Heft 1/2003 - Netzteil


Clip-Archiv

Aktuelle DVD-Kompilationen dokumentieren die jüngere Musikvideogeschichte

Christian Höller


Auch so kann Globalisierung aussehen: Das Video beginnt mit einem Zoom auf eine Briefmarke, auf der »Communications for Peace« steht. In der Folge wird diese amerikanische 4-Cent-Marke zu einem Satelliten, der den Globus umkreist. Dieser wiederum setzt sich zur Gänze aus länderspezifischen Briefmarken zusammen und ist damit eine späte Replik auf Aligieri e Boettis Weltatlas aus Landesflaggen. Ein Bild der Welt in der digital animierten Bilderwelt, die der Regisseur Sebastian Kaltmeyer hier aus seiner stattlichen Briefmarkensammlung gebaut hat, begleitet vom Musikstück »To be poor is a crime« von Digital Jockey. Nach diversen Stop-and-Go-Zooms auf verschiedene »Krisenregionen« – Irak, Ruanda, Argentinien, etc. – geht die elektronische Weltreise weiter Richtung Norden. In Kanada kündet die philatelistische Repräsentation abermals von »Peace on Earth«, bis der Track seinen friedfertigen Ausklang schließlich auf Jamaika bei der Briefmarkenaufschrift »Studies in Dub« findet. Arm zu sein ist ein Verbrechen in der globalisierten Welt, und die großen Zusammenhänge nicht zu kennen, ein noch viel unverzeihlicheres Defizit in Sachen Repräsentationspolitik.
Kaltmeyers Video, das es nie in einen der herkömmlichen Musikvideosender schaffen würde, ist auf einer DVD-Kompilation zu finden, wie sie mittlerweile immer häufiger im selbst organisierten Multimedia-Produktionsbereich entstehen. »For Promotional Use Only«, so der selbstironische Titel dieser Zusammenschau großteils unabhängig produzierter deutscher Music-Clips aus den letzten drei Jahren, greift zum Mittel der Selbst-Distribution. Nicht zuletzt, um der Corporate-Strategie der schnellen, quotenabhängigen Marktsättigung einen Schritt voraus zu sein, sondern auch – durch die Qualität der Auswahl – eine Art Archiv anzulegen, wie es in diesem Bereich von den Konzernen schlichtweg vernachlässigt oder wenn, dann mit zwanzig Jahren Verspätung als Retro-Mode gepflegt wird. So lassen sich die unbekannteren Clips, etwa von Yvette Klein (für das Projekt »POP UP«) oder der Gruppe Datenstrudel (für Peter Lichts »Heiterkeit«), jetzt schon als Fundstücke einer künftigen Medienarchäologie einschätzen. Irgendwann einmal wird an ihnen der – beizeiten selbst kaum wahrgenommene – Zeitbezug von Pop ablesbar sein. Ein Manko, das den bekannteren auf der DVD vertretenen Beispielen wie Husain/Klöfkorn (für Jan Delay) oder Smoczek Policek (für die Goldenen Zitronen), die immerhin auf diverse Festivaleinsätze verweisen können, weit gehend erspart bleibt.

Nischen und Ecken

Wie groß momentan der Bedarf nach einer Aufbereitung von rund zwanzig Jahren, großteils undokumentierter Musikvideogeschichte ist, belegen zwei weitere, vor kurzem veröffentlichte DVDs. Weniger dem tatsächlichem Off-Bereich verpflichtet als vielmehr einer Art mainstreamkompatiblem Alternative-Kanon ist der Sampler »introduced 100«, der anlässlich der hundertsten Ausgabe des Kölner Musikmagazins »Intro« erschien. Die 42 (!) darauf enthaltenen Clips sollen laut Untertitel eine »Essenz« der letzten zwölf Jahre bieten. Der Bogen spannt sich daher auch entsprechend weit – von HipHop (Arrested Development, The Pharcyde) zu aktuellem deutschen Dance-Pop (Justus Köhncke, International Pony). Dass das Ansinnen solch umfassender Best-of-Zusammenstellungen an den zwangsläufigen Auslassungen bzw. an unausgesprochenen Genrepräferenzen scheitern muss, liegt auf der Hand. Dass sich aber selbst in diesem unüberblickbaren Terrain immer wieder Nischen in Richtung nicht kanonisierter Formen auftun, zeigen einzelne Off-Klassiker wie Nick Gordons Video zu Roni Sizes »Brown Paper Bag« (1997) oder der Clip zu Basement Jaxx’ »Where’s Your Head At« (2000): In einem laborartigen Musikaufnahmestudio verselbständigen sich die Versuchsaffen und führen bei den Corporate-VertreterInnen zu blankem Entsetzen.
Dem Auffinden solcher »Nischen« hat sich die DVD »visual niches – extraordinary music videos«, Ende 2002 erschienen, ebenso explizit verschrieben. Die hier ausgeleuchteten Randbereiche kommerzieller Produktion beschränken sich auf 15 Clips der letzten fünf Jahre, von dezenter Elektronik (Sensorama) bis zu ätherischem Hypno-Pop (Sigur Rós). Die visuell anspruchsvollsten Arbeiten des Samplers operieren entweder mit erfrischend eingesetzten Editier- und Zoomtechniken – so im Fall von Thomas Hillands Video zu Röyksopps »Eple« – oder entwerfen schlichtweg abstruse Kurzspielfilme über die große elektromagnetischen Verschwörung – etwa bei Geoff Johnstons Clip für Super_colliders »Messagesacomin«. Dass das mittlerweile kaum noch aufzutreibende »Rockit« aus dem Jahr 1983 (Musik: Herbie Hancock, Regie: Godley & Creme) hier wieder zugänglich gemacht wird – eine grandiose Rhythmus- und Bewegungsstudie mit roboterartigen Kleiderpuppen –, darf wahrlich als Bonus von »visual niches« verzeichnet werden.

Eigenbauarchiv

Näher an der – abstrakt-minimalistischen – Gegenwart bewegt sich die letzten Herbst erschienene Sammel-DVD der beiden Wiener Multimediagruppen vidok und re-p. In mehreren Sektionen, etwa »Experimental« oder »Shorts«, lässt man darauf die umtriebigen Aktivitäten der letzten Jahre Revue passieren: von den ersten, immer noch bestechenden Synchronisationsstudien über neuere elektronische Musik (»santora«, »traxdata«) bis hin zu mittlerweile auch kommerziell honorierten Konzeptvideos, etwa Timo Novotnys jüngster Regiearbeit für die Sofa Surfers, »Can I Get a Witness?« (2002), die 24 Stunden in Adolf Loos’ American Bar in dynamisierten Einzelbildern einfängt. Einen Schritt »zurück« ins alte Medium des 35-mm-Films hat Norbert Pfaffenbichler gewagt. Seine »Notes on Film 01 Else« (2002) zeigen in fünf nebeneinander platzierten Kadern Screentests bzw. Kopfstudien im Stil des frühen Kinos. Else, die Hauptdarstellerin, führt einfache (Kopf-)Bewegungen aus und klatscht, als Art Klappe am Ende jeder Szene, immer wieder in die Hände. Synchronie und Perspektive werden hier räumlich aufgefächert, die Filmzeit in einen sichtbar gemachten Einzelbildstreifen buchstäblich »zerlegt« – Filmanalyse mithilfe der neuen Medien.
Auch vidok/re-p legen mit ihrer Kompilation, ähnlich wie die anderen erwähnten DVD-Projekte, ein Eigenbauarchiv an. Ein Schritt, auf den künftige Musikvideo-ArchäologInnen dankbar zurückblicken werden.

 

 

For Promotional Use Only – Musikvideos aus dem OFF, http://www.bold-dvd.de
introduced 100 – Essential Music Videos 1992 – 2002, Universal_Marketing Group, http://www.intro.de
visual niches – extraordinary music videos, e:motion, http://www.efa-emotion.de
vidok/re-p DVD, http://www.vidok.org