Heft 4/2002 - Fernost


Rivalisierende Ästhetiken der Solidarität

Indische KünstlerInnen und ihre Öffentlichkeit

Nancy Adajania


Die 1990er wird man in Indien als Jahrzehnt der Liberalisierung in Erinnerung behalten, als Jahrzehnt, in dem sich die indische Gesellschaft und Wirtschaft nach fünfzig Jahren der Blockfreiheit und des wirtschaftlichen Protektionismus der Welt öffneten. Für die indische Kunst waren die 1990er eine Periode der Selbstkritik und Neubewertung. Während dieser Periode wurde vielen indischen KünstlerInnen, besonders den jüngeren und weltoffeneren unter ihnen, klar, dass ihr eigentümliches Erbe aus nationalistischem Gefühl und modernistischem Anspruch ihre Praxis wesentlich eingeschränkt hatte. Bilder und Informationen aus den Weltmetropolen, von den Biennalen und Triennalen, und aus anderen postkolonialen Gesellschaften strömten über die inzwischen offenen Grenzen und zwangen indische KünstlerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen, ihre Arbeit im Licht dieser parallelen Geschichtsschreibungen und alternativen Entwicklungslinien genauer zu untersuchen.
Zur selben Zeit mussten sie mit der Bedrohung des Hindu-Nationalismus umgehen, der die kulturelle und politische Herausforderung durch die Globalisierung wahrnahm und sich als Reaktion darauf – und auf Grund seines Langzeitziels der Sicherung Indiens als eher hinduistischen, weniger als multireligiösen Staat – festigte. Dieses politische Wiederaufleben manifestierte sich in Forderungen nach Zensur, in der Verletzung der künstlerischen Freiheit durch rechtsgerichtete AktivistInnen und in einem generellen Anspruch der Rechten auf (exklusive) Privilegien zur Artikulation in der Öffentlichkeit.
Die indischen KünstlerInnen bemerkten schon bald, dass die Geschichte ihrer Praxis sie nicht darauf vorbereitet hatte, solchen Provokationen zu begegnen. Die erste Generation postkolonialer indischer KünstlerInnen, tätig zwischen den späten 1940ern und den frühen 1990ern, bekannte sich zu einer modernistischen Ästhetik und arbeitete innerhalb eines Galeriesystems, das sie als Ort der Anerkennung verstanden. Wer konnte in dieser ersten, optimistischen Phase ahnen, dass jenes Galeriesystem, welches die indischen KünstlerInnen aus den Zwängen individueller Schirmherrschaft entließ, letztendlich ihre Freiheit, mit einer breiteren Öffentlichkeit in Beziehung zu treten, kompromittieren würde? Besonders im letzten Jahrzehnt, mit den akut gewordenen Ansprüchen des Politischen, wurde deutlich, dass »die KünstlerInnen des white cube« für die Aufgabe, ästhetische Positionen zur Einbindung der Öffentlichkeit zu entwerfen, ungeeignet waren. Dadurch war das Leitmotiv der indischen Kunst weniger der Aktivismus als der Quietismus; und (mit einigen Ausnahmen) scheint sich der Aktivismus, den einige KünstlerInnen in Indien vorgeführt haben, auf überholte Proteststrategien zu stützen, die im Angesicht der ideologischen und technologischen Herausforderung des Hindu-Nationalismus – beheimatet in der Welt der globalen Kommunikation und urbanen Kriegsführung – als zahnlos bezeichnet werden muss. Wie erklärt sich dieser Bruch zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen? Warum hat die Verfolgung eines künstlerischen Stils zu einer gedämpften Reaktion vieler indischer KünstlerInnen auf ihre Lebenswelt geführt?

Postkolonialer Modernismus

Die erste Generation postkolonialer indischer KünstlerInnen – unter ihnen bedeutende Namen wie F. N. Souza, M. F. Husain und S. H. Raza – zeigte kein Interesse an temporärer, aber provokativer, vergänglicher, aber orts- und publikumsspezifischer, veränderlicher, aber unvergesslicher Kunst, die eher prozess- als marktorientiert war. Diese KünstlerInnen litten auch unter dem romantischen Vermächtnis des Künstlers-als-Genie: Kurz nach der Unabhängigkeit klammerten sie sich an dieses Selbstbild, weil eine Loslösung von der sozialen Rolle des Künstlers als Porträtist, Gesellschaftsmaler oder nationalistisches Instrument notwendig war; und am allerwichtigsten war diesen indischen Modernisten der Wunsch, dem vorherrschenden Bild des Künstlers als Volkskünstler zu entfliehen. Sie behaupteten ihre Autonomie dadurch, dass sie einen universalen internationalistischen Stil (der in Wahrheit nicht internationalistisch, sonder westlich war) anstrebten.
Im Nachhinein erkennen wir, dass bestimmte Schlüsselmotive und Anliegen der indischen Kultur nicht in den Sprachen des Modernismus, die den indischen KünstlerInnen über die westlichen Metropolen jener Zeit zugänglich wurden, artikulierbar waren. Die Logik dieser Modernismen – gleich ob die Pariser Schule, der Abstrakte Expressionismus oder die Periode der abstrakten Sowjetkunst – war ihrem Wesen nach transzendentalistisch und universalistisch. Das Beharren der indischen KünstlerInnen auf modernistischen Konventionen machte es ihnen unmöglich, Aspekte ihrer Erfahrungswelt und expressiven Kultur auszudrücken, etwa die spielerisch zwischen Abbild und Körper angesiedelte Figur, das Performative und das Dekorative, ein erhöhtes Körperbewusstsein, das die Zeit als Dauer und als Trance erlebt, sowie das Sensorium für das Alltägliche. Dadurch, dass die modernistische Ästhetik die Individualität des künstlerischen Selbst privilegierte, schloss sie die Bildung kommunikativer Beziehungen zwischen dem Künstler im Atelier und anderen kulturellen Vermittlern der Öffentlichkeit aus. Deshalb gab es – mit Ausnahme der Santiniketan-Schule in den 1920er und 30ern, die einen lokalen Modernismus genau aus solchen Überschneidungen zwischen klassisch und völkisch, metropolitaner Kultur und Stammeskultur entwickelte – für synästhetische und partizipatorische Erfahrungen, etwa Festivals, keinen Platz in der Ästhetik des indischen Modernismus.
Diese Ausschlüsse wurden bis in die 1990er nicht wieder aufgehoben, nicht einmal von jenen postmodernistischen KünstlerInnen, die während der späten 1960er und frühen 70er auszustellen begannen (vgl. Ranjit Hoskote: »In the Public Eye«, in: Art India, Vol. 5, No. 4, 2000). Die indischen Postmodernisten betonten die Form der kleinen Erzählungen gegenüber den universalen Ikonografien des Modernismus, indem sie sowohl persönliche als auch politische Realitäten als Material verwendeten und sich mit Elementen der Popkultur beschäftigten. Die KünstlerInnen dieser Generation forcierten eine enge Interaktion mit lokalen Themen, wodurch der Inhalt der Malerei zwar dynamischer, ihre künstlerische Form jedoch großteils unverändert blieb. Mit ungewöhnlichen Materialien und Ausstellungsmethoden außerhalb der Galerien wurde nur wenig experimentiert.
In den 1960ern und 70ern wurden nach wie vor, um eine Formulierung des Kunsthistorikers Ranjit Hoskote zu verwenden, »brave« bzw. »gut-erzogene« Kunstwerke produziert. Und da die KünstlerInnen ja um einen Platz im Galeriesystem kämpften, konnten sie nicht gegen eben jene Kunstinstitution rebellieren, welche die Kreativität erstickte. Erst in den 1980ern holte die Radical Group, ein Kreis von Malern und Bildhauern, die Skulptur wieder vom Sockel und begann, die Möglichkeiten der Umgebungen und Installationen zu erkunden. Dies kennzeichnet in der indischen Kunst den Beginn der Bewegung vom isolierten individuellen Selbst hin zum künstlerischen Selbst, welches sich in Begriffen der Gemeinschaft, des Austausches und der Kollaboration ausdrückt.

Performance und Video

Die Formen der auf Performancekunst beruhenden Videos und Videoinstallationen, die sich in Indien während der späten 1990er entwickelten, trugen dazu bei, all jene Aspekte der expressiven und performativen Kultur zurückzuholen, die von der Gegenwartskunst ausgeschlossen worden waren. Diese neuen Genres erlaubten der Subjektivität größeren Spielraum: Sie erschufen ein Wechselspiel zwischen dem Illusionismus der Malerei und der Unmittelbarkeit der Performance, sie problematisierten das Ikonische, versetzten Avatare und Morphe in Bewegung und hatten allgemein den Effekt einer Politisierung des Privaten; sie versuchten, Solidarität zu schaffen und ihren Umgebungen dabei zu helfen, die Rolle der Kunst in der Gesellschaft neu zu definieren.
Ich möchte hier zwei Beispiele von Video- und Performancekunst anführen, die genau jene Kluft zum Thema haben, welche die modernistische Ästhetik zwischen Kunst und Gesellschaft als Ganzes geschlagen hat. Während ein Großteil der Videokunst nur allzu leicht zur (Freud’schen) Selbst-Besetzung und Nabelschau verkommt, beweisen die Arbeiten von Subodh Gupta und Sonia Khurana, dass die Privatsphäre als Repräsentationsmodus nicht als Flucht vor der öffentlichen Sphäre definiert werden muss; stattdessen wird die Privatsphäre zu einem politischen Raum. Das hilft uns dabei, auf den Zusammenprall zwischen dem geheimen oder intimen Selbst und der – sei es auch vermittelt und nicht direkt – Anwesenheit des Anderen zu reflektieren. Diese Arbeiten lehnen sich auch gegen den Kontext der Galerie auf, verunsichern die konventionellen BetrachterInnen durch ihre provokative Unverschämtheit.
Subodh Gupta, der Video und Fotografie einsetzt, um seine Selbst-Dramatisierungen/Darstellungen zu dokumentieren, untermauert diesen Punkt. Gupta ist aus Bihar, einem Staat im Norden der Indischen Union, bekannt für seine extreme Armut und sein rigoroses Kastenwesen. Der ländlichen Realität bewusst und selbst im regionalen Theater verwurzelt, verwendet Gupa für die mise-en-scène seiner Performances unorthodoxe Materialien wie Erde, Baumwolle, eingefärbtes Pulver und Kuhdung. In seinen Mixed Media-Arbeiten und Performances stellt er das regionale Stereotyp eines Biharis – in den Metropolen Indiens ein Etikett für Ignoranz, Analphabetismus und billige Arbeitskraft – spielerisch in Frage.
In der Videoperformance »Pure« (1998) wird Kuhdung – der als Brennstoff, aber auch als geheiligtes Material, um damit rituelle Plätze in ländlichen Gebieten zu reinigen, verwendet wird – zur zweiten Haut des Künstlers in einer städtischen Umgebung. Gupta erscheint vor uns in einer Dusche. Das Video läuft rückwärts ab, und Ströme von Kuhdung kriechen Guptas Körper hinauf: In einer unheimlichen Sequenz ist er komplett mit Kuhdung überzogen – dieser Anblick ekelt die urbanen indischen BetrachterInnen an, lässt sie verstört zurück. Außerhalb der ländlichen Gegenden ist Kuhdung nicht mehr als ein Haufen Schmutz, »matter out of place« (disloziertes Material), wie die Anthropologin Mary Douglas vorschlägt. In urbanen Gesellschaften bezieht sich die Bezeichnung »Schmutz« nicht nur auf unbelebte Objekte, sondern wird auch für unterprivilegierte Personen verwendet. Das führt zur Frage, was an dieser Videoperformance eigentlich »rein« ist. Ich würde Guptas Verlassen des Badezimmers und sein Betreten des Aufzugs – noch voller Kuhdung – als Strategie des Künstlers lesen, den schlimmsten Albtraum der urbanen BetrachterInnen heraufzubeschwören: nämlich den einer Epidemie – das Ländliche überfällt das Urbane.
Sonia Khuranas nackte Begegnung mit ihrem eigenen Körper in der Videoperformance »Bird« (1999) beschäftigt sich mit Gender-Fragen in einer unsensiblen, patriarchalen Gesellschaft. Eingangs sieht es so aus, als handle »Bird« von den gescheiterten Versuchen einer Frau zu fliegen, aufzusteigen aus einem Raum ohne Türen. Wie wir jedoch sehen werden, bricht Khuranas Performance den Zauber lyrischer Schönheit, der mit diesen Themen gemeinhin assoziiert wird. Vielmehr verwandelt sie die Performance in ein tragikomisches Spiel. Obzwar manche ihrer Bewegungen an Slapstick grenzen, werden ihr sich auf dem Boden wälzender Körper und die schnelle, abstrakte Montage von Körperteilen gleichsam zu Waffen gegen die Ökonomie der Schönheitswettbewerbe. Ihre Performance, eine freie Handlung des Selbst, die mit der sozialen Leiblichkeit in Konflikt steht, hinterfragt den Mythos des schlanken weiblichen Körpers, der von der transnationalen Kosmetik- und Schönheitsindustrie propagiert wird. Khuranas Körper wird, paradoxerweise, erst in seiner Nacktheit zum Schild.

Körpermorphe und Avatare

Auch Baiju Parthan würde ich zu dieser Konstellation von KünstlerInnen, die mit Körpermorphen und Avataren arbeiten, hinzuzählen: Sein bevorzugter Stil ist es, unter Cyber-Decknamen zu arbeiten. Als ausgebildeter Techniker und Maler macht er gekonnten Gebrauch von Netz-Technologien. In »A Diary of the Inner Cyborg« (2000) experimentiert Parthan mit dem literarischen Genre Cyberpunk und setzt sich so mit philosophischen Fragen nach dem Selbst auseinander, das sich in fragmentarischer Weise über Diskurse, angefangen vom alltäglichen urbanen Leben des Künstlers bis hin zur mythischen inneren Welt des Cybernauten, verteilt. Parthan spricht die Identitätskrise an, die im Hiatus zwischen dem »Raum des Fleisches« (Cyber-Slang für den menschlichen Körper) und dem »Raum des Metalls« (Cyber-Slang für die kybernetische Umgebung) aufbricht. Der Künstler nimmt verschiedene Avatare in seiner Netzkunst an und macht dadurch menschliche und maschinenhafte Impulse unentwirrbar. Einer seiner bekannten Cyber-Decknamen ist die Figur des Orpheus: Sein singender Kopf fungiert als Ode an die Unsterblichkeit im »Raum des Fleisches«; im »Raum des Metalls« trägt er die anti-cartesianische Konnotation einer komprimierten Welt im Geist. Parthans Arbeiten entstehen aus dem Konzept der Verstörung – verstanden als eine Störung der Bewegungen oder ein Zusammenbruch der Kontrolle, ein Bruch innerhalb einer unerbittlichen Logik, ein Raum, in dem Reflexion noch möglich ist.
Parthan ist jedoch tatsächlich eine Ausnahme zu der Regel, die besagt, dass konventionell geschulte KünstlerInnen beim Experimentieren mit neuen Medien ihre alten Haltungen weiter mit sich herumtragen und nicht fähig sind, eine Schnittstelle zur neuen Medienwelt zu finden. Leider neigen diese ausgebildeten KünstlerInnen immer noch dazu, die Welt als Readymade zu sehen. Statt von den konventionell geschulten visuellen KünstlerInnen zu erwarten, sich selbst neu zu erfinden, müssen wir den Rahmen der Kunst erweitern – und, in unserem kritischen Gesichtkreis, neue Vermittler und neue Seiten des künstlerischen Schaffens einschließen. Wir müssen die Arbeiten mit neuen Medien im Kontext hybrider und intermedialer Kunstpraxen sehen. Sonst würden wir uns, als KunstkritikerInnen, den eigennützigen Karriereschritten konventioneller KünstlerInnen, welche die Werkzeuge der neuen Medien benutzen, um am Entstehen einer wirklich »internationalen« Kunst teilzunehmen, fügen – es hilft ebenfalls, dass viele von ihnen, wenn auch verspätet, das Politische entdeckt haben. (In diesem Kontext muss ich sagen, dass nur sehr wenige der jüngeren, konventionell geschulten indischen KünstlerInnen authentische politisierende Erfahrungen durchgemacht haben, etwa durch linke oder anarchistische Zugehörigkeiten, durch Einbindungen in das Straßentheater oder durch alternative Pädagogik. Wenigstens für einige jüngere KünstlerInnen ist das Sich-Einlassen mit dem Politischen und die Zusammenarbeit mit AktivistInnen eher strategisch durch Zweckdenken in Richtung einer globalen Kunstfinanzierung diktiert als durch das Resultat tatsächlicher Überzeugung.
Deshalb würden konventionell geschulte KünstlerInnen von der Arbeit mit den Praktikern der neuen Medien profitieren, und zwar nicht nur im Sinne einer Bereicherung des Vokabulars und der Technologie ihres künstlerischen Schaffens, sondern auch im Sinne einer Entstehung eines nuancierteren Ausblicks auf ihre Lebenswelt, ihre Zwänge und ihre Politik. Es ist vorstellbar, dass auf der Telematik basierende Kunstorte eine neue Demokratisierung auslösen könnten. Sie könnten neue On- und Offline-Gemeinschaften von UserInnen, BeobachterInnen und SpielerInnen nähren: Netzkunst wird ihre KünstlerInnen und ihr Publikum finden; zwar nicht in der traditionellen Gemeinschaft akademisch geschulter KünstlerInnen und BesucherInnen von Kunstgalerien, aber unter den Computernerds, AnimatorInnen, ArchitektInnen, DesignerInnen, KulturtheoretikerInnen und politischen AktivistInnen.
Manche Fragen bleiben immer noch offen. Kann der Cyberspace tatsächlich demokratisch werden? Kann er zum virtuellen Treffpunkt für künstlerischen und politischen Aktivismus werden? Genau hier können die KünstlerInnen zukünftig als ethische und politische VermittlerInnen des Wandels agieren, indem sie »Gegenrepubliken« im virtuellen Raum schaffen und die verstreute gegenwärtige Cyber-Community zu einer zusammenhängenden öffentlichen Kraft machen. Damit die Geschwindigkeit nicht in einer Implosion des Raumes endet, sollten diese Republiken tatsächlich res publicas werden, »öffentliche Angelegenheiten«. KünstlerInnen werden die Einbahnstraßen der Bildkonsumierung sprengen und breitere politische und soziale Bedürfnisse durch künstlerische Strategien artikulieren müssen, die lateral in die öffentlichen Debatten eingehen. Sie würden mehrfache Schnittstellen aufzubauen haben und aus der abgehobenen Schnittstelle zwischen Galerie und Straße, die heute viele KünstlerInnen fasziniert, austreten: Sie ist nämlich schon ausgereizt, ein ästhetisierter Akt ohne politischen Boden.
Hervorheben möchte ich eine Gruppe von Neue Medien-KünstlerInnen, welche die Kunst von außerhalb der Mainstream-Praktiken revolutioniert hat: das Raqs Media Collective (Monica Narula, Jeebesh Bagchi and Shuddhabrata Sengupta). Es kombiniert eine Leidenschaft für die Technologie mit starker sozialer Sensibilität. Im Bewusstsein, dass es in einem Entwicklungsland an Ressourcen und Infrastruktur mangelt, glauben sie fest an die Schaffung eines »digitalen Gemeinsamen«, das durch einen freien Austausch von Software, Code, Information und kulturellen Produkten charakterisiert ist.

Medienaktivismus

Das Beispiel des Raqs Media Collective ist deshalb so wichtig, weil es den konventionell geschulten KünstlerInnen – die zwar möglicherweise soziale Verantwortung spüren, aber unfähig sind, diese in einer künstlerischen Form auszudrücken, die sowohl ästhetisch als auch politisch lebensfähig ist – ein Modell der Praxis anbieten könnte. Während der 1990er waren viele indische KünstlerInnen selbst aktivistisch tätig: Dies ist sicherlich Zeichen einer Verschärfung der staatlichen Kontrolle über die Öffentlichkeit und einer Störung von reaktionären politischen Kräften. Heute liegt die größte Herausforderung darin, dem Anspruch der Hindu-Nationalisten auf die symbolische Realität in Indien zu kontern, ein Anspruch, der sich der nationalen Imagination unter Nehru widersetzt, die auf säkularen und allgemein progressiven Idealen basierte. Da der Anspruch der Hindu-Nationalisten auf einer engen und politisierten Version des Hinduismus fußt, schließt er Millionen InderInnen aus – all jene, die religiösen Minderheiten angehören, aber auch liberale und heterodoxe Hindus und Mitglieder untergeordneter Hindu-Kasten. Was wir hier beobachten können, ist der gefährliche Prozess des Entzugs von Rechten, in dem politische, kulturelle und spirituelle Freiheiten der indischen BürgerInnen bedroht werden. Auf der materiellen Ebene wird die Mobilisierung der Hindu-Nationalisten von einem um sich greifenden Netzwerk von basispolitischen Organisationen, Schulen und freiwilligen »Selbsthilfe«-Gruppen getragen; aber auch durch die Verteilung von Pamphlets und Flugblättern, durch Fernsehserien, billige Audio- und Videokassetten und mittlerweile das Internet – in Form hindu-nationalistischer Websites, Chatgroups und Mailing Lists.
Vor diesem Hintergrund haben sich KünstlerInnen quer durch die verschiedensten Disziplinen – sei es nun Malerei, Theater, Musik oder Tanz – und mit unterschiedlichen politischen Lebensläufen in einer umkämpften Situation wieder gefunden, in der Meinungsfreiheit durch Zensur und Gewalt bedroht ist. Sie haben gemeinsam und in Kollaborationen mit AktivistInnen und NGOs gearbeitet, um diesen repressiven Kräften widerstehen zu können. SAHMAT (Safdar Hashmi Memorial Trust) etwa, eine Organisation von KünstlerInnen, AktivistInnen und Intellektuellen, die nach der Ermordung des kommunistischen Theateraktivisten Safdar Hashmi im Jahr 1989 gegründet wurde, stellte sich als bedeutende Stimme gegen den hindu-nationalistischen Kommunalismus heraus. Sie organisierte Begegnungen mit unterschiedlichen Öffentlichkeiten, indem sie Freiluftausstellungen, Lyriklesungen, Seminare, Tanz und Musikprogramme abhielt.
Leider tendierte ihr Programm dazu, Eventcharakter zu haben und auch ständig als Reaktion auf die Ausschreitungen der Rechten formuliert zu werden: Dies ist einengend und führt nicht zu einem langfristigem Dialog, zu Breitenwirksamkeit oder einem sich autonom entwickelnden Projekt zur Definierung einer säkularen Bildlichkeit. SAHMAT versucht, KünstlerInnen für die politische Realität und politische AktivistInnen für die Kunst zu sensibilisieren, und auch KünstlerInnen, AktivistInnen und die gemeine Öffentlichkeit gegenüber dem Missbrauch des Sakralen durch eine politisierte Religion zu sensibilisieren. In dem Verlangen, eine taktische Solidarität (welche ein lobenswertes Ziel ist) zu erreichen, entscheidet sie sich jedoch für einen reduktionistischen Ansatz, sieht über Probleme der Interpretation und Übersetzung zwischen dem Sakralen und dem Säkularen hinweg.
Auf Grund der Vorgabe, Veranstaltungen stets als Spektakel zu inszenieren, infizierten die üblichen Hierarchien die erklärtermaßen demokratischen Aktivitäten der SAHMAT, wie etwa beim Muktnaad (Free Sound) Festival in Ayodhya im August 1993, das als Reaktion auf die Zerstörung der Babri-Moschee durch rechte Idioten ein Jahr zuvor abgehalten wurde. Trotz bester Absichten wurde Muktnaad lediglich zu einer Celebrity-Feier des Säkularismus. Rustom Bharucha erklärt in seinem Buch »In the Name of the Secular«, dass zum einen klassische Musik und Tanzprogramme mit stark religiösem Inhalt, zum anderen Theatergruppen, die sich wünschten, anti-kommunale Vorstellungen in Agitprop-Manier abzuhalten, zu vorherrschend waren. Während den klassischen Performances eine Stunde oder mehr gegeben wurde, bekamen die kleineren und zeitgenössischeren Gruppen nur etwa 20 Minuten eingeräumt. Den zwei Gruppen wurde nicht genug Zeit und Raum für eine Debatte über ihre verschiedenen Sichtweisen auf Religion, Kunst und Politik gegeben; dieses Projekt war kontraproduktiv zur Erreichung des Ziels, religiöse Toleranz zu verbreiten und eine heterodoxe Kommunikation zwischen KünstlerInnen und der Öffentlichkeit zu fördern.
Erst kürzlich hat die KünstlerInneninitiative Open Circle (im Jahr 2000 gegründet) die von Linken, UmweltschützerInnen und feministischen Gruppen erprobten Strategien der Konfrontation und des Widerstandes kopiert. Während Open Circle zwar als Forum für den Enthusiasmus der jungen KünstlerInnen diente und ihre Energie unter anderem für ökologische Flüchtlinge verwendete, brachte ihre Anstrengung nicht viel außer leerer Rhetorik und propagandistischer Performances. Diese KünstlerInnengruppe muss erst realisieren, dass neue Situationen nach neuen Strategien verlangen und dass ihre Methoden in ein und demselben Akt der Umwandlung das Ästhetische politisieren und das Politische ästhetisieren müssen – eines ohne das andere wäre eine vergebliche Geste.
Wir erkennen also, dass indische KünstlerInnen ihre phantasievolle Fähigkeit, mit politischen Situationen umzugehen, auf eine einfache reaktive Haltung reduziert haben, die zwar kritisch, aber ohne affirmativen Inhalt ist. Weiters ist diese Haltung eine zelluläre Vorstellung, auf Individuen und kleine Gruppen beschränkt, die zu effektiven Interventionen im öffentlichen Leben nicht fähig sind. Es stellt sich die relevante Frage: Legen die KünstlerInnen nur zeitgeistige Solidarität mit politisch korrekten Anliegen an den Tag, oder suchen sie authentische Wege, mit einer größeren Öffentlichkeit in Kontakt zu treten?

Postscript

Wir sind also zu dem Schluss gekommen, dass weder Kunst auf Politik noch Politik auf Kunst reduziert werden sollte. Diese Mahnung trifft auf lokale und globale Situationen gleichermaßen zu. Es könnte hilfreich sein, einen Blick auf die kürzlich zu Ende gegangene Documenta11 zu werfen, die von Okwui Enwezor kuratiert wurde. Abgesehen davon, dass Enwezor mit den besten Absichten versuchte, jene kulturelle Produktion zu repräsentieren, die Aspekte der gegenwärtigen globalen Krise reflektiert – wie Armut, ungleiche Arbeitskraftströme, exportiere Umweltkatastrophen, strittige Besitzansprüche, urbane Dystopien, Massenmigration, Völkermord und Staatsüberwachung –, werden die BetrachterInnen nur allzu oft von Langeweile oder einer Betroffenheit der Marke »Sehen-und-Vergessen«, je nach dem, welchen Teil des Globus sie/er repräsentiert, überwältig. Leider wirkte der Ausstellungsort im Großen und Ganzen so, als würde der Anschein eines globalen Schulhofes vorgetäuscht werden. Didaktik im Schaffen und Kuratieren von Kunst kann zu gefährlichen blinden Flecken führen.
Meiner Meinung nach entsteht so ein blinder Fleck dann, wenn politische Prozesse der Archivierung und Dokumentation zum Status von Kunst verdinglicht werden. Obwohl die KünstlerInnen der Documenta11 als kulturelle »InterventionistInnen« präsentiert wurden, waren in ihren Arbeiten weniger formale Interventionen als vielmehr unvermittelte/unbearbeitete Fotoarchive, Magazinillustrationen oder Dokumentarfilme – getarnt als Ausdruck eines Konzepts – zu sehen. Wenn Kunst politische Rhetorik verdoppelt, wird sie Propagandainstrument, und all das subtile Betteln nach Wortspenden/Begriffen gegenüber dem Lokalen wird visuell auf gute alte Ethnografie reduziert.
Nehmen wir als Beispiel die Fotografien von einer Hindu-Prozession, von Bettlern und Bandwallahs des in Delhi lebenden Fotografen Ravi Agarwal. Diese neo-orientalistische Auswahl aus dem Kontext gerissener Bilder gleicht den »People of India-« und »Occupation«-Serien der britischen Kolonialethnografie. In einer doppelten Ironie ist Agarwals Kontext jener des Aktivismus, nicht die Galerie selbst: Es sieht so aus, als wäre er zwischen zwei Sessel gefallen, versucht er doch eine »künstlerische« Darstellung, während er gleichzeitig die Verbindung zu einer NGO-haften Bildlichkeit aufrechterhält. Es ist sehr unglücklich, dass viele postkoloniale und auch manche KünstlerInnen aus der »Ersten Welt« auf der Documenta11 die »Dritte Welt« durch das Prisma einer NGO-Ästhetik präsentieren – eine Ästhetik, die für den Zweck geschaffen wurde, den Mangel darzustellen.
Der in Delhi ansässige Filmmacher Amar Kanwar hat mit »A Season Outside« (1997) zwar vielleicht nicht das Vokabular der Bilderwelt auf den Kopf gestellt, doch war dieser Film über den territorialen Konflikt zwischen Indien und Pakistan beeindruckend. Auch er leidet jedoch unter einem langen didaktischen Kommentar zu Fragen über Frieden und Gewalt.
Um wieder zu allgemeineren Themen in Zusammenhang mit der Documenta11 zurückzukehren: Trotz ihrer Rhetorik der Aufnahme des »Anderen« ist es offensichtlich, dass die Ausstellung kanonischen Arbeiten von KünstlerInnen der »ersten Welt« mehr Platz einräumt und diese akzentuiert. Vielleicht widerlegt sie damit auf ironische Weise jene KritikerInnen, die meinten, dass die »Dritte Welt«-Ursprünge des in New York arbeitenden Enwezor automatisch Garantie für eine unproblematische Einbindung des »Anderen« sein würden; trotz allem verfügt Enwezor über ein tief greifendes Verständnis der dominierenden Geschichte des westlichen Modernismus und Postmodernismus, aus dem heraus er agierte.
Postkolonial zu sein, ist auch deshalb ein Nachteil, weil das kuratorische Gleichgewicht der Kräfte nicht zu unseren Gunsten ausfällt. Unsere spezifische Kunstgeschichte wird oft zu Gunsten einer Kunst übergangen, die, wie in diesem Fall, einer archivarischen Quelle ähnelt, deren Parameter von KuratorInnen aus der »ersten Welt« vorgegeben werden. Glücklicherweise können KünstlerInnen aus der »dritten Welt« auch diesem Imperativ widerstehen und ihn untergraben, wie etwa das in Delhi ansässige Raqs Media Collective in ihrer intermedialen Installation »28’28” N / 77’15” E : : 2001/02«, einer Montage von Video, Text, Sound, Drucken und Zeichensätzen, gezeigt hat. Die kartografische Bezeichnung im Titel ist die geografische Position von Delhi. Die Arbeit lädt die BetrachterInnen dazu ein, sich mit einer Vielzahl von Erzählungen zum Thema Besitz und Nutzung von urbanen Räumen auseinander zu setzten. Die Debatte um Legalität und Illegalität, MigrantInnen und Einheimische, veraltete Judikatur und entrückte Realität wird zuallererst durch Aufkleber auf Mülltonnen in Unterführungen und anderen Orten des öffentlichen Transits und Konsums in Kassel angeregt.
Raqs hat diese Aufkleber absichtlich auf Deutsch, Hindi, Englisch und Türkisch gedruckt, um die Tatsache zu unterstreichen, dass der Zustand des Mangels nicht der »Dritten Welt« eigen ist und dass das »Andere« auch innerhalb des »Eigenen« sein kann. Folglich würden die BetrachterInnen erkennen, dass die »Dritte Welt« nichts geografisch Gegebenes ist, sondern ein Zustand der Marginalität, der in jeder Gesellschaft, selbst in scheinbar fortschrittlichen Staaten wie Deutschland, zu finden ist. Diesen Themen begegnen wir in der Penumbra der Documenta-Halle, wo Raqs ihre Installation errichtet hat. Und während die Weltmetropolen in besetzte, mit Ausgangssperre versehene und abgeriegelte Enklaven geteilt werden, sieht sich Raqs in seiner Suche nach unbegrenzten Raum für Interaktion und Diskussion woanders um und findet die Lösung: ein digitales Gemeinsames, ein multi-auktorialer Online-Raum in Form des OPUS-Projekts. Ein Schritt in Richtung Zukunft, der einen Weg für die indische Gegenwartskunst vorzeichnet; ein Weg, der nicht allen konventionellen KünstlerInnen gefallen dürfte, der jedoch den Prozess des Bilder-Machens für Menschen und Räume jenseits der Galerie zugänglich macht.

 

Übersetzt von Brandon Walder

 

Dieser Essay stützt sich auf Konzepte einer Vorlesungsreihe, die ich in den Monaten Juni bis Juli 2002 im transmediale Salon (Berlin), Lothringer 13 (München) und im Zentrum für Kunst und Medien (Karlsruhe) gehalten habe.