps Unmut über die ungenügende akademische Stringenz anderer Aktivisten steht in einem unangenehmen Gegensatz zu seinem unbezweifelbaren Sinn für Solidarität und seinem Engagement in Sachen AIDS. So müssen wir uns fragen, wie eine Essaysammlung hinsichtlich der effizienten Verbreitung ihrer Botschaft gegenüber einer einzelnen, brutal direkten aktivistischen Aktion abschneidet. Oder gegenüber einem leicht lesbaren, knapp gefassten Artikel auf der Titelseite einer großen amerikanischen Tageszeitung.
Die Antwort ist, gerade in einer so dringlichen Angelegenheit wie der AIDS-Krise, mit einer herben Enttäuschung verbunden. Theorie und ihre AutorInnen werden nur sehr langsam vom Mainstream absorbiert, und neue theoretische Paradigmen treffen unweigerlich, wie der AIDS-Virus selbst, auf kleingeistiges Misstrauen oder gar die unverhohlene Weigerung, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ein Film wie die Kollektivproduktion »Voices from the Front« (für den Crimp kaum ein freundliches Wort findet) erreicht seine Intensität nicht mittels ausführlicher akademischer Diskurse, sondern durch die Eindringlichkeit der zornigen Stimmen der Opfer, von denen die meisten nicht die Muße haben, über Repräsentationspolitik zu debattieren.
Dies mindert nicht die Notwendigkeit von Crimps essentieller Arbeit über AIDS. Doch es wirft ein wichtiges Licht auf die Sache, wenn wir in der Einleitung zu diesem Buch erfahren, dass Crimp selbst seit kurzem HIV-positiv ist. Er schreibt mit bewundernswerter Offenheit über die Bedeutung seiner Infektion nach so vielen Jahren des Aktivismus und der theoretischen Auseinandersetzung mit AIDS. Er diskutiert selbst die Möglichkeit eines Märtyrerkomplexes, dass er sich nämlich mit HIV infiziert habe, um »unbewusst das Paradox meiner stabilen Gesundheit, während ich krank sein 'sollte', schließlich aufzulösen« (S. 15). In dieser pointierten und mutigen Äußerung zeigt sich Crimps letztlicher Triumph über die Degradierung zum Opfer, ein Ziel, auf das er seit jeher in seinen Beiträgen zur AIDS-Problematik hingearbeitet hat. Dass er sich die Theorie als heilbringendes Mittel wählt, kann dabei kaum überraschen. Wie Crimp auf den letzten Seiten des Buchs schreibt: »Die 'queere' Theorie, ebenso wie andere postmoderne Theorien, besagt, dass das Menschsein keine universale und natürliche Daseinsform ist, sondern eine kontingente kulturelle Konstruktion aus historischen, sozialen, sprachlichen und psychischen Kräften. Da sie dies weiß, weiß die 'queere' Theorie auch von der politischen Notwendigkeit, zu verstehen, wie und warum uns unsere Menschlichkeit mittels eben dieser Kräfte vorenthalten wird.« (S. 300)
Crimps Schutzpatron in diesen Fragen ist Saint Michel - das heißt, Michel Foucault (»Saint Foucault« ist auch der Titel eines Buchs von David Halperin). Foucaults theoretische und kritische Arbeiten waren in ähnlicher Weise von seiner sexuellen Identität und von gesellschaftlichen Konstruktionen der Sexualität geprägt. Insbesondere seine Studien über Überwachungs- und Ausschlusssysteme finden ein nachhaltiges Echo in Crimps Weigerung, AIDS als eine spezifisch »schwule« Krankheit zu betrachten, statt als ein Problem, das alle betrifft. So ist es auch nicht überraschend, wenn wir erfahren, dass Foucault sich 1984, dem Jahr seines AIDS-Todes, bereit erklärte, als Gutachter von Crimps Dissertation zu fungieren (die Dissertation erschien später unter dem Titel »On the Museum's Ruins« bei MIT Press, 1993). Und die geistige Schärfe der Achse von Crimps Fortführung des Foucault'schen Denkens im Zeitalter von AIDS erinnert nicht zuletzt an Foucaults intellektuelles Engagement. Crimps Texte erscheinen oft wie eine Verwirklichung von Foucaults Definition der Arbeit als »dasjenige, was in der Lage ist, im Feld des Wissens einen signifikanten Unterschied einzuführen, auf Kosten einer gewissen Schwierigkeit für Autor und Leser, die jedoch letztlich durch einen besonderen Genuss kompensiert wird, nämlich durch den Zugang zu einer neuen Figur der Wahrheit.« Crimp begreift und ergreift diese Spannung und dieses Unbehagen, und indem er uns seine und unsere eigene Beschämung spüren lässt, führt er uns zu einem höheren Grad der Erkenntnis: Schwierig, gewiss, letztendlich aber lohnenswert.
Übersetzt von Christoph Hollender