Heft 4/2002 - Fernost


Seesamen in der Steppe

Zum Status der koreanischen Minderheit in Kasachstan

Julia Sorokina


Ich mag koreanischen Seesamensalat. Ich esse ihn genauso gerne wie alle anderen EinwohnerInnen Kasachstans – ob sie nun Kasachen, Russen, Tschetschenen, Georgier, Koreaner sind oder irgendeiner anderen der 138 Nationalitäten angehören, die in Kasachstan leben. Seesamen enthalten Jod, etwas, das unserem Wasser fehlt. Wir gehen in den Basar und kaufen sie bei den großen koreanischen Ständen, voll mit würzigen, farbenfrohen Speisen. Dabei denken wir nie daran, wie die KoreanerInnen bzw. andere Nationalitäten oder in der Diaspora lebende Menschen in Kasachstan ihr Zuhause gefunden haben.
Das ist vor allem durch den Willen Stalins in den dreißiger Jahren geschehen. Er betrachtete Kasachstan als einen besonderen Ort, um ein internationales Experiment durchzuführen. Am 1. November 1938 unterfertigte er ein geheimes Dekret, das die Deportation einer großen koreanischen Bevölkerungsgruppe, die als staatsgefährdend eingestuft wurde, vom äußerten Osten der Sowjetunion nach Zentralasien betraf. Stalin war überzeugt, dass jeder Koreaner potenziell ein japanischer Spion ist und Russland im Krieg mit Japan beträchtlichen Schaden zufügen kann. Aber niemand erklärte diesen Menschen, warum sie binnen 24 Stunden ihr Haus verlassen müssen. Soldaten packten einfach 1.826 koreanische Familien in zwei Züge und beförderten sie an verschiedene Orte. Viele der Koreaner verhungerten oder starben während dieses Transports an Krankheiten. 19.000 Koreaner wurden schließlich nach Buchara, Kyzyl-orda, Karaganda, Dzhambul und an andere Orte verfrachtet. Aus diesem Grund bilden die Koreaner die größte Diaspora in Kasachstan. Laut einer Volkszählung aus dem Jahre 1989 lebten damals 103.315 Koreaner in Kasachstan. Aber, wie es ein russisches Sprichwort sagt: »Glück folgt auf Unglück« – und so ist es heute unmöglich, sich irgendeine relevante Berufsgruppe ohne vortreffliche RepräsentantInnen der koreanischen Diaspora in Kasachstan vorzustellen. Was die zeitgenössische Kunst betrifft, möchte ich drei KünstlerInnen mit koreanischen Wurzeln vorstellen: Natasha Kim, Valera Kaliev und Sasha Ugay. Sie sind jung und haben vor einigen Jahren ihre künstlerische Karriere gestartet. Mit ihnen habe ich Themen ihrer nationalen Identifikation diskutiert.

Natasha: Ich mag mich selbst nicht besonders. Ich bin scheu, weil ich so schmal bin und in der Provinz lebe. Ich mag kluge und schöne Menschen, und deshalb habe ich mein Video »I love Naomi and Naomi loves fruits« gemacht. Ich bewundere wirklich kluge Leute wie Naomi Campbell oder zum Beispiel auch Salvador Dali. Und das hat mit ihrer Nationalität nichts zu tun.

Valera: Hmm … Ich denke nie über meine Nationalität nach. Ich bin zum Teil koreanisch – meine Mutter ist Koreanerin, und mein Vater ist Kasache. Ich erinnere mich daran nur, wenn mich Kasachinnen fragen, warum ich nicht kasachisch spreche. Aber ich spreche auch kein Koreanisch.

Sasha: Das ist bei mir ähnlich. Ich weiß, wie man »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen« sagt, und noch einige Floskeln und natürlich die Namen von koreanischen Speisen. Ich mag unsere Speisen. Ich mag es, wenn mir meine Großmutter aus Kyzyl-Orda, wo meine Familie lebt, Sojapaste schickt. Mich interessiert mehr die sowjet-kasachische Geschichte meiner Familie. Sie haben alle hart gearbeitet. Mein Großvater zum Beispiel war Schiffskapitän am Aralsee, als meine Familie in Aralsk lebte, damals war das wirklich noch ein Meer. Diesen November werde ich gemeinsam mit einigen Freunden eine Reise an den Aralsee unternehmen. Wir wollen dort Interaktionen mit Ortsansässigen suchen und »Heilige Performances« durchführen. Wir werden sie fotografieren und daraus Video-Objekte und CD-ROMs herstellen. Es soll eine Art Segel-Handbuch für den Aralsee werden. Ich habe ein altes Segel-Handbuch aus dem Jahr 1956, und ich möchte es auf die aktuelle Situation anwenden – jetzt, wo der Aralsee derart geschrumpft ist.

Valera: Nimm mich doch mit an den Aral! Es ist eine gefährliche Gegend, und ich könnte dir von Nutzen sein. Darüber hinaus glaube ich, du brauchst noch eine zusätzliche Fotografin. Ich muss vorher nur noch mein Projekt über die Tamgaly-Petroglyphen fertig stellen. Darin geht es einmal mehr um meine persönliche, nicht meine nationale Identität. Ich bin stets neugierig, was andere interessante Themen betrifft, und aus diesem Grund kann ich mich, was meine künstlerische Haltung betrifft, nicht für den Mainstream entscheiden. Es sollte aber etwas sein, wo man mit der Kamera arbeitet – Fotografie, Video, etwas in dieser Richtung.

Natasha: Ich ziehe es ebenfalls vor, mit neuen Technologien zu arbeiten – Computeranimation, 3D-Grafik, Video. Aber manchmal verwende ich in meiner Arbeit mein koreanisches Gesicht, wie in meiner letzten Arbeit »Mein Vater ist Koreaner, meine Mutter ist ein Alien«. Aber dabei geht es auch mehr um eine persönliche Identifikation als um eine nationale. Und es beinhaltet viel Humor, nichts Ernstes – nicht diese Art Suche oder Sehnsucht nach nationalen Wurzeln …

Sasha: Ja genau. Für mich ist es auch wichtiger, meine eigene Mythologie zu schaffen, und manchmal benutze ich meine ethnische Zugehörigkeit, aber mehr in der Art eines fernöstlichen kulturellen Erbes. Ich verwende zum Beispiel japanische Musik in meiner Video-Performance »Teezeremonie«. Manchmal verfasse ich auch pornografische Haikus. Das sind japanische Gedichte, und manchmal schreibe ich kurze mythologische Geschichten über mich selbst wie zum Beispiel »Genossin Li« – Li ist der Name meiner Mutter.

Valera: Der Name meiner Mutter ist Kim. Ich beziehe mich aber nie auf meine koreanischen Wurzeln. Ich mag das nicht, und mich interessiert das Thema auch nicht. Vielleicht ist das ein Resultat der Atmosphäre in meiner Heimatstadt Karaganda. Im Moment arbeite ich für ein juridisches Nachrichtenblatt als Fotografin und werde Zeugin vieler Dinge, die mit kriminellen Situationen zu tun haben. Es ist ein interessantes Thema – auch was den Bezug zu unserer jüngsten sowjetischen Vergangenheit betrifft. Das interessiert mich mehr, und aus diesem Grund beschäftigen sich meine Arbeiten auch damit. Zum Beispiel »Ornaments«: Da habe ich aus Fotografien, die ich in Gefängnissen, auf kommunistischen Treffen, bei Paraden usw. aufgenommen habe, eine Art Bilderteppich angefertigt. Es bedeutet nicht, dass ich jeglichen sowjetischen Einfluss ablehne. Ich war glücklich in meiner Pionierkinderzeit, und ich mochte das Gefühl der Gleichberechtigung, das ich in der Vergangenheit erlebt habe.

Sasha: Ich verabscheue es auch, wenn Leute anfangen, jemanden anhand seiner/ihrer Nationalität einzustufen. Das ist etwas Unangenehmes in einer multikulturellen Gesellschaft. Einmal bin ich mit einem russischen Typen in Streit geraten, weil er mich »Koreaner« geschimpft und nicht bei meinem Namen genannt hat. Tatsächlich glaube ich, dass es bald überall auf der Welt eine multinationale Bevölkerung geben wird. Ich möchte nicht an einem Ort leben, wo man nur ein die selbe Nationalität um sich hat. Ich mag es gerne, das internationale Erbe der Menschheit als Grundlage meiner Arbeiten zu verwenden. Ob eine Richtung eher als europäisch oder orientalisch definiert wird, hängt nur von ihrer Botschaft ab. Tatsächlich bin ich eher Nomade als Koreaner …

Valera: Nun, »den Osten zu verstehen, ist eine eigene Sache« … Erinnerst du dich noch an unsere Reise während des »Non-Silk Way«-Projekts?

Und dann begannen wir mit unserem Abendessen, aßen Reis und Seesamen und erinnerten uns an einige Situationen unserer gemeinsamen Projekte. Und ich habe schlussendlich begriffen, dass es da etwas Besonderes an ihnen gibt, das Natasha Kim, Valera Kaliev und Sasha Ugay von anderen KünstlerInnen aus Kasachstan unterscheidet. Vielleicht ist es eine Art orientalischer Weisheit, vielleicht Toleranz, vielleicht eine eigenartige Höflichkeit, vielleicht eine größere Gewandtheit in technischen Dingen, vielleicht auch etwas anderes oder alles zusammen. Ich mag dieses »etwas« und kann mir unsere multinationale »Kunst-Küche« nicht vorstellen ohne diese koreanische Zutat

 

Übersetzt von Hina Berau