Heft 3/2002 - Cosmopolitics


Totaler Krieg gegen den absoluten Feind

Der 11. September und die neue Weltordnung

Klaus Ronneberger


Nach den Anschlägen vom 11. 9. 2001 haben die Vereinigten Staaten dem Terrorismus den Krieg erklärt. Angesichts der vielen Kriege, die von US-Präsidenten in den letzten Jahrzehnten ausgerufen wurden - vom Krieg gegen die Armut bis zum Krieg gegen die Kriminalität -, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich lediglich um eine rhetorische Geste handelt. Doch der Kampf gegen den Terror weist eine völlig neue Qualität auf. Als integraler Bestandteil der nationalen Sicherheit wird die »innere Sicherheit« zunehmend außenpolitisch und militärisch definiert. Hatten die anderen westlichen Staaten bislang großen Wert darauf gelegt, dass es sich bei der Terrorismusbekämpfung um die Ahndung krimineller Akte handelt, so betonten die USA spätestens seit dem 11. September, sich im offenen Kriegszustand zu befinden.

Worin liegen die Vorteile, den Begriff des Krieges ins Spiel zu bringen? Indem die Unterschiede zwischen Feind und Verbrecher aufgehoben werden, lassen sich die Beschränkungen, die einem Staat auf nationaler und internationaler Ebene bei der Terrorismusbekämpfung auferlegt sind, außer Kraft setzen. Innenpolitisch gelten die Terroristen als pathologische Gewalttäter, die jeglichen Anspruch auf Grundrechte verwirkt haben. Außenpolitisch werden sie als Kriegspartei vorgestellt, gegenüber der man das Recht auf Selbstverteidigung wahrnimmt. Die Kriegserklärung dient nicht dazu, den Attentätern den Status von gleichberechtigten Kombattanten zuzubilligen, sondern sie soll das Politische als alternative Option gänzlich ausschließen. Der islamische Terrorist ist der absolute Feind, der in existentieller Weise das »Eigene« negiert. Präsident Bush: »Diese Terroristen töten nicht allein, um menschliches Leben auszulöschen, sondern um eine ganze Lebensart zu zerstören. Sie hassen unsere Freiheit.« Deshalb müsse die amerikanische Nation, so ein Berater des US-Präsidenten, einen »totalen Krieg« führen. Diese Sprache des totalen Krieges widerspricht allerdings der erklärten Absicht des Westens, einen klar begrenzten Kampf gegen ausgewählte Gruppen zu führen, statt dessen werden immer weitere Interventionsziele und neue Feinde ausgemacht.

Das Kalkül der US-Administration ist bislang aufgegangen: Durch die Verknüpfung von »Terrorismus« und »Krieg« konnte das Instrumentarium der Gewaltmittel in hohem Maße mobilisiert werden. Die internationale Staatengemeinschaft gab ihren Segen für ein militärisches Vorgehen, gleichzeitig verabschiedete der US-amerikanische Kongress am 14. September eine Resolution, bei der es sich um eines der weitgehendsten Ermächtigungsgesetze für einen Präsidenten handelt, die es je in der amerikanischen Rechtsgeschichte gab.

Das Gewaltverbot

Nichts wäre irreführender als die Vorstellung, rechtliche Normen seien eine Richtschnur für das außenpolitische Handeln der US-Regierung, insbesondere wenn es um fundamentale nationale Interessen geht. Völkerrechtswidrige Interventionen haben in den USA eine lange historische Tradition. Immer wieder sanktionierten Präsidentendoktrinen den Einsatz militärischer Mittel zum Wohle der Nation. Für die 1980er Jahre sei hier nur an die fortgesetzten Einmischungen in Nicaragua, die Invasion auf Grenada oder den Überfall auf Panama erinnert.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der bipolaren Weltordnung betont die verbliebene Supermacht USA ihre besondere Stellung gegenüber den Vereinten Nationen. Eindeutig ist in dieser Hinsicht etwa die Erklärung des US-Senators Helms, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Senats, vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000: »Keine Institution, kein Gremium der Vereinten Nationen, weder der Sicherheitsrat, das Jugoslawien-Tribunal noch ein zu gründender Internationaler Strafgerichtshof sind kompetent, über die Außenpolitik und die Entscheidungen zur nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten ein Urteil abzugeben.« Diese Haltung hat sich seit den Anschlägen vom 11. 9. 2001 noch verhärtet. So haben die Vereinigten Staaten am 12. Juli 2002 beim Sicherheitsrat durchgesetzt, dass die Nationen, die das Statut des Internationalen Gerichtshofs nicht ratifiziert haben - darunter die USA, Russland und China -, Immunität vor dem Tribunal besitzen. Damit gibt es nun im Völkerstrafrecht ein Zweiklassenmodell. Vorsichtshalber wurde vom Senat noch das so genannte Invasionsgesetz (»The Hague Invasion Act«) als Teil der Gesetzesvorlage »American Servicemembers Protection Act« beschlossen. Danach können US-amerikanische Staatsbürger, die sich vor dem Internationalen Gerichtshof zu verantworten haben, wenn nötig, mit Waffengewalt befreit werden.

Das internationale Recht stellt für die USA lediglich ein mögliches Instrument unter anderen dar. So haben die Vereinigten Staaten nach den Anschlägen vom 11. September eine breite Anti-Terror-Koalition unter der Ägide des Sicherheitsrates geschaffen, gleichzeitig finden eigenständige militärische Aktionen statt, zu denen von Fall zu Fall ausgesuchte NATO-Partner für bestimmte Hilfsleistungen hinzugezogen werden. Ein strategisches Ziel der amerikanischen Kriegsrhetorik besteht darin, im Völkerrecht einen Paradigmenwechsel durchzusetzen und das Gewaltverbot zugunsten des »Rechts auf Kriegsführung« zurückzudrängen. Von militärischen Mitteln gegebenenfalls Gebrauch zu machen, ist kein ausschließliches Privileg der Weltmacht USA. Man denke beispielsweise an die »selbstmandierte« Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO. Der deutsche Außenminister Fischer hatte damals betont, dass der UN-Sicherheitsrat die »falsche Institution für das Gewaltmonopol im 21. Jahrhundert« sei. Ebenso ließ der NATO-Generalsekretär Solana verlauten, die Allianz werde außerhalb des Bündnisgebietes gegebenenfalls auch ohne Erlaubnis der UN militärische Gewalt anwenden.

Für den Einsatz von Gewalt kennt die UN-Charta nur zwei Ausnahmen: zum einen das Recht auf Selbstverteidigung, zum anderen die Autorisierung durch den Sicherheitsrat. Das Recht auf Selbstverteidigung wird von der Charta an zwei Bedingungen geknüpft: den Tatbestand eines »bewaffneten Angriffs auf einen Staat« und das Fehlen einer Sicherheitsratsintervention. Selbstverteidigung muss dabei auf die Abwehr eines Angriffs zielen, sie muss unmittelbar auf den Angriff folgen. »Selbstverteidigung«, die erst einige Monate nach Anschlägen erfolgt, fällt deshalb unter die Kategorie der Vergeltungsschläge, die völkerrechtlich verboten sind. Bei »präventiven Interventionen«, die vor einem bloß antizipierten Anschlag stattfinden, handelt es sich um reine militärische Aggression.

Auch hier ist die Kriegsrhetorik hilfreich. Die Idee des Krieges impliziert Dauerhaftigkeit, und aus der Sicht der USA handelt es sich bei ihrer Selbstverteidigung um einen Krieg, der bereits vor einigen Jahren begonnen hat. Mit der Vergeltung vergangener Anschläge schütze man sich vor neuen Anschlägen. Die Betonung der zeitlichen Dimension zeigt sich auch im aktuellen Kriegsszenario: Nach eigenen Angaben zieht die US-Administration Militäraktionen gegen sechzig Staaten in Erwägung. Der Krieg soll so lange geführt werden, bis der Terrorismus weltweit besiegt ist - und das kann Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte dauern. Hat man sich aber erst einmal des Unmittelbarkeitsgebotes entledigt, lässt sich der Akt der Selbstverteidigung zeitlich völlig entgrenzen. Diese Legitimierung von permanenter Waffengewalt untergräbt so eines der im UN-Recht am eindeutigsten definierten internationalen Verbote.

Darüber hinaus ist nach dem Völkerrecht Selbstverteidigung immer auf Staaten bezogen. Am 11. September war aber keine Staatsmacht zugange, sondern die Twin Towers wurden von einem »transnationalen Terrornetzwerk« attackiert. Indem man nun das Attentat als eine »neue Art des Krieges« vorstellt, lässt sich eine Umdeutung vornehmen: weg von der Selbstverteidigung gegenüber Terroristen, hin zu einer Selbstverteidigung gegenüber all jenen Staaten, die als Störenfriede der »Pax Americana« gelten (»Achse des Bösen«).

Die amerikanische Außenpolitik folgt der Idee, dass nur durch Schutz und Förderung von Freiheit, Demokratie und Frieden (so wie sie die USA versteht) im Ausland das Wohl des eigenen Landes garantiert werden kann. Seit ihrer Unabhängigkeit betrachten sich die Vereinigten Staaten als das »Neue Jerusalem, vom Himmel gesandt«. Für die Mehrheit der Amerikaner stellt es keinen Widerspruch dar, die nationale Außen- und Sicherheitspolitik mit einer globalen Ordnungspolitik gleichzusetzen. Sie sind vielmehr der Überzeugung, dass die Sache der Nation die Sache der Menschheit ist. Zwischen den Idealen der USA, die für sie universell sind, und ihren Interessen, die partikular sind, zu unterscheiden, erscheint ihnen deshalb als völlig unsinnig.

Das Offenhalten aller Möglichkeiten, vor allem hinsichtlich der Alternative von Recht oder Politik, kann sich nur eine Hegemonialmacht leisten. Es ist nicht denkbar, dass sich die Großmächte, und noch weniger die imperiale Weltmacht USA, auf einen Kodex von festen Normen und Begriffen festlegten, die eine außen stehende Institution wie die UN gegen sie selbst einsetzen könnte. Vielmehr ist man es selbst, der definiert, interpretiert und anwendet. Das »Imperium der Freiheit« kann keiner moralischen oder rechtlichen Bewertung unterliegen, weil es selbst die Moral und das Recht ist.

Die neue amerikanische Militärstrategie

Zu jedem Imperialismus gehört das selbstverständliche Recht auf Intervention. Symptomatisch ist dafür die Debatte über einen Präventivschlag gegen den Irak, die ohne Berücksichtigung der geltenden Völkerrechtsordnung geführt wird. Dass einer Invasion rechtliche Gesichtspunkte entgegenstehen könnten, spielt in der amerikanischen Öffentlichkeit, und nicht nur dort, keine Rolle. Man wägt lediglich die Vor- und Nachteile einer Militäraktion ab. Wie üblich rechtfertigen die USA einen möglichen Angriff auf den Irak als einen Akt präventiver Selbstverteidigung. Aber niemand kann behaupten, dass eine aktuelle Kriegsgefahr von diesem Land ausgeht.

Die Drohungen gegenüber dem irakischen Regime stehen zugleich für eine neue Militärstrategie der USA. Anfang des Jahres skizzierte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld an der National Defense University die veränderten Optionen: »Um uns auf die Zukunft vorzubereiten, haben wir ebenfalls beschlossen, die sog. bedrohungsorientierte Strategie durch eine fähigkeitsorientierte Strategie zu ersetzen (...) Unser Ziel ist nicht einfach (...) Kriege zu gewinnen, sondern zu versuchen, Kriege zu verhindern (...) Gegner abzuschrecken, nicht nur davon, existierende Waffen zu benutzen, sondern auch davon, sich gefährliche neue Kapazitäten aufzubauen.«

Die USA beanspruchen für sich nichts weniger als das globale Gewaltmonopol. Schon nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte die damalige US-Administration Überlegungen angestellt, wie man langfristig die Konkurrenzfähigkeit einer anderen Macht oder eines anderen Machtblocks verhindern könnte. Der 11. September traf auf eine Regierung, die den Krieg gegen den Terrorismus auch zum Nutzen des Imperiums zu führen gedachte. Nun ließen sich eine Reihe von Problemen angehen, die wenig mit der terroristischen Bedrohung, aber viel mit der Sicherung der eigenen Vormachtstellung zu tun hatten. Der weltweit ausgerufene Krieg gegen den Terrorismus zwang die rivalisierenden Mächte, eine amerikanische Expansion hinzunehmen, der sie sich unter anderen Umständen widersetzt hätten. So konnten sich die USA in Regionen militärisch festsetzen, die vormals zur Einflusssphäre Russlands gehörten.

Die Wiederkehr des »gerechten Krieges«

Die Terrorakte vom 11. September haben auch die Idee des Kreuzzugs wieder zum Leben erweckt. Präsident Bush: »Der Verlauf dieses Konflikts ist noch ungewiss, aber sein Ausgang ist sicher. Freiheit und Angst, Gerechtigkeit und Grausamkeit befinden sich stets im Krieg, und wir wissen, dass Gott hierbei keine neutrale Position einnimmt.« Der Codename »Infinite Justice« - so die erste offizielle Bezeichnung des Kriegsprogramms, mit dem die US-Regierung auf die Anschläge reagierte - kommt nicht von ungefähr. Der Begriff ist der frühchristlichen Bibelexegese entnommen, in der er als eine Umschreibung für »Gott« verwendet wurde: »Mögest Du, der die unbegrenzte Gerechtigkeit ist, niemals zulassen, dass wir zu Störern der Gerechtigkeit werden«, lautet ein Gebet des Heiligen Isidor gegen die Häresie aus dem 7. Jahrhundert. Auch hatte Bush bei der Ausrufung seines Feldzuges gegen den Terrorismus angekündigt, es werde ein Armageddon geben. Das Wort stammt aus der Offenbarung des Johannes. Dort geht es um das bald zu erwartende Ende der Welt, mit dem nach der Überwindung des Satans und Antichristen das Reich Gottes zu seiner Vollendung geführt werden soll. Die christlichen Fundamentalisten in den USA erwarten nach dem »Endkampf« in Armageddon ihre Auferstehung als Gerechte.

Während die US-Regierung Gott den Allmächtigen auf ihrer Seite weiß, haben auch amerikanische Intellektuelle die Idee des »gerechten Krieges« aus der ideologischen Waffenkammer geholt. In einem »offenen Brief«, der von Protagonisten des akademischen Establishments - darunter Huntington, Fukuyama und Walzer - unterschrieben und vom Institute for American Values herausgeben wurde, findet man die Aussage, dass gerechte Kriege unabdingbar sein können, um die Menschenwürde zu schützen. Unter Berufung auf die Argumentation des Kirchenvaters Augustinus erklären sie die militärische Verteidigung von Unschuldigen gar zur moralischen Pflicht. Keine andere Nation als die USA habe ihre Identität »so direkt und ausdrücklich mit den universalen Menschenrechten verbunden. (...) Wir kämpfen, um uns selbst zu verteidigen, aber wir sind überzeugt, dass wir dabei auch kämpfen, um die universalen Prinzipien der Menschenrechte und menschlichen Würde zu verteidigen, die die größte Hoffnung für die Menschheit darstellen.«

Die Kriegsführung der Vereinigten Staaten wird als Mission für die Freiheit der Menschen vorgestellt, der imperiale Anspruch der Hegemonialmacht geleugnet. Um es mit Carl Schmitt zu sagen: »Wer Menschheit sagt, will betrügen.«

Humanitäre Intervention

Konservative Denkschulen in den USA fordern die amerikanische Regierung auch dazu auf, ihre Autorität als »Neues Rom« einzusetzen, um ihre Bestimmung als »Neues Jerusalem« zu erfüllen. Einige Regionen der Welt seien zu einer eigenständigen Modernisierung nicht mehr in der Lage. Deswegen bestehe nun die Aufgabe der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten darin, diesen Ländern mit einem »gutwilligen Imperialismus« auf die Sprünge zu helfen.

Die Ideologie von der wohltätigen Vorherrschaft findet man hierzulande unter der Formel »humanitäre Intervention« wieder, die nach dem zweiten Golfkrieg als neues Prinzip in das Völkerrecht aufgenommen wurde. Zu dieser Strategie bekennen sich insbesondere ehemalige Linke und Pazifisten aus dem rot-grünen Lager. Die Protagonisten stützen sich dabei auf eine Zustandsbeschreibung à la Hobbes: Die südliche Hemisphäre, insbesondere Afrika, befinde sich in einem Stadium des Staatenzerfalls, der privatisierte und gesetzlose Gewalt freigesetzt habe. Wie im Europa des 17. Jahrhunderts bedürfe es zur Beendigung dieses Zustandes eines neuen »Leviathans«. Da die zerfallenden Staaten nicht mehr über ein nationales Gewaltmonopol verfügten, müsse eine übergeordnete Instanz eingreifen. Angesichts des vorherrschenden Chaos sei ein Pochen auf herrschendes Völkerrecht und Staatensouveränität völlig obsolet. Die Priorität der Menschenrechte erzwinge vielmehr immer häufiger militärische Interventionen mit Hilfe einer Art Weltpolizei.

Man muss an dieser Stelle kurz an das Verhältnis der 68er zur »Dritten Welt« erinnern. Ein umfassender Begriff von Emanzipation war für die Neue Linke nur durch die Berücksichtigung der Länder des Trikonts überhaupt vorstellbar. Die heimische Arbeiterklasse galt als integriert, da sie von dem imperialen Ausbeutungssystem selbst profitierte. Das wahre Wissen um die »Herr-Knecht-Dialektik« schien vom Industrieproletariat auf die »Verdammten dieser Erde« - die Befreiungsbewegungen von Vietnam bis Angola - übergangen zu sein. In messianischer Überhöhung formulierte Bahman Nirumand vom Sozialistischen Studentenbund Deutschland damals, die Dritte Welt werde die »erste Welt des Menschen und somit das Ende der bisherigen Welt sein«.

Bei aller Überspanntheit solcher Projektionen wurde zumindest den ausgebeuteten und unterdrückten Menschen in den Peripherien ein politischer Subjektstatus zuerkannt. Dies hat sich heute völlig umgekehrt. Bestenfalls findet man im kirchlich-grünen Umfeld noch paternalistisch-caritative Versatzstücke. Die marxsche Formel, dass niemand von anderen, »von oben befreit oder emanzipiert werden kann, ist weit gehend in Vergessenheit geraten. Vielmehr dominiert eine Herrenposition, die um die »unverschleierte Würde des Westens« (»Der Spiegel«) weiß, die sich einer zivilisatorischen Überlegenheit verdankt.

Bei den »Interventionisten« dominiert die Ansicht, dass für die Durchsetzung des neuen Weltfriedens nur die NATO in Betracht kommt. Da es um die Erzwingung von universellen Normen und Rechtsvorstellungen gehe, verwische sich deshalb auch der Unterschied zwischen Militär und Polizei. Mit Hilfe dieser »Friedensarbeit« beuge man zugleich dem drohenden Ansturm der »Habenichtse« auf die Wohlstandsinsel Europa vor.

Westliche Menschenrechtspolitik folgt den selektiven Vorgaben politischer Opportunität: Während Migranten und Flüchtlingen das Recht auf Bewegungsfreiheit abgesprochen wird, finden Interventionen vornehmlich da statt, wo metropolitane Sicherheitsbelange oder die »Friedensökonomie« der OECD-Staaten bedroht erscheinen. Ob »gerechter Krieg« oder »humanitäre Intervention«, in beiden Fällen wird die Gewalt des Krieges sowohl banalisiert als auch als ethisches Mittel überhöht.

Der innere Feind

Schon seit einigen Jahren kann man in allen westlichen Staaten eine wachsende Bedeutung der »inneren Sicherheit« beobachten, die mit einem erheblichen Abbau von Freiheitsrechten einher geht. Unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September sind eine weitere Reihe von Gesetzen und Maßnahmen beschlossen worden, die fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze außer Kraft setzen. So verstößt der Umgang der Vereinigten Staaten mit den gefangenen Kämpfern auf dem kubanischen Militärstützpunkt Guantanamo gegen alle rechtliche Normen. Die US-Behörden behandeln die Häftlinge weder als Kriegs- noch als Strafgefangene. Sie gelten als »ungesetzliche Kämpfer«, die dem völligen Gutdünken der Militärbehörden ausgeliefert sind. Ihre Existenz in dem Lager ist auf das »nackte Leben« reduziert. Noch »diskutiert« die US-Regierung darüber, wie sie die Gefangenen rechtlich einzustufen gedenkt und mit ihnen verfahren möchte. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht steht im völligen Widerspruch zur Genfer Konvention, die auch für Mitgliedern irregulärer Streitkräfte im Falle ihrer Gefangennahme eine Reihe von Rechtsgarantien vorsieht. Amerikanische Regierungsvertreter verweisen jedoch darauf, dass es sich bei den Terroristen um Kriegsverbrecher handle, die nicht den gleichen Schutz beanspruchen könnten, wie er Angeklagten im Strafverfahren zuteil werde.

Innenpolitisch gibt der Krieg dem amerikanischen Präsidenten die Möglichkeit, den »nationalen Sicherheitsstaat« auszurufen. Mit der Errichtung des so genannten »Heimatschutzministeriums« unternimmt die Bush-Administration die weitgehendste Regierungsreform seit einem halben Jahrhundert. Von der Küstenwache über die Einwanderungsbehörde bis zu den Geheimdiensten soll alles zu einer Riesenbehörde zusammengefasst werden. Zu den umstrittensten Bestimmungen bei der Schaffung des neuen Ministeriums gehört das »Terrorism Information and Prevention System« (TIPS), für das die Sicherheitsbehörden gerade rund eine Million Amerikaner als Informanten rekrutieren. Postboten, Lastwagenfahrer, Handwerker sollen Informationen über verdächtige Personen und Vorkommnisse sammeln.

Gleichzeitig haben mit der Verabschiedung des »USA Patriot Act« der Kongress und der Senat auf einen Teil ihrer Machtbefugnisse verzichtetet. Die Grundsätze des aufgeklärten Strafverfahrens stehen nun unter Kriegsvorbehalt: Verdächtige Ausländer bleiben ohne Anklage inhaftiert, falls der Justizminister »eine Gefahr für die Sicherheit der Nation« ausmacht. Wer in den Verdacht gerät, Terrorist zu sein, hat nahezu jeden Anspruch auf Rechtstaatlichkeit verwirkt. Von den über 1200 Menschen, die nach dem 11. September in den USA festgenommen wurden, sitzen viele immer noch in Haft, ohne die gegen sie vorgebrachte Anklage zu kennen. Weder die Inhaftierten noch ihre Angehörigen erhalten Akteneinsicht. Der mächtigen amerikanischen Einwanderungsbehörde ist es zudem erlaubt, Ausländer selbst dann noch hinter Gittern festzuhalten, wenn der Richter ihre Freilassung angeordnet hat. Die Behörde muss nur angeben, dass sie den Verdächtigen für ein Sicherheitsrisiko hält.

Am weitesten geht aber die Anweisung von Präsident Bush, wonach die Terroristen nicht von Zivilgerichten, sondern von militärischen Schnelltribunalen abgeurteilt werden sollen. Während für US-Bürger mit terroristischem Hintergrund die normale Justiz zuständig ist, kommen Ausländer künftig vor eine Art von Femegericht. Die ohne Konsultationen des Obersten Gerichtshofs eingerichteten Tribunale sind befugt, auf der Grundlage von geheimen Zeugenaussagen und Beweisstücken Haftbefehle gegen »Terroristen« und »Kriegsverbrecher« zu erlassen und diese anschließend abzuurteilen, wobei allein die Exekutive bestimmt, wer als Terrorist zu gelten hat. Die Schnellgerichte tagen hinter verschlossenen Türen und können Todesurteile mit einfachem Mehrheitsbeschluss fällen. Eine Berufung ist nicht möglich. Indem dem Obersten Gerichtshof faktisch sein Amt als höchste Schiedsinstanz genommen wurde und der Kongress seiner eigenen Entmachtung zugestimmt hat, ist das Prinzip der Gewaltenteilung grundlegend in Frage gestellt. Präsident Bush hat sich mit dieser Anordnung quasi diktatorische Vollmachten angeeignet. Unter Missachtung aller rechtsstaatlicher Grundsätze kann man von einer »parallelen Gerichtsbarkeit« sprechen, die insbesondere Ausländern das Recht auf Gleichbehandlung abspricht.

Wie in allen anderen europäischen Ländern sind auch in Deutschland nach dem 11. September die Sicherheitsmaßnahmen verschärft und die Kompetenzen der einschlägigen Behörden gestärkt worden. Insbesondere kam es zu einer Reihe von Gesetzesnovellierungen, die den Status und die Aktivitäten nicht-deutscher Bürger betreffen. Mehr noch als bisher ist diese Gruppe von Menschen am intensivsten einer staatlichen Überwachung ausgesetzt. Unter anderem wurde das sogenannte Vereinsprivileg für religiöse Gesellschaften aufgehoben und dem §129a StGB - ein Überbleibsel aus der RAF-Zeit - der 129b hinzu gestellt, um damit einen strafrechtlichen Zugriff auf ausländische terroristische Vereinigungen zu ermöglichen. Wer von diesem Ermittlungsparagraphen betroffen ist, obliegt der Regierung, die dabei nach politischen Opportunitätsgründen verfahren kann. Ob es lediglich islamistische Organisationen betrifft oder gegebenenfalls auch die Unterstützung der Zapatisten verfolgungswürdig erscheint, bleibt offen.

Kurz nach dem 11. September fand auch eine bundesweite Rasterfahndung statt, um mögliche »Schläfer« zu identifizieren. Behörden, Ausbildungs- und Arbeitsstätten wurden verpflichtet, Daten über Personen aus insgesamt 15 Staaten des arabischen Raums zu liefern. Bei der Aktion operierten die Ermittlungsrichter lediglich mit zwei Vorgaben: »vermutlich islamische Religionszugehörigkeit und vermutlich legaler Aufenthaltsstatus in Deutschland«. Die Ergebnisse dieser massenhaften Datenerfassung von Ausländern dürften am Ende vor allem für den Verfassungsschutz, aber kaum für die Strafverfolgung von Interesse sein.

Wie in den USA ist der »Araber« sowohl der innere wie der äußere Feind.

Die imperiale Weltordnung

Die Anschläge vom 11. September haben die Durchsetzung der neuen Weltordnung erheblich beschleunigt. Die gegenwärtigen globalen Machtverhältnisse zeichnen sich durch eine dreistufige Hierarchie aus: An der Spitze befindet sich die Supermacht USA, die sich den weltweiten Einsatz von Gewalt vorbehält. Darunter folgt eine Gruppe von Nationalstaaten, die gemeinsam - manchmal im Konflikt - mit den Vereinigten Staaten die wichtigen Wirtschaft- und Finanzinstitutionen kontrolliert und mittels militärischer Bündnissysteme ihre globalen Sicherheitsinteressen durchzusetzen versucht. Schließlich die Außenbezirke des Imperiums, die in unterschiedlich abgestufte Interventionsräume aufgeteilt sind. Je nach Bedarf und politischer Opportunität finden hier »Befriedungs-« und »Pazifizierungsaktionen« statt. Auch wenn der Westen beteuert, es handle sich nicht um einen »clash of civilizations«, so produziert der Krieg gegen den Terrorismus eine weitere Degradierung der »Dritten Welt«. Es ist kein Krieg zur Verteidigung universeller humanitärer Werte, sondern zur Durchsetzung imperialer Sicherheitsinteressen. 1

 

 

1 Verkürzte Version des Vortrags für »Nitribitt - Frankfurter Ökonomien«, am 12. 8. 2002 in Frankfurt am Main