Heft 4/2002 - Fernost


Danke, Rasa Todosijevic!

Zur Retrospektive von Rasa Todosijevic im Museum für zeitgenössische Kunst (MOCA) Belgrad

Branislav Dimitrijevic


»Seinen Rücken dem Publikum zugewandt, stand er vor einem Mikrofon, in das er in verschiedenen Stimmlagen und Tonfällen immer und immer wieder dieselbe Frage flüsterte, brüllte, zeterte, schrie, flehte, betete oder einfach nur fragte: ›Was ist Kunst?‹, während er einen handgeschriebenen Spickzettel anstarrte, auf dem eben diese Worte in kräftigen Strichen geschrieben standen. Zugleich saß eine Frau (Marinela Kozelj) ausdrucks- und wortlos dem Publikum gegenüber, und ein Mann stand mit einem schwarzen Tuch über Kopf und Schultern sowie einem Strick um den Hals da. Die Aktion dauerte ungefähr 25 Minuten, bis die sonst so kraftvolle, jetzt aber tiefe und heisere Stimme des erschöpften Todosijevic kaum noch hörbar war. Dies alles war unerträglich anzusehen und anzuhören.«
So beschreibt Kristine Stiles die Performance »Was ist Kunst?« [im Orig. deutsch] 1977 in Wien, die eine der vielen Versionen von Rasa Todosijevics Projekt »Was ist Kunst?« darstellte. Eine große Retrospektive dieses wichtigen Künstlers im MOCA Belgrad zeigt auch Dokumentationsfotos und Videoaufnahmen dieses Ereignisses, etwa ein Video aus der Sammlung des Museums – auf der man sieht, wie dem Gesicht Marinela Kozeljs durch Schläge des Künstlers zugesetzt wird, während dieser aus dem Off »Was ist Kunst?« brüllt. Die Ausstellung verfolgt, entdeckt und rekonstruiert Todosijevics Aktivitäten von den frühen siebziger Jahren an, als er Teil einer losen KünstlerInnengruppe im Zusammenhang mit dem Belgrader StudentInnenkulturzentrums (SKC) war, das eine »neue Kunstpraxis« in Serbien proklamierte und auch ein wichtiger internationaler Ort für radikale Konzeptkunst war, bis hin zu seinen neueren Projekten wie der legendären Serie »Gott liebt die Serben« [im Orig. deutsch],
die Mitte der achtziger Jahre begonnen wurde. Der sorgfältige Kurator dieser Retrospektive, Dejan Sretenovic, hat unlängst auch ein Buch über die Arbeit des Künstlers verfasst.
Mit seinem Projekt »Was ist Kunst?« reflektierte Rasa Todosijevic nicht nur die lokale Situation in Bezug auf Aufstieg und Fall jener »neuen Kunstpraxis«, sondern präsentierte auch eine Zusammenfassung einer legendären Ära, die mit so bahnbrechenden Sätzen wie Kosuths »Kunst als Idee als Idee« [»Art as an Idea as an Idea«] begann. Todosijevic war jener Künstler, der mit einer die »neue Kunstpraxis« umklammernden Vorstellung von Pathos brach – einem Pathos, das entstand, als der anfänglich radikale Impuls dieser »Kunstpraxis« einen Punkt erreichte, an dem es kein Zurück mehr gab. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre entwickelte sich die ideologische Basis dieses künstlerischen Unterfangens generell in zwei Richtungen: Entweder man rief dazu auf, das Ausstellen überhaupt aufzugeben und sich strikt ideologischen Themen zuzuwenden, oder man verfolgte die analytischeren und oft minimalistischen Tendenzen des Projekts weiter. Rasa Todosijevic aber hatte eine eigenwilligere, zynischere Art, und so wurde die Desillusion sein Antrieb für spannende und anspruchsvolle Arbeiten, die ihn nicht nur in die achtziger Jahre führten, sondern auch viele Projekte im ehemaligen Jugoslawien beeinflussten, unter anderem das Kollektiv »Neue Slowenische Kunst«. »Was ist Kunst?« verwendete einige traditionelle künstlerische Strategien wie
etwa die Dialektik zwischen KünstlerIn und Modell (das »natürlich« weiblich ist) oder zwischen Anspruch und Interpretation künstlerischer Leistungen. Die entscheidende Errungenschaft seines Projekts lag jedoch in der Untersuchung der Politik der Kunst (nicht der politischen Kunst), indem er auf den Interpretationsnotstand in Bezug auf eine Kunst abzielte, die Aufruhr, Einschüchterung und Arroganz beinhaltete. Wenn die Konzeptkunst auch mit so heroischen Begriffsbestimmungen wie jener Kosuths begann, so endete sie mit der quälenden Frage: »Was ist Kunst?« – Natürlich auf Deutsch, denn welche andere Sprache würde ähnlich unzweifelhaft ein totalitäres Erbe heraufbeschwören?
Die Gründung des StudentInnenkulturzentrums in Belgrad resultierte aus den Protesten von 1968. Als Möglichkeit, die wachsende Unzufriedenheit der jungen Generation mit den Autoritätsformen des sozialistischen Systems zu befrieden, das sowohl wirtschaftlich als auch in Bezug auf das
fragile Gleichgewicht der Nationalidentitäten Risse bekommen hatte, gab man den Studierenden einen Kulturtreffpunkt, um ihre politische Unzufriedenheit mittels marginaler Kulturexperimente zu kanalisieren. Das SKC wurde 1971 eröffnet, und noch im selben Jahr organisierte man eine Reihe von Ausstellungen, die junge aufstrebende KünstlerInnen versammelten, aus denen sich wiederum eine informelle Gruppe von sechs Leuten bildete, zu der Marina Abramovic, Nesa Paripovic, Rasa Todosijevic, Zoran Popovic, Gergelj Urkom und Era Milivojevic zählte. Die meisten von ihnen waren schon zu Studienzeiten in den späten sechziger Jahren befreundet gewesen und standen bereits in voller Konfrontation mit dem akademischen System. Zoran Popovic fasste die künstlerische und politische Situation, in der sie sich befanden, später zu zwei Haupttendenzen zusammen. Einerseits gab es die Forderung, dass Kunst in der revolutionären Gesellschaft innerhalb der allgemeinen Verpflichtung zum sozialistischen Aufbau sozial nützlich sein sollte, und andererseits war da der Anspruch, dass echte Kunst ausschließlich die Verpflichtung haben sollte, formale Probleme des Kunstmachens zu erforschen: »Als neue Generation der Kunstszene befanden wir uns vorgeblich zwischen zwei gegensätzlichen Ideen, die jedoch beide gesellschaftlich etabliert waren.« Mit anderen Worten war diese KünstlerInnengeneration die erste, die die verschiedenen dissidenten Formationen in der serbischen Gesellschaft als integrale, ja fast konstitutive Elemente der herrschenden Strukturen erkannte. Diese Generation war auch die erste, die die Zusammenhänge zwischen Kunst und Politik auf eine neue, dritte Art und Weise zu denken begann, und das Aufkommen ihrer Kunst stellt gewissermaßen die erste Form einer linken Kulturkritik dar (obwohl sich viele ihrer ProtagonistInnen selbst nicht als »links« deklarieren würden), die für fundamentale Veränderungen in der gesellschaftlichen Rolle von KünstlerInnen und für die Einbeziehung des echten Lebens in die Kunst eintrat.
Für Rasa Todosijevic war der bürokratische Apparat des Kommunismus, der den mittelmäßigen Status quo auf den Kunstakademien und den öffentlichen Diskurs über Kunst bestimmte, kein größeres Angriffsziel als die von der Bourgeoisie stammenden akademischen Maßstäbe aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die die professionelle und öffentliche Kulturdiskussion der Ära Titos genauso stark prägte. Er bezeichnete diese Maßstäbe als »pompös« und verwies damit auf die reaktionäre Kunst der französischen Restaurationsepoche. Damit nahm er an den berüchtigten Unruhen an der Belgrader Kunstakademie teil, die immer noch für ihre konservative Haltung und die Glorifizierung der kanonischen Figuren der Moderne wie Pablo Picasso bekannt war. Letzterer wurde öfters zu einer geradezu emblematischen Figur für Todosijevics Kritik. In den siebziger Jahren hinterfragte er auch das internationale Kunstsystem mit Texten und Aussagen wie dem bekannten »Edinburgh Statement« von 1975, das den Untertitel »Wer profitiert von Kunst und wer gewinnt ehrlich etwas aus ihr?« [»Who makes a profit on art, and who gains from it honestly?«] trug. Der Text zählt alle auf, die am Geschäft mit Kunst beteiligt sind, vom »Tischler, der die Rahmen, Holzgestelle etc. macht«, über »jene, die Drogen, Verbandszeug, Alkohol, Verhütungsmittel, Zigaretten und Sportgeräte produzieren und an die KünstlerInnen verkaufen«, bis hin zu den »PhilosophInnen, die zwar über Kunst schreiben, sie aber doch niemals wirklich verstehen«, und den »Verwaltern der Förderungen, die als einmonatige, einjährige oder hundertjährige Stipendien an Lakaien, Speichellecker, reichere Kinder und stramme Epigonen vergeben werden«. Wie hat er es noch in einem anderen Text mit dem Titel »Kunst und Revolution«, der in der Schlüsselpublikation zur versuchten ideologischen Definition der »neuen Kunstpraxis« (»October« ’75) publiziert wurde, ausgedrückt? »In ethischen, politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen schärft und bekräftigt die Kunst ihre Bedeutung«.
Nichtsdestotrotz muss man bei der ideologischen Positionierung von Todosijevics Aktivitäten vorsichtig sein. Man kann sich nämlich leicht dazu verleiten lassen, Todosijevic einfach als weiteren dissidenten Künstler zu sehen, als typisches Produkt des Realsozialismus, das heute eingedenk der idealisierten Bilder wie jenem Vaclav Havels abgefeiert wird. Wenn man über Dissidenten in Titos Jugoslawien spricht, muss man jedoch auch über die paar Privilegierten nachdenken, deren antikommunistischer Widerstand zu einem integralen Bestandteil des Systems wurde. Todosijevic gehört zu einer marginalen Genealogie von »linken AbweichlerInnen«, die eine ernsthaftere Gefahr für die Nomenklatura der Kommunistischen Partei darstellte als die rechten Reaktionäre. Es scheint, dass in der Geschichte von Titos Jugoslawien der offizielle Apparat strenger in der Disziplinierung der linken Fraktionen als in jener ihrer bürgerlichen GegnerInnen war. Die Tatsache, dass Todosijevic zu keiner Zeit formales Mitglied irgendeiner politischen Plattform war, bedeutet, dass er niemals einen öffentlichen Status erlangte – im Gegensatz zu anderen dissidenten KünstlerInnen, die diesen früher oder später bekamen, spätestens unter Milosevic. Mit dieser Retrospektive wird also das Werk von Todosijevic erstmals für das serbische und internationale Publikum vollends sichtbar, wenn auch die Frage nach der gesellschaftlichen Stellung seines Projekts offen bleibt.
In der Ausstellung finden sich zuerst Dokumente von Performances, die Todosijevic während der SKC-Jahre ausgeführt hat. Wenn einige dieser Aktionen auch nicht die direkte Intention beinhalteten, zu schocken oder den eigenen Körper – wie in Marina Abramovics Performances dieser Zeit – an die äußerste Grenze zu treiben, standen sie doch mit masochistischen Impulsen in Zusammenhang, die stets mit sadistischen kombiniert waren. Diese Impulse lagen nicht wie etwa bei Abramovics »Rhythm 5« auf Seiten der »Gemeinschaft«, sondern auf Seiten des eigenen künstlerischen Ichs und dessen »kreativen« Akts. Wie auch Sretenovic betont, richtete Todosijevic seine Aggression auf andere ProtagonistInnen oder Objekte in seiner Performance, um emphatische Reaktionen des Publikums zu unterbinden. Im Zuge von »Water Drinking« (1974) trank er beim Versuch, den Rhythmus des Schluckens und den Atemrhythmus eines sterbenden Fischs aufeinander abzustimmen, 26 Gläser jenes Wassers, aus dem der Fisch zuvor genommen worden war. Während der Karpfen starb, kotzte der Künstler auf ein weißes Tischtuch, unter dem sich violettes Pigment befand, das zusammen mit der Kotze schließlich den gesamten Stoff färbte. Anders als die »dissidenten« Formen künstlerischer Proteste baut Todosijevic nicht auf »Kommunikationsklischees«, die das ganze Ereignis und dessen Einzelteile mit einer auf irgendeine aktive Kritik abzielenden symbolischen Bedeutung ausstaffieren würden. Nur im künstlerischen Akt selbst können wir unsere gesellschaftliche Enttäuschung mitteilen, wenn wir diesem Prozess auch kein humanistisches Pathos einräumen. Im Laufe von »Decision as Art« (1973) stirbt ebenfalls ein Fisch, während Todosijevic mit der absurden Handlung des Bemalens eines Ficusbaums beschäftigt ist. Mit diesen Performances werden nicht nur die sozialen Verhältnisse bloßgelegt, sondern auch der künstlerische Akt selbst jeder gesellschaftlich anerkannten Funktion entleert, die als »gesunde oder stimmige« Form der Kritik bezeichnet werden könnte. Damit befindet sich Todosijevic sowohl in ideologischer als auch »therapeutischer« Hinsicht weitaus näher an den Positionen Althussers oder Lacans als es scheint und gemeinhin angenommen wird. Im Namen der Wahrheit versprechen uns seine Kunstaktionen keine Linderung, sondern eine Verschärfung unseres Unbehagens. Zudem verknüpft er die Mikromechanismen der Ideologie immer als Teile des ideologischen großen Anderen (Akademie, Staat, Nation, Kunst …), aus dem die Interpellation stammt. In Todosijevics künstlerischer Methode wird kein Element einer Installation oder Performance durch einen Diskurs außerhalb der künstlerischen Ordnung, sondern nur durch seine topologischen Beziehungen zu anderen Elementen getragen. Wie er selbst sagen würde, braucht damit jede Interpretation seiner Arbeiten genau dieselbe Zeit und Überlegung, die er brauchte, um sie sich auszudenken.
In diesem Sinne beschäftigen sich seine Projekte aus den siebziger Jahren mit den Mythen der künstlerischen Autonomie, jedoch mittels einer Pervertierung der modernistischen »Mission«. Dem entsprechend zeigt eine Abteilung der Ausstellung Todosijevics »elementare Gemälde« sowie die Dokumentation des 1976 begonnenen Projekts namens »Not a Day without a Line«. Die Nachahmung der Essenz des künstlerischen Akts, nämlich eine Linie auf jeder verfügbaren Fläche (Galeriewände, Hotelzimmer, Privatwohnungen, Notizblöcke, Bücher usw.) zu zeichnen, soll einen Index der Anwesenheit des Künstlers schaffen. Durch die Nachahmung des akademischen Rituals der »Handübung« und dessen mechanischer Vervielfältigung wird so, nach und nach, ein Mehrwert an entfremdeter Arbeit erzeugt. Viele der Arbeiten aus den achtziger Jahren konzentrieren sich auf bestimmte Kunstmythen und deren Gegenüberstellung mit der lokalen ideologischen Unsicherheit der Übergangszeit zwischen dem Verfall des Titoismus und dem Aufstieg von Nationalismus und Faschismus in Serbien und anderen Teilen Ex-Jugoslawiens. Einige Arbeiten, besonders die Skulpturen, sollten eine »marktorientierte Kunst« imitieren und waren damit – wie es so großartig von Slavko Timotijevic, einem der größten Bewunderer und Förderer seines Werks, bemerkt wurde – an »eine Menge lokaler Manieristen gerichtet, die sich die Nachahmung des Erfolgs ihrer Idole angewöhnt hatten, um für ein Publikum erfolgreich zu sein, das hauptsächlich von dieser direkten Verbindung zum Idol fasziniert war«.
Zuletzt ist es aber das in den späten 80ern begonnene Projekt »Gott liebt die Serben«, mit dem Todosijevic unmittelbar in jenes diskursive Gewebe des politischen Aufruhrs in Serbien eindrang, das uns in den 90ern schließlich den Krieg bescherte. Das Projekt bestand aus verzerrten totalitären Symbolen in verschiedenen Erscheinungsformen, die an die unterschiedlichen Ausstellungsbedingungen angepasst wurden und je nach Installationsart (auf Koffern, Schränken, Sesseln, Tafeln) andere Teilelemente benutzten. Diese Symbole tauchten auch in Zeichnungen und Aquarellen, auf Skulpturen, Kopien von Kunstzeitschriftencovers, auf Flaschenetiketten etc. auf. Alle haben sie jedoch dieselbe, gewöhnlich dreist zur Schau gestellte Aussage: »Gott liebt die Serben.« Hier geht es eindeutig um ein grundlegendes Erfassen der Quintessenz der ideologischen serbisch-nationalistischen Formulierung, die jedoch wiederum auf deutsch ausgesprochen wird, wodurch nicht nur ihre totalitäre Herkunft mitschwingt, sondern – noch wichtiger – ein Gefühl von Verschiebung, das einen Bruch im Diskurs selbst erzeugt. Auch dieser Titel kann durch den Lacan’schen Begriff der »énonciation« verstanden werden: Ein bestimmter, vom »Ich« ausgeführter Akt, der eigentlich die Herkunft der Sprache vom Anderen bestätigt sowie die Idee, dass das »Ich« Herr über seinen/ ihren Diskurs ist, als Illusion bloßlegt. Diese »énonciation«, seine Falschheit, bestimmt die psychotische Sprache des serbisch-nationalistischen Projekts und jedes Unternehmens ähnlicher Art. In neueren Arbeiten, bei denen diese Strategie übernommen wurde, taucht eine andere »énonciation« auf, die nun auch als Titel dieser Retrospektive dient: »Thank you, Rasa Todosijevic!«. Mir diesem Ausruf drücken die dankbaren BürgerInnen jener Städte, die Todosijevic aufgenommen haben (Berlin, Ljubljana, Graz …), Rasa ihre übertriebene Dankbarkeit aus – diesem Schweinehund von Künstler.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

Museum für zeitgenössische Kunst (MOCA) Belgrad,
2. November bis 22. Dezember 2002
Arbeiten von Rasa Todosijevic sind derzeit auch in Graz zu sehen: bis 21. Dezember 2002 bei rotor (»Balkan Konsulat«) und bis 1. Dezember 2002 in der Neuen Galerie (»In Search of Balkania«).