Heft 1/2003 - Netzteil
Die Ausstellungen zum Thema der kinematografischen Erfahrung in der Kunst waren zahlreich seit dem hundertjährigen Kinojubiläum. So wurden die Strukturen des Massenmediums und der Unterhaltungsindustrie im 20. Jahrhundert analysiert und von den Erzählstrukturen, Bedeutungsebenen, Konstruktionen, Clustern und Ästhetiken des Films Parallelen zur Kunst gezogen. Das alte Mediendiktum der Körpererweitungen kam der Kunst wie gerufen, vereinigen sich doch im Film die den Menschen in seiner Kreativität auszeichnenden Disziplinen: Literatur, Schauspiel, Theater, bildende Kunst, Architektur, Musik. Nicht zuletzt gingen von jüngeren KünstlerInnen wie Christopher Williams, Pae White oder Jorge Pardo aus Los Angeles/Hollywood Anfang der neunziger Jahre Impulse aus, die künstlerische und nichtkünstlerische Diskurse verbanden. Diese Ansätze kamen dem künstlerischen Neokonzeptualismus, aber auch den Pluralismen im postmodernen Zitatkino zupass. Als Bestätigung und Gegentendenz zu all diesen, dem »letzten Jahrhundert« zuzurechnenden Phänomenen richten die beiden Pioniere interaktiver Installationskunst, Peter Weibel und Jeffrey Shaw, die umfassende Ausstellung »Future Cinema« aus. »Future Cinema« basiert auf – neue Kamera- und Projektionstechniken bietenden – materiellen Veränderungen, mit denen auch neue Erzählformen und Bildsprachen verfügbar werden, die künftige kinematografische Entwicklungen utopisch vorwegnehmen. Für Shaw ist dies zugleich sein Abschied als Leiter des Instituts für Bildmedien am ZKM.
Dem herkömmlichen Kino geht es nicht nur ökonomisch schlecht. Erschreckend sind die Umsatzzahlen und Insolvenzdrohungen der UFA- und seit neuestem auch der Multiplexkinos in deutschen Landen. Und das gute alte Programmkino ist seit Jahren Mangelware. Die Hegemonie Hollywoods ist unbestritten, standardisierte Blockbuster erobern regelmäßig unsere Metropolen, Inhalt und Format sind seit Jahrzehnten unverändert, sieht man von einigen auf Computerspielmythen fußenden Filmen wie »The Matrix« oder »Fight Club« ab. Gleichwohl analysieren KünstlerInnen seit langem die faszinierende Maschinerie und Bildästhetik des Kinos und irritieren mit der Brechung von Sehgewohnheiten unseren Glauben an die Traumfabrik. Cindy Sherman war bahnbrechend mit ihren »Untitled Film Stills« von 1977–80 und Dan Graham visualisierte 1981 seine Idee eines Kinos, welches statt der Maschine die Leinwand und das System voyeuristischer Identifikationen bloßlegte. Er schrieb: »Das Kino gilt dabei als prototypisch für alle anderen perspektivischen Systeme, die der Schaffung eines sozialen Subjekts durch Manipulation seiner imaginären Identifikationen dienen.«
»Wenn Film die eigentliche Kunst des 20. Jahrhunderts ist«, wie Peter Weibel an anderer Stelle betonte, dann stellen die Digitaltechnik, Internet, Flash-Player, MUDs, etc. eine Demokratisierung der künstlerischen Produktionsmittel des an sich autoritären, anti-demokratischen Kinos dar. Die reichhaltige Palette neuer Interaktionsmodi verlangt einen in den kreativen Prozess einbezogenen User, woraus auch größere Zuschauernähe und avancierte Filme folgen müssten. Doch stehen diesem frommen Wunsch kaum noch kritische Potenziale gegenüber. Erweiterungen werden – was unter anderem die aus der Krise des europäischen Kinos geborene »DOGMA 95«-Reihe demonstriert – eher über formale (und technische) Beschränkungen und Konzentration artikuliert. Im Fahrwasser jener Erweiterungen (durch Rückschritt) keimt der momentane Optimismus auf, der mit aller technologischer Macht, einem sich – frei nach Virilios »Kino und Krieg« – selbst steuernden Kreativ-Marschflugkörper gleich, im ZKM einschlägt. Auf den Transformationen des kinematografischen Apparats, wie sie von Individuen durchgeführt werden können, liegt der Schwerpunkt der Karlsruher Ausstellung, die dezentralen Umgebungen (die auch soziale Räume sind) weisen den Zuschauer dann sogar als Hauptdarsteller aus. Experimentelles Hauptaugenmerk gilt also den Ansätzen zur Gestaltung interaktiver, nichtlinear narrativer Inhalte. Und der zukünftigen Medienkunst wird gegenüber dem trivialen Leinwandgeschehen der bestehenden Bildersemantik das Zauberwort »immersive Environments« als ein heilender Mantel umgehängt. Hier wie dort geht es um IndividualistInnen, um KünstlerInnen, welche die (von Hollywood gesetzten) globalen Standards unterlaufen oder überwinden. Und gerade die Stars des Genres, etwa Eija-Liisa Ahtila und Isaac Julien, bleiben der Leinwand treu, in Anlehnung an Dan Grahams Diktum über die Macht des Fluchtpunkts, den wir als gerahmtes Rechteck (Blick aus dem Fenster, Fern-Sehen) imaginär und voyeuristisch verinnerlicht haben. Nur die Perspektive selbst und die Nutzung paralleler Projektionen lässt uns den Kitzel eines multiplen Auges erspüren. Sie sind Ausnahmen inmitten interaktiver, per Mausklick manövrierter Bildercodes, denen meist eine Narration fehlt wie dem virtuellen Raum die dritte Dimension. Die von den Kuratoren apostrophierte Konvergenz des orts-unabhängigen, digitalen Online-Kinos zwischen PC, Fernsehen und Netz ermöglicht neue Erfahrungen und führt zum Verlust des Kontextes, der erst nach mühsamer Konstruktion (oder langen theoretischen Erklärungen neben den Werken) wieder in die Bilderspiele eingespeist wird. Jedoch outen wir uns als Spielverderber, wenn wir von dieser Perspektive an die Werke herantreten. Die neuen Interaktionsmodi evozieren den Verlust einer kollektiven Erfahrung, welche den Kuratoren als derzeit auffälliges Phänomen Argument genug ist, den User als Regisseur und Kameramann zu bezeichnen.
Über 50 Installationen, Filme, Datenbanken und Projektionen illustrieren diese aktuelle Kunstpraxis, ergänzt durch ein von Nora Barry kuratiertes Webcinema-Programm mit Vorläufern seit 1997. Barry betont den Einfluss von Computerspielen oder QuickTime auf CD-ROM und schreibt: »Im Januar 1997 brachte Macromedia Flash 1.0 auf den Markt, ein Animationspaket ›von der Stange‹, und kurz darauf kam RealNetworks mit RealVideo 1.0 heraus. Im Juli dann stellte Apple eine Webversion von QuickTime vor. Die Einführung der Web-kompatiblen Programme RealAudio und QuickTime machte es möglich, Video über das Internet zu vertreiben. Nicht weniger wichtig war, dass die Modemübertragungsrate 28kbps erreicht hatte, was das Herunterladen und Anschauen von bewegten Bildern letztlich erst ermöglichte. Wie das bühnenbezogene Kino, dessen Existenz sich öffentlichen Aufführungen verdankt, braucht auch das Web-Kino eine Öffentlichkeit, um (ordentlich) existieren zu können.« Irgendwie ist das »Web Cinema« und seine Geschichte der eigentliche, authentisch zeitgemäße Teil innerhalb von »Future Cinema«.
Die Aufbrechung des optischen Apparats gelingt mitunter eindrucksvoll. Lev Manovich koppelt in »Soft Cinema« die Dogma-Regeln mit Mondrians Bildanlagen und globaler Bilderinformation, sodass einem ein teils zufallsgenerierter Filmmix eines FJ (Film Jockey) vor Augen flimmert. »Soft Cinema« stellt sich der Frage, wie subjektive Lebenserfahrung in der globalen Informationsgesellschaft repräsentiert werden kann. Michael Naimark stellt uns weniger sinnig gleich auf eine rotierende Bodenplatte, um Schwindel vor den Allerwelts-Panoramen zu erzeugen. Gigantisch ist die Kuppel von Jean-Michel Bruyère, deren Panoramaeffekt ebenso auf die Vorform des Kinos zurück verweist und somit neue Perspektiven zu eröffnen hofft. Wirklich neue, ungeahnte kreative Möglichkeiten verdeutlichen die neusten Multimediainstallationen von Pat O’Neill (»The Decay of Fiction«) oder Peter Cornwell (»MetaPlex«), bei der Musikclips die Datenbankbasis und eine von Barcodes bestimmte interaktive Weltsicht im Ambient-Look darstellen. Ähnlich ambitioniert verfolgt Constanze Ruhm die Rolle der Frau im Film. Ihr »Coming Attraction« ist eine netzbasierte und ständig erweiterte Datenbankinstallation, bei der soziologisch Interessierte ihre Freude an weiblichen Repräsentationen haben werden.
Im dunklen Ambiente der höhlenartigen Laboratoriumsatmosphäre darf als anti-kontemplative Ersatzhandlung angepackt, ausprobiert, geschoben und gedreht werden – das Fenster der Zukunft eines kinematografischen Endstadiums oder das kühle Neon-Blau des Flash-Neubeginns in Platons Grotte? Bei allem Optimismus, aller Propagierung des Interaktiven und der mitunter theoretischen Euphorie in der kontroversen Ausstellung vermisst man dieses Muster an Wirklichkeit, diese spezielle Bildschicht, wie es die antiquierten, physischen Oberflächen ohne Stromkabel oder das Kinodunkel immer noch vermögen. Eine wahre Entdeckung und schlicht bezaubernd sind jedoch die zwei Arbeiten von Jim Campbell aus Chicago. »Illuminated Average #1 Hitchcock’s Psycho« bringt – den eindrucksvollen Kinofotografien Hiroshi Sugimotos verwandt – die Lichtinformation aus dem berühmten Film in ein unscheinbares Diapositiv unter und verzaubert insofern nur scheinbar – »dia« bedeutet immer noch »durch« und nicht wie in den kalten Screens »aus«. Ebenso wird »Church on Fifth Avenue« sehr schlicht gebildet aus 768 roten LEDs hinter einer schräg montierten Plexiglasplatte, bei der das Verwischen der Bildpunkte Bewegung simuliert – aus den Anfängen der bewegten Bilder winkt uns paradoxerweise die Zukunft des Kinos entgegen und beweist: Bessere Technik ist kein Garant für bessere Bilder, denn diese entstehen nach wie vor noch im Kopf des Betrachters, nirgendwo sonst. Hatte uns nicht auch Peter Friedls »KINO« auf der zehnten documenta 1997 präzise jene Transzendenz vermitteln wollen?
Bis 30. März 2003 im ZKM Karlsruhe, danach im KIASMA Helsinki (Juni bis September 2003), am ICC Tokio (Dezember 2003 bis März 2004) und am ACMI Melbourne (Juni bis September 2004). Ein umfangreicher englischer Katalog folgt.
Infos unter: http://www.zkm.de/futurecinema