Heft 4/2002 - Fernost


Kein Austausch

Asien und die »Kultur des US-Imperialismus«

Kuan-Hsing Chen


Innerhalb der Postcolonial Studies wurden bislang »englische« Erfahrungen überprivilegiert. Möglicherweise liegt dies an den historischen Erfahrungen bedeutender VertreterInnen der Postcolonial Studies, die aus ehemaligen englischen Kolonien kommen, sowie an dem Umstand, dass das Englische durch die historischen Prozesse des englischen und amerikanischen Imperialismus zur hegemonialen Sprache geworden ist, während intellektuelle Publikationen in anderen Sprachen als Englisch auf globaler Ebene nahezu unsichtbar bleiben. Doch wenn man den Fokus der Analyse in andere geo-koloniale Regionen verschiebt, zum Beispiel nach Ostasien, treten auch andere imperiale Mächte in den Vordergrund. Vor dem 20. Jahrhundert war dort das chinesische Reich dominant, und während des 20. Jahrhunderts haben zwei entscheidende Kräfte den lokalen und nationalen kulturellen Formationen in Ostasien ihren Stempel aufgedrückt. der japanische Kolonialismus in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, der US-amerikanische Neo-Imperialismus in der zweiten Hälfte.

Zwar könnte man argumentieren, dass Festland-China aus der japanisch-amerikanischen Einflusssphäre ausgenommen werden sollte, doch meine persönlichen Beobachtungen sprechen eher für das Gegenteil: Seit den 1980er Jahren sind die USA die dominante imaginäre Größe, gegenüber der China sein Selbstverständnis konstruiert. Als die Volksrepublik China (KPCh) in den neunziger Jahren die Politik der »Harmonisierung mit der Welt« (yu shi-jie jie-guei) ausrief, bedeutete die »Welt« tatsächlich den Westen, das heißt, die USA. Während es inzwischen eine umfangreiche Literatur über die historischen Erfahrungen des japanischen Kolonialismus gibt und japanische Intellektuelle sichtlich an der »Entkolonialisierung« interessiert sind bzw. daran, dass ihr Land die Verantwortung für die Kriegszeit übernimmt,1 sind Studien über den US-amerikanischen Imperialismus und seine kulturellen Auswirkungen in Ostasien Mangelware. Selbst kritische Kreisen in den USA diskutieren nahezu nie die Verantwortung für die Schädigung der Erde durch den amerikanischen Imperialismus. Ich würde sogar so weit gehen zu argumentieren, dass die amerikanisch-britischen Angriffe auf den Irak seit Februar 2001 die tiefere Wahrheit offen legen, dass also die Prozesse der Entkolonialisierung oder »Ent-Imperialisierung« in diesen (ex-)imperialen Zentren nicht durchgreifend stattgefunden haben; ohne eine umfassende selbstreflexive Bewegung des Widerstands gegen den imperialen Nationalismus wird sich die ständige Komplizenschaft zwischen kritischen Intellektuellen und der imperialen Staatsmacht sich auch in Zukunft nahtlos fortsetzen.

Kalter Krieg und Kolonialismus

Wie ist dieses »Fehlen« von Studien über den US-amerikanischen Imperialismus zu erklären? Eine mögliche Strategie ist es, sie auf die strukturellen Bedingungen des Kalten Kriegs zurückzuführen: Die Formierung eines anti-kommunistischen Blocks und einer anti-kommunistischen Ideologie haben die Frage des amerikanischen Imperialismus praktisch völlig verdrängt; erst mit dem Ende des Kalten Kriegs ist es möglich geworden, den politischen Raum für die Wiederkehr dieser Frage zu öffnen. An dieser Argumentation könnte einiges Wahres sein. So charakterisiert Cho Hee-yeon das südkoreanische Regime nach dem Zweiten Weltkrieg - und das gleiche ließe sich auch auf das taiwanesische Beispiel übertragen - als autoritär, entwicklungspolitisch hörig, statisch, anti-kommunistisch und, so könnte man hinzufügen, pro-amerikanisch.2 Innerhalb der Struktur des Kalten Kriegs haben rechts gerichtete Regime in Ländern wie Japan, Korea und Taiwan, um ihre Regierungsmacht zu sichern, enge Bündnisse mit den USA gegen die kommunistischen Feinde geschlossen. Der Appell an anti-kommunistische Ängste verhinderte effektiv eine diskursive Positionierung, die es ermöglicht hätte, die Frage nach dem imperialen Gehabe des Großen Bruders zu stellen,3 obwohl anti-amerikanische Gefühle und Traditionen in der gesamten Region, mit Ausnahme Taiwans, weit verbreitet waren.

Empirisch gesehen sind die Strukturen des Kalten Kriegs in Ostasien bis heute nicht verschwunden;4 sonst hätten die Fernsehbilder vom Gipfeltreffen der beiden Kims und die nachfolgenden herzzerreißenden Szenen von Familienzusammenführungen in Korea oder die Jubel-Bilder vom Ende der Kuomingtan-Regierung keine so enorme Aufregung hervorgerufen. Doch statt sich von einer emotionalen Politik fortreißen zu lassen, ist dies vielleicht der Moment, die nie da gewesene Chance zu ergreifen, die kritische Aufgabe einer »Abrüstung des Kalten Kriegs« zu beginnen. Diese Aufgabe ist parallel zu jener der Entkolonialisierung zu sehen, nicht zuletzt aufgrund der sich überschneidenden Strukturen des Kalten Kriegs und des Kolonialismus. Allgemein gesagt hat die Arbeit der Entkolonialisierung in unserer Region in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch nicht stattgefunden, sondern die Strukturen des Kalten Kriegs haben sehr bald die bestehenden Strukturen des Kolonialismus übernommen und fortgeführt, so dass die Möglichkeit einer effektiven Entkolonialisierung nicht gegeben war. Unsere Weltanschauung und unsere Systeme des Allgemeinwissens und der Klassifikationen sind aus den Produktionssystemen im Schnittfeld von Kolonialismus und Kaltem Krieg hervorgegangen. Und selbst wenn man das ideologische Argument vom Ende des Kalten Kriegs akzeptiert, die Wege von Personen und Wissen wurden in den letzten fünfzig Jahren in einer Weise strukturiert, die sich nicht leicht rückgängig machen lässt: Die kulturellen Effekte des Kalten Kriegs sind ein Bestandteil unserer lokalen Geschichte und unserer Subjektivität. So wie die Ankündigung des Endes des Kolonialismus dessen kulturelle Effekte nicht ungeschehen machen kann, so bleibt auch das im Kalten Krieg errichtete System der Formierung der kulturellen Subjektivität bestehen. Die Nachkriegsgeneration der Intellektuellen an den Universitäten in Südkorea und Taiwan hat zum größten Teil in den USA studiert, und diese Menschen, denen sich eine amerikanische Vorstellungswelt eingeprägt hat, sitzen heute in den Schaltstellen für die nächste Runde im Projekt der Modernisierung.

Was hat das für Implikationen? Nur das Ende des Kalten Kriegs zu verkünden, genügt nicht, um die historische Einschreibung dieser Wissenseffekte aufzuheben. Auch wenn die kulturellen Auswirkungen der Strukturen des Kalten Kriegs noch lange nicht vollständig erforscht sind, stellt das deterministische Argument des Kalten Kriegs eine echte Gefahr dar, nämlich die Projektion nach außen, das Abladen der Verantwortung auf die »Anderen«, ohne sich der Auseinandersetzung mit dem nationalistischen Wunsch nach der Identifikation oder auch der »Ent-Identifikation« mit der Kultur des US-Imperialismus zu stellen. Dies ist oftmals die Position der ostasiatischen Linken, die beispielsweise die nationale Desintegration einzig und allein dem US-amerikanischen Imperialismus anlasten. Da ist zwar berechtigt, doch so einfach ist die Sache tatsächlich nicht. Zudem übertreibt dieses Argument die Diskontinuität in der Politik nach dem so genannten Ende des Kalten Kriegs. Im Kontext der Ereignisse vom 3. April 1948 und des darauffolgenden Massakers von Cheju schreibt Seong Nae Kim:

»In den Ereignissen vom 3. April und ihrem gewaltsamen Ende in dem Massaker kündete sich bereits der Koreakrieg von 1950 an, die ideologische Schlacht des Kalten Kriegs, die mit einem Patt und dem Verlust von Millionen von Menschenleben endete. Obwohl der Kalte Krieg vorbei ist, dominiert die anti-kommunistische Ideologie nach wie vor die südkoreanische Staatspolitik und hat die Erinnerung an die Ereignisse vom 3. April weitgehend unter dem Mantel des Schweigens verhüllt.«5

Im Sinne von Kims Warnung, die Diskontinuität nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht zu überbetonen und weder den nationalistischen Staat noch die kritischen Intellektuellen aus ihrer Verantwortung zu entlassen, möchte ich argumentieren, dass der Effekt der »kolonialen/imperialen Identifikation«, der teilweise durch die Strukturen des Kalten Kriegs bedingt ist, der Grund für die fehlende Erforschung des US-amerikanischen Imperialismus im ostasiatischen Kontext ist. Da die Analyse des US-Imperialismus in den Cultural Studies gerade erst beginnt, ist es gerade hier wichtig, einen kritischen internationalistischen Standpunkt einzunehmen, um nicht in der Falle einer nationalistisch überformten Erforschung der »Kultur des Imperialismus« zu enden.

Historisch ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts »Amerika« als die dominante kulturelle Imagination immer in »Asien« präsent gewesen, während umgekehrt »Asien« ebenso in »Amerika« impliziert gewesen ist. 1858 erzwangen der amerikanische Staat und das amerikanische Kapital die Öffnung Japans durch das System der Handelsverträge. Die Auswirkung dieser ökonomischen und politischen Kräfte kann nicht zu gering geschätzt werden. Im koreanischen Kontext übernahm in den 1930er Jahren, wie Sun-young Yoo überzeugend analysierte, die »Verkörperung der amerikanischen Moderne« die Funktion einer kulturellen Imagination gegenüber dem japanischen Kolonialismus. Der Aufstieg der USA zur globalen Weltmacht nach dem Ersten Weltkrieg wurde nicht nur in Ostasien, sondern auch in den europäischen Kolonialreichen wahrgenommen. Die Strategie dieser neuen Imperialmacht, das Prinzip der »Selbstbestimmung« zu nutzen, um in den bereits aufgeteilten Territorien Fuß zu fassen, erwies sich als effektives Mittel in der Konkurrenz mit den bestehenden Imperialmächten, insbesondere, um die kolonisierten nationalen Eliten für eine Kollaboration mit den USA zu gewinnen. Aimé Césaire dokumentierte diese Anschauung in den 1950er Jahren:

»Ich weiß, dass manche von euch, angewidert von Europa, von dieser Anhäufung von Scheußlichkeiten, deren Zeugen ihr nicht freiwillig geworden seid, sich - gewiss, nur in kleiner Zahl - nach Amerika wenden und beginnen, in ihm einen möglichen Befreier zu sehen.
'Das ist die Lösung!', denken sie.
'Die Bulldozer! Die massiven Kapitalinvestitionen! Die Straßen! Die Häfen!'
- Aber der amerikanische Rassismus!
- Pah, der europäische Rassismus in den Kolonien hat uns doch abgehärtet!
Und schon sind wir auf dem besten Weg, das große Yankee-Risiko zu wagen.
Also noch einmal: Vorsicht!
Die Beherrschung durch die Amerikaner ist die einzige, der man nicht wieder entkommt, das heißt, der man nicht ganz unbeschadet entkommt.«
6

Césaire führte sein Argument nicht im Detail aus, um zu erklären, weshalb die amerikanische Herrschaft die einzige sei, der man nie entkommen könne; doch seine Formulierung dürfte immerhin eine Warnung an pro-amerikanische Enthusiasten gewesen sein, dass hier eine neue Form des Imperialismus ohne die ältere Form der territorialen Kolonisation entstand. In der Tat wurde der japanische Imperialismus nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg unmittelbar vom US-amerikanischen Imperialismus abgelöst, wie Bruce Cumings in einer gründlichen Analyse aufgezeigt hat.7 In der gesamten ostasiatischen Region gab es einen direkten Übergang von der japanischen zur amerikanischen Imperialherrschaft. Seit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki lebte der japanische Nationalstaat permanent im Schatten der USA; die autoritären Regime in Südkorea und Taiwan wurden als loyale Verbündete begrüßt. Selbst die Volksrepublik China (die nie direkt unter amerikanischem Einfluss stand) hat die USA als Verkörperung des negativen Anderen, als Repräsentanten des Westens verinnerlicht. Kurz, seit den 1950er Jahren ist »Amerika« ein »verinnerlichter Außenseiter« oder ein »außenstehender Innenseiter«, im Verhältnis zu dem sich Ansätze einer (nationalen) Identität und Bruchstücke einer kulturellen Subjektivität in diesen nationalen Räumen herausbilden.

Nein sagen?

Nach einem halben Jahrhundert der Hegemonie genügt es, ohne ein langes Inventar aufzustellen, auf die aktuelle Popularität des »X Can Say No«-Phänomens zu verweisen, um den »Amerika-Komplex« ins Licht zu rücken. In den letzten Jahren sind eine Reihe populärer Bücher mit Titeln wie »Japan Can Say No«, »China Can Say No« und sogar »Taiwan Can Say No« erschienen. Unverkennbar sind die USA das gemeinsame Objekt dieses »Nein«.8 In diesem Moment »Nein« zu sagen impliziert aber auch, dass es einmal ein unbestreitbares »Ja« gab. Die Verneinung ist tatsächlich ein Anzeichen der tief sitzenden Identifikation mit der unersetzlichen Figur der USA.

Dies scheint mir eine zentrale Problematik zu sein, die als Anknüpfungspunkt für verschiedene, unverbundene Felder dienen kann. Diese neue Analyse muss sich von der älteren These des kulturellen Imperialismus abgrenzen, der zufolge die neue Welle des Imperialismus nicht mehr die territoriale Herrschaft in den Vordergrund stellt, sondern die Durchsetzung von kulturellen Produkten und Wissenssystemen, die von »außen« übergestülpt werden, um »Dritte-Welt-Subjekte« einer »Gehirnwäsche« zu unterziehen. Das mit Vorliebe zitierte Beispiel hierfür war Hollywood. Das Problem dieser These ist jedoch, dass sie die innere Logik dieser Artikulation nicht erklären kann, da die Theorie des falschen Bewusstseins hier nicht mehr anwendbar ist. Seit Mitte der 1980er Jahre ist die Ökonomie der Region stark genug gewesen, um verschiedene Formen einer eigenen Kulturindustrie hervorzubringen, die in Konkurrenz zu Hollywood stehen, so dass heute für die jüngere Generation die Produkte der amerikanischen Popkultur nur eine Wahlmöglichkeit neben anderen sind, ihr singulärer Status also durchbrochen ist. Natürlich ist nicht zu bezweifeln, dass zu einem früheren Zeitpunkt beispielsweise die amerikanischen Charts einen zentralen Einfluss auf die Formierung der ostasiatischen Popmusik-Produktion hatten. Tatsache ist aber, dass in den 90er Jahren die jüngere Generation in den Karaoke-Bars keine amerikanischen Popsongs mehr singt. Die Aufgabe der kritischen Analyse muss also sein, grundlegende Ansätze, wie etwa jenen von Edward Saids »Culture and Imperialism«9 weiterzuentwickeln, sie für einen kritischen Blick darauf zu sensibilisieren, wie der Imperialismus langfristige Einflüsse weniger durch kulturelle Apparate wie die Interventionen transnationaler Medien ausübt, sondern durch die Verhandlung und Artikulation politisch-ökonomischer Kräfte mit der jeweiligen lokalen Geschichte.10 Die Frage lautet dann also: Wie und durch welche Prozesse und Mechanismen sind die kapitalistischen und imperialistischen Kräfte der Globalisierung dialektisch mit den lokalen kulturellen Formationen artikuliert? Diese Frage erfordert weitere Forschungs- und Analysearbeit.

Hier könnte eine vorläufige theoretische Hypothese hilfreich sein: Die Geschichte der neo-kolonialen/imperialen Identifikation hat der lokalen kulturellen Imagination Grenzen gesetzt, bewusst oder unbewusst artikuliert von und in den führenden Institutionen des Nationalstaats in Allianz mit dem Kapital und Teilen der Zivilgesellschaft, die ihrerseits unsere psychisch-politische Geografie geprägt haben. Die USA sind in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zum zentralen Objekt dieser Identifikation geworden. Die materielle Geschichte des Imperialismus hat die neo-kolonialen Herren zum Objekt der Identifikation - und in einer späteren Stufe der »Ent-Identifikation« - erhoben und damit den Weg gebahnt, auf dem neo-koloniale Repräsentationssysteme und Lebensstile in den Raum der national-populären kulturellen Imagination eindringen können; die Lenkung der Ströme der psychischen Energien und Wunschenergien verläuft unter der Rubrik und in den Grenzen der kolonialen und neo-kolonialen kulturellen Imagination. Die Kette dieser Bewegungen durchquert den gesamten sozialen Körper. Die Macht der »Kultur des US-Imperialismus« bestand gerade darin, sich im geo-kolonialen Raum auszubreiten, indem sie sich selbst als die imaginäre Figur der Moderne und damit als Objekt der Identifikation konstruierte. Nicht nur ist das amerikanische Englisch die erste Fremdsprache, die gelernt wird, auch die Formen von Institutionen sind großenteils nachgeahmt. Die USA waren bis in die späten 1980er Jahre der übliche, wenn nicht gar der einzig mögliche Ort für eine höhere Universitätsausbildung. Und für staatliche Bürokraten ebenso wie für oppositionelle Eliten sind »amerikanische« Erfahrungen der Bezugspunkt ihrer eigenen Legitimation. Die Auswirkungen dieser Identifikation sind so weit durchgesickert, dass in der Vorstellungswelt breiter Bevölkerungsschichten »ausländisch« weitgehend gleichbedeutend ist mit »amerikanisch«. Ein Kritiker bei einer Konferenz in Festland-China 1999 skizzierte dieses Gefühl folgendermaßen: Das Amerika von heute ist unser Morgen; »Amerika« ist das Vorbild, das es einzuholen gilt.

Natürlich wäre es heute nicht mehr angemessen, Frantz Fanons Analyse unmittelbar zu übertragen und zu behaupten, dass »Japaner«, »Koreaner«, »Chinesen« und »Taiwanesen« »Amerikaner« sein wollen, so wie Fanon schrieb: »Der schwarze Mann will weiß sein.« Das neue Selbstverständnis in der globalisierten Welt »nach« dem Kalten Krieg geht über die Grenzen der kolonialen Identifikation hinaus und geht eine Artikulation mit der Struktur der globalen Unsicherheit ein, deren dominantes Zeichen die WTO ist.
Die Komplexität der Situation ist die Komplexität der Geschichte, denn historische Spuren sterben nicht einfach weg, wenn sie auf neue Verhältnisse treffen, die ihrerseits Elemente aus der Vergangenheit aufgreifen, um die Gegenwart zu rechtfertigen, wie beispielsweise die anti-kommunistischen Gefühle als oberflächlicher Ausdruck einer globalen Furcht. Am anderen Ende des Spektrums hat sich unterdessen ein wachsender »Zivilisationalismus« als Form eines Rückbezugs auf die eigenen Quellen entwickelt. Cho Hae-Joang hat pointiert die Renaissance des Konfuzianismus in Korea analysiert; Chua Beng Huat den Tendenzwechsel in Singapur hin zu einer Selbstidentifikation als asiatische Nation aufgewiesen, und auch »Japan« erlebt derzeit offenkundig eine Phase der Re-Asiatisierung.11 Natürlich steht diese Bewegung der »Selbst-Wiederentdeckung« in Zusammenhang mit der Regionalisierung des globalen Kapitals, doch ihr psychoanalytischer Antrieb basiert wiederum auf der Reaktion auf die koloniale Geschichte. Das ausgesprochene oder unausgesprochene Andere, gegenüber dem die asiatische »zivilisationistische« Identität sich definiert, ist der »Westen«, wieder einmal repräsentiert von »Amerika«. Doch der Anti-Amerikanismus ist nicht einfach nur die Wiederkehr des historisch Verdrängten, sondern er ist eine Reaktion auf die globale Unsicherheit.

»Ent-Identifikation«

Die »Ent-Identifikation« ist sinnlos, wenn ihr keine Identifikation vorausgeht; man muss sich erst mit etwas identifizieren, von dem man sich dann zu distanzieren beginnt. Die obigen Analysen sind nicht darauf aus, die zitierten Beispiele ins Lächerliche zu ziehen, sondern sie sollen verdeutlichen, dass beide Modalitäten - Pro- und Anti-Amerikanismus - in ein und demselben Raum operieren, der von demselben Objekt definiert wird. Ich hoffe, hiermit eine mögliche Erklärung für das »Fehlen« von Studien über den US-amerikanischen Imperialismus gegeben zu haben: die USA als Identifikationsobjekt. Vielleicht müssen wir zunächst erkennen, so wir das kulturelle Mischgebilde unseres Selbst verstehen wollen, dass »Amerika« nicht nur um uns herum ist, sondern IN unserer kulturellen Subjektivität und ein Teil von uns selbst; dass die USA nicht nur unsere Identität definiert haben, sondern zum Bezugspunkt unserer kulturellen Imagination geworden sind. Denn gerade indem es diese Position eines »Bezugspunkts« oder ganzen Bezugssystems besetzt, konstituiert »Amerika« unsere Subjektivität, und gerade weil es ein imaginärer Bezugspunkt ist, ist es ein Teil von uns geworden. Was ich damit sagen möchte, ist, dass wenn etwas zum dominanten Bezugsrahmen wird, es bereits ein Teil von uns ist; wenn im taiwanesischen öffentlichen Diskurs ständig die USA, und nicht die Philippinen oder Korea, zitiert werden, um die Forderung nach Demokratie zu rechtfertigen, bedeutet dies: »Wir sind Amerikaner«, und nicht Koreaner oder Filipinos. Das zu erkennen und anzuerkennen wäre der notwendige Ausgangspunkt, von dem aus wir weiterkommen können. Wenn die kulturelle Imagination von »Amerika« nicht dekonstruiert und aufs Tapet gebracht werden kann, wenn die USA ihren Status als singuläres Identifikationsobjekt und Bezugspunkt nicht verlieren und unsere Identifikations- und Bezugsprozesse umgelenkt und vervielfacht werden können, bleiben wir zur Geschichte des Kolonialismus und seiner Fortführung in den Strukturen des Kalten Kriegs verurteilt; wenn die kulturelle Imagination, mit der wir leben, nicht aus der Prägung durch den Kolonialismus und den Kalten Krieg befreit werden kann, wird der Teufelskreis von Kolonisation, Dekolonisation und Rekolonisation sich unablässig weiterdrehen. Diese Orientierung bedeutet weder eine pauschale Verurteilung von »Amerika« noch einen Versuch, die »westliche« Denkweise durch Hinzufügung »asiatischer« Elemente zu revidieren, sondern das Bestreben, die Identifikationsorte zu vervielfachen und, wie Tejaswini Niranjana präzise formulierte, »alternative Bezugsrahmen« zu konstruieren.12

Die folgende schematisch skizzierte Landkarte kann vielleicht helfen, die Frage zu verdeutlichen:

|-----> Japan
Der Westen |-----> Korea
Amerika |-----> China
|-----> Taiwan

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlief die dominante Richtung der Ströme, Beziehungen und Einflüsse von den USA zu diesen Ländern. Alle diese Ländern standen in direkter Verbindung mit den USA. Nehmen wir als Beispiel die intellektuelle Produktion. Amerikanische akademische Texte sind exportiert und an ostasiatischen Universitäten aktiv gelesen und gelehrt worden. Modische intellektuelle Tendenzen wie Strukturalismus, Poststrukturalismus, Postmoderne oder Postkolonialismus, die sich hier ausgebreitet haben, sind weitgehend eine Reproduktion dessen, was bereits auf dem amerikanischen akademischen Markt in Mode war. In umgekehrter Richtung ist dies nie vorgekommen. Die entscheidende simple Erkenntnis ist die, dass es keinen Austausch zwischen diesen Ländern gibt. Wenn ostasiatische Intellektuelle überhaupt irgendwo zusammentreffen, dann am ehesten im Kontext US-amerikanischer Universitäten, doch nur selten »zu Hause«. Daher sind ostasiatische intellektuelle Kreise als solche nicht existent. Aufgrund der langfristig geformten Struktur des auf Nordamerika gerichteten Begehrens gibt es kein Begehren, untereinander zusammenzukommen. Wenn dennoch ein Treffen zustande kommt, verachten »wir« einander, weil manche von uns Derridas »différance« nicht richtig verstanden haben, oder »wir« wetteifern, wer die neuesten Bücher zur Queer Theory aus den USA gelesen hat. Das ist der Gegenstand unserer Gespräche. Es gibt kein Interesse daran zu lesen, was andere aus unserer Region schreiben, oder herauszufinden, welche Schlüsselkonzepte in unterschiedlichen lokalen intellektuellen Szenen diskutiert werden. Schlimmer noch, es gibt kein Kommunikationssystem der ostasiatischen Buchläden untereinander, mit dem man direkt in Asien produzierte Bücher finden könnte, wenn man sie zu lesen wünscht. Die unterschiedlichen Sprachen werden oft als Entschuldigung angeführt. Aber wenn man »englische« Texte lesen kann, die in den USA produziert werden, warum dann keine Bücher, die in Manila, Singapur oder Kalkutta erscheinen? Das ist, was ich meinte, als ich sagte, dass der Bezugspunkt und der Ort der Identifikation und des Begehrens verschoben und vervielfacht werden müssen, falls wir nicht unablässig die dominante Struktur des Wissens und Begehrens reproduzieren wollen.

Unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen in Taiwan 1996 bekamen wir viele E-Mails von Freunden, die außerhalb von Taiwan lebten und die über die Raketenkrise besorgt waren. Die Sache schien unsere Freunde mehr zu beunruhigen als uns selbst. Wenn man einmal mitten in der Krise war, gab es offensichtlich nicht viel, was man tun konnte. Das Leben musste weitergehen. Dieses Gefühl von Ohnmacht oder Gleichgültigkeit wurde dann als die Reife des taiwanesischen Volks interpretiert, das mit der Krisensituation zurechtkam - auch wenn manche Taiwanesen aus der besitzenden Mittelschicht ihre Bankkonten plünderten und alles Geld in US-Dollar umtauschten, so dass die City Bank in Taipeh zusätzliches Bargeld heranschaffen musste, um die hochgradig nervöse Nachfrage zu decken. In solch einem Moment des drohenden Kriegs konnte man vielleicht besser verstehen, warum es in Taiwan keine mögliche Positionierung gibt, von der aus man den Begriff »US-Imperialismus« überhaupt aussprechen könnte. An dieser Stelle treffen wir wieder auf Seong Nae Kims Analyse des modernen Nachkriegs-Korea, dessen Grundlage stets der Anti-Kommunismus gewesen ist: Das Aussprechen des US-Imperialismus würde sofort als eine Identifikation mit dem kommunistischen Regime auf dem Festland verstanden. Dieser regulierte Binarismus lässt keinen Raum, in den man kritische Formulierungen einbringen könnte. Die in den vergangenen fünfzig Jahren aufgebaute »freiwillige Selbstkontrolle« gleicht somit wieder einmal einem oft gehörten Satz: »Wenn Taiwan noch von den Japanern regiert würde, ginge es uns heute vermutlich besser.« Auf die Gefahr hin, meine taiwanesischen Freunde zu verärgern, möchte ich nochmals betonen, dass »Japan« und »Amerika« schon längst in unsere kulturellen Subjektivität eingegangen sind. Welchen kritischen Effekt könnte diese Erkenntnis haben? Eine Bejahung der erzwungenen Hybridität? Einen Rückzug auf eine urstämmig nationale Reinheit? Ich betrachte diese Erkenntnis als Bestandteil einer fortlaufenden Dekolonisation, als einen Punkt, an dem reaktive Befürchtungen in aktive Kräfte umgewendet werden können. Wir sollten uns nicht unbedingt »ent-amerikanisieren«, aber wenigstens versuchen, uns auf »Asien« und die »Dritte Welt« zuzubewegen, um uns selbst neu zu konstituieren.

 

Übersetzt von Christoph Hollender

 

Kuan-Hsing Chen ist Professor für Cultural Studies am Center for Asia-Pacific Cultural Studies der National Tsing Hua University in Taiwan und ist Mitherausgeber von Inter-Asia Cultural Studies: Movements.

1 Siehe Hanasaki, Kohei: »Decolonialization and the assumption of war responsibility«, in: Inter-Asia Cultural Studies 1,1 (2000), S. 71-84.

2 Cho, Hee-yeon, »The structure of the South Korean developmental regime and its transformation: statist mobilization and authoritarian integration in the anticommunist regimentation«, in: Inter-Asia Cultural Studies, 1,3 (2000).

3 Die nach dem Zweiten Weltkrieg mobilisierte Furcht vor dem Kommunismus erwies sich als außerordentlich machtvoll. Wegen ihrer »roten« Verbindungen werden der Aufstand von Cheju in Südkorea 1948 und der »Weiße Terror« in Taiwan in den fünfziger Jahren von diesen Staaten bis heute offiziell verschwiegen. Für eine detailliertere Darstellung der Methoden des Anti-Kommunismus zur Unterdrückung von »inneren Feinden« siehe Kim, Seong Nae: »Mourning Korean Modernity: Violence and the Memory of the Cheju Uprising« (unveröffentlichtes Manuskript, 1996).

4 Chalmers Johnson hat ausführlich dokumentiert, wie die USA sich nach dem Ende des Kalten Kriegs um das Fortbestehen und die Ausdehnung der Strukturen des Kalten Kriegs in Asien bemüht haben. Siehe Johnson, Chalmers: BlowBack: The Costs and Consequences of American Empire, New York 2000; dt.: Ein Imperium verfällt: Wann endet das amerikanische Jahrhundert? München 2000.

5 Kim, Seong Nae: »Mourning Korean Modernity« (siehe Anm. 3).

6 Césaire, Aimé: Discours sur le colonialisme, Paris 1955, S. 58; dt.: Über den Kolonialismus, Berlin 1968, S. 74.

7 Siehe Cumings, Bruce: The Origins of the Korean War, Princeton 1981/1990.

8 Siehe Ker, Rey-ming: Taiwan Can Say No, Taipei 1996; Sung, Chiang, u.a.: China Can Say No, Taipei 1996. Interessanterweise richtet sich das »Nein« in Kers Buch gegen drei Nationen: die USA, Japan und China.

9 Said, Edward: Culture and Imperialism, New York 1993; dt.: Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a.M. 1994. Dieses Buch scheint mir persönlich hilfreicher als Saids kontroverses Hauptwerk »Orientalismus«.

10 Siehe meine erste Formulierung eines »geo-kolonialen historischen Materialismus« (Chen, Kuan-Hsing: »Decolonization and Cultural Studies«, in: Taiwan: A Radical Quarterly in Social Studies, 21 [1996], S. 73-140), um eine solche Artikulation zu erklären.

11 Cho, Hae-Joang: »Constructing and Deconstructing 'Koreanness' in the 1990s South Korea«, unveröffentlichtes Manuskript (eine chinesische Übersetzung ist erschienen in: Taiwan: A Radical Quarterly in Social Studies, 33 [1999], S. 65-102); Chua, Beng Huat (1998): »Culture, Multiracialism and National Identity in Singapore«, in: Kuan-Hsing Chen (Hrsg.): Trajectories: Inter-Asia Cultural Studies, London 1998, S. 186-205.

12 Niranjana, Tejaswini: »Alternative Frames? Questions for Comparative Research in the Third World«, in: Inter-Asia Cultural Studies 1,1 (2000), S. 97-108.