[b]»Time for Action!«[/b] Seit geraumer Zeit schon ist dieser Aufruf mit neuer Emphase im künstlerisch-kulturellen Feld zu vernehmen. Egal ob es sich dabei um das Auftauchen politisierter Ansätze im Kunstfeld oder um den Übergang von Kunst zu konkreten Aktionsformen handelt – an vielen Orten verbindet sich heute der Drang zu politisch bzw. sozial motiviertem Handeln mit künstlerischen Repräsentations- und Artikulationsfragen.
springerin 2/2003 führt an Orte solchen Zusammentreffens und beschäftigt sich darüber hinaus mit den Bedingungen, unter denen sich das neue Interesse an globalen Ungerechtigkeiten mit Umsetzungsformen von Kritik koppeln lässt. So analysiert der Soziologe Zygmunt Bauman die großflächigen Veränderungen, welche die zunehmende Spaltung in eine globale Elite und eine wachsende Klasse von Besitzlosen und »unfreiwilligen Touristen« nach sich zieht. Ergänzend fragt Jeff Derksen, inwiefern nicht die neuen globalen Bestrebungen der einzigen verbliebenen Supermacht eine kulturimperialistische Dimension besitzen und unter welchen Voraussetzungen diese greifbar wird.
Einen konkreten weltpolitischen Krisenherd abseits der jüngsten Kriege umreißen die Beiträge von Hedwig Saxenhuber, Dorothee Richter und Hito Steyerl, die sich mit aktuellen Auseinandersetzungen rund um den Israel-Palästina-Konflikt bzw. innerisraelischen Brennpunkten befassen. Ein zweiten thematischen Fokus bildet eine Reihe von Beiträgen, die den Entwicklungslinien einzelner osteuropäischer Szenen und deren gesellschaftspolitischen Bezügen nachgehen. So rekapituliert Herwig G. Höller die prekäre Inanspruchnahme aktionistischer Kunst im offiziellen Moskau und beschäftigt sich in einem zweiten Beitrag mit dem unbequemen, stets obrigkeitskritischen Kino des serbischen Regisseurs Zelimir Zilnik; demgegenüber analysiert Boris Buden die forcierte Aufbereitung so genannter »Balkan-Kunst« im europäischen Kulturbetrieb.
Oft genug scheinen künstlerisch-politische Aktionsformen heute einer Zerreißprobe ausgesetzt zu sein. Zum einen häufen sich zwar die Aktionen auf den so genannten »Globalisierungsgipfeln« oder aus konkretem Anlass wie dem Irakkrieg, zum anderen sind diese Protestformen aber nur schwer in das Kunstfeld rückübersetzbar. Wie solche Rückvermittlungsversuche im Einzelfall ablaufen, dokumentieren zwei Beiträge, welche die wachsende Popularität aktivistischer Ansätze in der aktuellen französischen Kunstszene beleuchten (Martin Conrads, Jens Emil Sennewald).
Es sei noch darauf hingewiesen, dass springerin mit diesem Heft ein neues Erscheinungsbild bekommen hat. Erhalten bleibt die grundsätzliche Heftstruktur von Netzteil, Thema und Artscribe – aufgefrischt durch zahlreiche neue Gestaltungsideen und nicht zuletzt Diskursbeiträge, die aktueller denn je sind.
[b]Zum Cover:[/b]
[b]Meir Gal: Nine Out of Four Hundred: The West and the Rest[/b]
Seit der Gründung Israels erfahren wir vor allem etwas von den und über die dort lebenden europäischen Juden, die Ashkenazim. In zahlreichen Büchern und Artikeln wird der Staat Israel als ein Land dargestellt, das Menschen mit verschiedenem ethnischen Hintergrund erfolgreich zusammengebracht hat. Leider haben die meisten dieser Texte zu einer Wahrnehmung geführt, die weit von jener Wirklichkeit entfernt ist, mit der die nicht-aschkenasischen Gruppen leben müssen. Die Mizrahim (Juden asiatischer und afrikanischer Herkunft und arabische Juden, die man üblicherweise als Sephardim bezeichnet), die über die Diskriminierung, mit der sie in Israel konfrontiert sind, schreiben und die Geschichte des Widerstandes dagegen dokumentieren, werden zensuriert und kritisiert. Bis heute sind mizrahische Aktivisten in Israel marginalisiert und werden oft von öffentlichen Ämtern und öffentlicher Finanzierung ausgeschlossen.
Die offiziellen Geschichtsbücher des jüdischen Volkes, die in israelischen Schulen verwendet werden, widmen sich fast ausschließlich der Geschichte des europäischen Judentums. Über Jahrzehnte hat das Bildungsministerium die Geschichte der Juden aus dem Mittleren Osten, Asien und Afrika systematisch ausgelöscht. Diese Schulbücher tragen dazu bei, ein Bewusstsein zu schaffen, in dem die Geschichte der Juden ausschließlich in Osteuropa angesiedelt ist, während die Mizrahim keine der Erinnerung würdige Geschichte haben. Diese Politik, die in der Mitte des 18 Jh. einsetzte, geht in ihrem Ursprung auf die Art zurück, wie die Ashkenazim schon vor der Staatsgründung mit der Diaspora der Mizrahim umgegangen sind: Die jüdischen Gemeinden in Europa sowie die osteuropäischen Führungspersönlichkeiten in Palästina und später in Israel betrachteten nicht-europäische Juden als rückständig und primitiv. In den 50er Jahren ergriff man Vorsichtsmaßnahmen in Form einer selektiven Einwanderungspolitik, um den »gefährlichen levantinischen Einfluss« nicht-europäischer Kulturen auf die neue israelische Identität gering zu halten.
Vom Augenblick ihrer Ankunft in Israel an wurden die Mizrahim gezwungen, die jüdisch-arabische Identität zu verleugnen, die sie über die Jahrhunderte in den Ländern des arabischen Raums und in Palästina gehabt hatten. Während dieser langen Zeit war es kein Widerspruch gewesen, gleichzeitig Jude und Araber zu sein. Das Aufkommen des Zionismus und die Gründung des israelischen Staates trieb jedoch einen Keil zwischen die Mizrahim und ihre Abstammung und ersetzte ihre jüdisch-arabische Identität durch eine neue israelische Identität, die auf dem Hass gegen die arabische Welt beruhte. Es war unvermeidlich, dass dies für die Mizrahim in unversöhnlichem Leugnen der eigenen Vergangenheit mündete, aus dem sich langsam Selbsthass entwickelte. (Die harten ethnischen Konflikte innerhalb von Israel, die daraus resultierende Klassengegensätze aber auch ihre Auswirkungen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt bleiben in den meisten, wenn nicht allen Diskursen über die Geschichte und Politik des Mittleren Ostens gänzlich ausgespart.)
Das Buch auf dem Foto ist das offizielle Schulbuch zur neueren Geschichte des jüdischen Volkes, das Gymnasialschüler in den 70er Jahren verwendeten (so auch ich). Die neun Seiten, die ich in der Hand halte, sind die einzigen Seiten, die sich mit der Geschichte der nicht-europäischen Juden beschäftigen - daher auch der Titel »Nine Out of Four Hundred (The West and the Rest)«. Meine Absicht ist es, den Spekulationen darüber ein Ende zu bereiten, ob die Mizrahim in Israel diskriminiert werden oder nicht. Das Bildungsministerium löscht heute weiterhin die Geschichte der nicht-europäischen Juden aus, obwohl dieser mehr als die Hälfte der israelischen Bevölkerung ausmachen. Und das ist nur ein Beispiel für die vielen Methoden, mit denen der Staat seine nicht-europäische Mehrheit zur Minderheit gemacht hat.
(1997/2003)
Übersetzung: Elisabeth Frank-Großebner