Heft 2/2003 - Time for Action
»Liquid Modernity«, »Society Under Siege« oder zuletzt »Liquid Love« – unter diesen Titeln analysiert Zygmunt Bauman Jahr für Jahr den gerade stattfindenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel.1 Bauman, der 1925 im polnischen Poznan geboren wurde und seit 1971 im englischen Leeds lebt, wurde selbst früh mit radikalen politischen Umbrüchen und Entwurzelungen konfrontiert – etwas, das ihn später unter anderem zu seiner Auseinandersetzung mit Moderne und Holocaust führte.2 Nachdem er 1968 erneut Opfer einer antisemitischen Vertreibung wurde, diesmal von der Warschauer Universität, ließ er sich für einige Zeit in Israel nieder, um kurz darauf dem Ruf der Universität von Leeds zu folgen, deren Soziologieinstitut er daraufhin lange Zeit leitete.3
Baumans theoretische Ausführungen begleiten seither in enger Anlehnung und Abgleichung das, was er einmal die »große Transformation unserer Zeit« genannt hat: die stete Verflüchtigung ehemals stabiler sozialer Beziehungen, die immer stärkere Individualisierung innerhalb der westlichen Kultur, schließlich die immer eklatantere Verabschiedung der Politik von den globalen Schauplätzen der Macht. Hatte Bauman bereits 1998 pointiert auf die »menschlichen Konsequenzen« der Globalisierung hingewiesen 4, so arbeiten seine jüngsten Werke in immer neuen Details die Entwicklungslinien der »Gesellschaft im Belagerungszustand« heraus. Eine dieser Linien führt zu der Frage, wie den neuen, globalen Machtstrukturen begegnet werden kann; wie der Weg vom prekären Status des bloßen »Zuschauer-Seins« zu aktivem Eingreifen aussehen könnte, ohne dass dabei noch mehr Zerstörung im globalen Porzellanladen angerichtet wird; wie schließlich eine Zeit DER bzw. FÜR Aktion beschaffen sein könnte.
Christian Höller: Sie haben sich in den letzten Jahren mit einer Reihe von Phänomenen beschäftigt, die Sie mit der Formel »Gesellschaft im Belagerungszustand« 5 auf den Punkt gebracht haben. Insbesondere sehen Sie die gegenwärtige Gesellschaft – oder besser gesagt: die westlichen Gesellschaften – von zwei Kräften »in die Zange genommen«, die auf Anhieb sehr unterschiedlich und unzusammenhängend wirken. Zum einen ist dies ein massiver Druck »von oben«, das, was gemeinhin als Globalisierung bezeichnet wird; zum anderen handelt es sich dabei um eine fragmentierende Kraft »von unten«, das, was in der zunehmenden Diversität individualisierter Lebensformen sichtbar wird – in der »Lebens-Politik«, wie Sie diese Sphäre auch nennen. Zwischen Globalisierung und Lebens-Politik tut sich eine immer größere Kluft auf, ein sich ausbreitendes Vakuum, in und mit dem auch die Möglichkeit einer emanzipatorischen, demokratischen Politik zu schwinden scheint. Welche Affinitäten bzw. welche bedeutenden »Disjunkturen« 6 sehen Sie zwischen diesen beiden Sphären am Werk? Und worin bestehen ihre dramatischsten Auswirkungen auf die Gesellschaft?
Zygmunt Bauman: Tatsächlich schien es in der Geschichte der Moderne lange Zeit so, als wären Macht und Politik gewissermaßen »natürliche Partner«, wie geschaffen füreinander. Sie mussten sich bloß noch vermählen und sollten daraufhin zusammen bleiben, »bis der Tod sie scheidet« (genauer gesagt, hätte eine Trennung den Tod beider bedeutet, da keiner den Abschied des anderen überlebt hätte). So betrachtete man den Staat in seiner spezifisch modernen Form des »Nationalstaates« als natürliches Habitat dieses Paares. Es wurde keine eheliche Untreue, geschweige denn ein Ehebruch geduldet. Wie Max Weber beobachtet hat, beanspruchte der moderne Staat das Gewaltmonopol, und da die Fähigkeit zur Zwangsausübung das entscheidende Charakteristikum von Macht war bzw. es in der Politik ganz zentral um die Anhäufung, Verteilung und Anwendung von Macht ging, konnte das besagte Gewaltmonopol nur dadurch erreicht und gesichert werden, dass die Verwaltung von Macht und Politik unter einen Hut gebracht wurde. Natürlich wurde dieses Modell nie zur Gänze verwirklicht, aber es deutete den Horizont an, wie das menschliche Zusammenleben gestaltet und auf ein solides, lang anhaltendes und vernünftiges Fundament gestellt werden sollte. Das Hinarbeiten auf dieses Modell machte den Kern des »Zivilisationsprozesses« aus – der erklärte Zweck und die innere Logik der »Modernisierung«.
Gegenwärtig verlassen beide Partner diesen gemeinsamen Haushalt oder leben dort nur noch zeitweilig. Die Macht verflüchtigt sich aus dem Staat nach oben, hin zu überstaatlichen Strukturen, ins Niemandsland der globalen »Extraterritorialität«. Gleichzeitig »tropft« und »sickert« die Politik immer mehr nach unten, in den Raum der so genannten Lebens-Politik. Diese beiden Prozesse sind nicht bloß miteinander verknüpft, sondern gar nicht anders vorstellbar, als dass sie den jeweils anderen verstärken, beschleunigen und intensivieren. Je weniger Macht im staatlichen Gebäude vorhanden ist, desto weniger erwarten die politisch Handelnden von den geschwächten Staatsorganen. In der Folge werden auch immer weniger politische Anliegen mit Überzeugung an den Staat herangetragen. Je mehr sich umgekehrt die Politik vom Staat abkoppelt, desto weniger ist dieser in der Lage, die Überreste seiner ehemals souveränen Mächte im Zaum zu halten, da diese sich nun frei bewegen können und eifrig daran arbeiten, sich aus der quälenden politischen Kontrolle zu befreien. Das Ergebnis ist die Spaltung zwischen einer Macht, die sich von der Politik befreit hat, und einer Politik, die von der Macht nicht mehr unterstützt wird. Und mitten drinnen das halb leere Haus des Staates: Die eine Wand ist vom Abriss bedroht, die andere steht kurz vor dem Einsturz – was keinen besonders attraktiven Ort
für ein weiteres Zusammenleben von Macht und Politik darstellt.
Der globale Raum ist jener Bereich, in dem die Macht frei von politischen Einschränkungen agieren kann. Das individuelle Leben hingegen ist zur Sphäre einer Politik geworden, die nicht mehr die Macht hat, sich selbst zu behaupten. Die Folge davon ist eine Art globaler Porzellanladen, der jedem entschlossenen Elefanten weit offen steht; eine andere Konsequenz liegt darin, dass die Individuen vergeblich damit ringen, die vielen privaten Probleme und Risiken einzudämmen, zu denen die öffentlichen Fragen, die vormals von einem mächtigen Staat gehandhabt wurden, buchstäblich »zerbröselt« sind.
Höller: Im Hinblick auf die Globalisierung scheinen ja selbst zwei offensichtlich widersprüchliche Kräfte am Werk zu sein. Auf der einen Seite erkennt man eine zunehmend »herrenlose Welt«, in der sich Souveränität immer mehr zu verflüchtigen scheint
und in der, wie Sie sagen, »alles mögliche passieren, aber nichts dagegen getan werden kann« 7. Auf der anderen Seite etabliert sich im Gefolge der ungleichen Globalisierungsprozesse 8 so etwas wie eine NEUE globale Herrschaft – eine Form der Machtausübung, die auf einer fortschreitenden politischen Fragmentierung (von Staaten, Territorien, etc.) und der ungehinderten Durchsetzung des freien Handels beruht. Wie sind diese beiden Tendenzen innerhalb der Globalisierung miteinander verknüpft? Gibt es, anders gefragt, ein »systematisches« Muster hinter der »neuen globalen Unordnung«?
Bauman: In der Tat: Je schwächer die politisch Handelnden »dort unten« werden und je weniger Konsequenzen ihre Entscheidungen zeitigen, desto uneingeschränkter kommen sich die Macht-Spieler »da oben« vor und desto ungestümer agieren sie. Dadurch wird ein Prozess in Gang gesetzt, der stark an Gregory Batesons »schismo-genetische Kette« erinnert: Je skrupelloser und arroganter sich der eine Gegner in einer Konfrontation verhält, desto demütiger und ergebener wird der andere; schließlich stärkt
dessen erbarmungswürdiger Zustand die Unverfrorenheit und Überheblichkeit der mächtigeren Seite, welche die andere in eine noch stärkere Unterwürfigkeit zwingt, ohne dass dabei ein Ende in Sicht wäre.
Ich möchte dem Ganzen noch einen entscheidenden Aspekt hinzufügen, nämlich den der »Tyrannisierung«. Ein zunehmend deregulierter und ungehinderter Freihandel ist ganz sicher oberster Beweggrund, Zweck und Resultat des gegenwärtigen schismo-genetischen Prozesses, die Hauptursache dafür, dass man den Staat aller Ressourcen und Vorrechte zu entledigen versucht, mit denen er effektiv Macht ausüben könnte. Demgegenüber werden aber nackte Gewalt, Zwangsausübung, militärische Macht sowie die Fähigkeit zu töten und zu verstümmeln ständig bereit gehalten und auch regelmäßig eingesetzt, und das auf höchst spektakuläre Weise. So wird jedes gelegentliche Aufflackern einer ausgleichenden Macht zerstört, bevor diese zu stark werden kann, um das Herumkommandieren bzw. die Speichelleckerei, wie es heute an der Tagesordnung steht, zu durchbrechen. Und so stellen Ungleichheiten in der militärischen Machtverteilung, vielmehr noch als Unterschiede in ökonomischer Hinsicht, die wichtigste Ressource dar, mit der die globalen Mächte die Etablierung eines planetarischen Ausgleichssystems erfolgreich verhindern. Ein Gleichgewichtsmechanismus, der beispielsweise auf der Ebene des Nationalstaates ehemals dafür gesorgt hat, dass sich Macht und Politik gegenseitig festigen und zugleich beschränken.
Die Rede von einem »globalen System« kommt also, um es gelinde zu sagen, höchst verfrüht. Das auffallendste Merkmal der neuen planetarischen Unordnung ist nämlich genau ihre Nicht-Systematik. Gesellschaftliche Einheiten lassen sich auf sinnvolle Weise als »Systeme« beschreiben (das heißt, als regelmäßig, von Regeln geleitet, nach bestimmten Mustern verfasst und daher auch in gewissem Ausmaß vorherseh- und kontrollierbar) – dank der ausgleichenden Wirkungen von wechselseitig aufeinander abgestimmten »Subsystemen«, seien diese politisch, militärisch, ökonomisch, juridisch, kulturell etc. Auf planetarischer Ebene hingegen sind einige Elemente, die einst in das gesellschaftliche System des Nationalstaates integriert waren, geradezu spektakulär abwesend. Demgegenüber sind jene Elemente, die teils oder noch ganz vorhanden sind, deutlich aus den Fugen geraten. Es handelt sich dabei entweder um »Alleingänge« oder um höchst widersprüchliche Zielsetzungen. Was nicht existiert, sind beispielsweise eine globale Kultur, ein globales Rechtssystem oder eine globale Gesetzgebung. Dagegen laufen die sich abzeichnende globale Politik und global gepredigte Moralprinzipien ganz deutlich dem zuwider, wofür die global agierenden ökonomischen und militärischen Kräfte stehen.
Unfreiwillige Touristen
Höller: Globalisierung wird häufig als zunehmende Extraterritorialität beschrieben. Diese basiert ganz entscheidend auf der Ressource Mobilität, die von unterschiedlichsten sozialen Schichten geteilt wird, von den Machteliten bis hin zu verarmten Flüchtlingen – dies jedoch auf höchst unterschiedliche Weise. In dieser Hinsicht sprechen Sie auch von einer strukturellen »Ähnlichkeit« zwischen Global Players und Flüchtlingen bzw. MigrantInnen, von »Touristen und Vagabunden« 9, wie Sie sagen. Wie lässt sich diese Ähnlichkeit angesichts der wachsenden Differenz zwischen beiden Extremen verstehen? Und wie steht es um die Signifikanz der beiden exemplarischen Figuren Tourist und Vagabund, wo doch, wie Sie selbst sagen, Mobilität für 98 Prozent der Weltbevölkerung überhaupt keine Option darstellt?
Bauman: Ähnlichkeit? Beide Extrempole der sich abzeichnenden globalen Hierarchie haben sich bereits in Bewegung gesetzt. Darin unterscheiden sie sich stark von der riesigen Schicht dazwischen, welche sie von beiden Seiten her erodieren. Diese Mittelschicht fühlt sich immer mehr dazu angeregt, vom Anschluss an die Oberschicht der Global Player und Touristen zu träumen, während sie gleichzeitig vom Albtraum geplagt wird, in die Unterschicht der Vagabunden und Flüchtlinge abzudriften. Aber die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung bleibt weiterhin an ganz bestimmten Orten sesshaft – etwas, das sich für Einzelne nur dann ändert, wenn das Netz der sozialen Beziehungen, das diesen Ort bislang definiert hat, sich plötzlich verändert.
Dies geschieht etwa dann, wenn der bisherige Arbeitgeber von einer anderen Firma geschluckt wurde, bankrott gegangen ist oder der/die Einzelne aufgrund von Einsparungsmaßnahmen mit einem Mal überflüssig wird; oder wenn die Fertigkeiten, die einmal das Fundament einer bestimmten gesellschaftlichen Position und der Selbstachtung bildeten, plötzlich obsolet sind; oder wenn die imaginäre Gemeinschaft, in der man sich einmal aufgehoben fühlte, den/die Einzelne/n nicht mehr unterstützen kann oder dich im Stich lässt. In all diesen Fällen kann es vorkommen, dass man zu einem unfreiwilligen Touristen, einem Vagabunden wird und all das zurücklassen muss, was man naiverweise als »die eigene Welt« begriff, um seinen Unterhalt anderswo zu verdienen. Egal, wie sicher die Verankerung in der Welt zu einem bestimmten Moment erscheint – man weiß heutzutage, dass all das passieren kann, und wenn es so weit ist, hat man wenig Mittel zur Hand, um die Katastrophe abzuwenden.
Gegen das Schicksal, zu unfreiwilligen Touristen zu werden, hilft im Prinzip nur eines, nämlich zu »freiwilligen« zu werden. Sich an einem bestimmten Ort festzusetzen, bedeutet heute, ein enormes Risiko auf sich zu nehmen, sich zur Geisel eines ungeahnten Schicksals zu machen, ja geradezu das Unglück herauszufordern. Ist es daher nicht per se besser, alle Verbindungen eher lose, Verpflichtungen temporär, emotionales Engagement eher seicht, Bindungen kurzfristig und jederzeit widerrufbar anzulegen – sodass man jederzeit an einen besseren und komfortableren Ort weiterziehen kann? Und ist es angesichts der Leichtigkeit, mit der die unkontrollierbar und unkalkulierbar gewordenen Mächte heute selbst die scheinbar idiotensichersten Gewissheiten aus den Angeln heben, nicht besser, sich auf solche Sicherheiten und Gewissheiten erst gar nicht einzulassen?
So verschwindend die Kategorie der Flüchtlinge/Vagabunden heute im Weltmaßstab sein mag, so ist ihre Signalwirkung doch ungleich größer als ihr tatsächlicher Umfang dies erahnen lässt. Schließlich kann es jede/n treffen, und deshalb sind diejenigen, die bereits zu Vagabunden geworden sind, ein ständiges Mahnmal dafür, dass die Not über jede/n hereinbrechen kann. Dies erklärt vielleicht auch den vehementen Wunsch, sie wieder nach Hause zu schicken, sie wegzusperren, sie zu verscheuchen – aus den Augen, aus dem Sinn sozusagen.
Höller: Diesbezüglich sprechen Sie vom gegenwärtigen globalen Raum bzw. der neuen Art von Territorialität, die durch den »Raum der Ströme« entsteht, auch von einem »planetarischen Grenzland« (frontier-land) 10. Es ist dies ein umkämpftes Gebiet, in dem die Gegner sich ständig in Bewegung befinden und die politischen Koalitionen – wie es Donald Rumsfeld ausgedrückt hat – sich strategisch verschieben, also immer nur temporär sein können. Gleichzeitig ist dieser globale Raum von mehr und mehr Flüchtlingen gekennzeichnet, die zur Dislozierung gezwungen werden, entsprechend auch von mehr und mehr Flüchtlingslagern und der Einrichtung immer strengerer Grenzregime. Wie gehen diese beiden Tendenzen innerhalb des planetarischen Grenzlandes
zusammen?
Bauman: Es handelt sich hier um zwei Phänomene an den beiden Extrempolen der neuen globalen Hierarchie, die sich in erster Linie nach der ungleichen Verteilung einer bestimmten Freiheit bemisst – der Freiheit, sich in der Welt zu bewegen, bzw. dem Recht auf Mobilität. Diese Freiheit ist, sowohl in geografischer als auch in sozialer Hinsicht, deshalb so begehrt, weil sie die wichtigste Währung ist, mit der man sich alle anderen Werte erkaufen kann, etwa Sicherheit, nicht nur in physischer und körperlicher Hinsicht, sondern auch, was die soziale Position betrifft.
Die gängigste Strategie gegenwärtiger Machtkämpfe läuft darauf hinaus, die Hindernisse gegenüber der eigenen Mobilität der Reihe nach zu beseitigen und gleichzeitig die Bewegungsfreiheit anderer so weit wie möglich zu beschränken, insbesondere jene, die aus eigensinniger Initiative entsteht – die »nicht genehmigte« bzw. »illegale« Migration. Diese beiden, anscheinend gegensätzlichen Haltungen gegenüber der Bewegungsfreiheit sind in Wirklichkeit komplementär. Sie brauchen einander und ergänzen einander auch prächtig im gegenwärtigen Machtgefüge. Ein universell verfügbares Attribut kann ja kein Privileg darstellen, und nur durch die selektive bzw. spärliche Verteilung einer bestimmten Ressource kann es zu Entbehrungen kommen – und genau diese Privilegien und Entbehrungen sind es, welche den Kern des gegenwärtigen Machtkampfes ausmachen.
Das untrüglichste Kennzeichen von Machtbeziehungen und -kämpfen lag zu allen Zeiten in dem Privileg, »es sich zu richten«, was die Freiheit unerwarteter, nicht vorhersehbarer und irregulärer Schachzüge implizierte. Im Gegensatz zu all jenen, die diese Wahlmöglichkeiten nicht haben und in ihren Positionen gewissermaßen fixiert sind. Heute manifestiert sich dieser Gegensatz in erster Linie in der »Freiheit zu kommen und zu gehen« auf der einen Seite und einer gewissen »räumlichen Gebundenheit« auf der anderen. Die Freiheit zu kommen und zu gehen erlaubt es auch, »Hit-and-Run«-Taktiken anzuwenden, unerwartete Schläge, gegen die man keine Vorkehrungen treffen kann, auszuführen und sich nicht weiter um die Konsequenzen zu kümmern. Diese Möglichkeiten sind es, welche die Position der »Sesshaften« heute so anfällig und permanent verwundbar machen. Die Mobilität wäre kein Privileg und keine ernst zu nehmende Machtressource, wenn sie nicht von der territorialen »Fixiertheit« der Machtlosen ergänzt wird.
In den Augen der »Ansässigen« sind die MigrantInnen, welche diese permanent drohende Entwurzelung bereits anderswo erfahren haben, lebhafte Verkörperungen ihrer eigenen Ängste. Ihre Anwesenheit macht die Bändigung und Beschwichtigung dieser Ängste insofern schwierig, als sie unwiderlegbare Zeugen der entfesselten Mächte der Entwurzelung sind. Darüber hinaus geben die MigrantInnen, die aus ihren ehemaligen Domizilen vertrieben wurden und denen nun der Zutritt zu einem neuen Zuhause verwehrt wird, »leichte Opfer« ab – nicht zuletzt, um sie mit all der angehäuften Angst zu überschütten, die der Wirbelsturm an unkontrollierbaren, scheinbar blindwütigen und zufälligen Veränderungen im Gefolge der »Globalisierung« hat entstehen lassen. Sie sind eine Art Sicherheitsventil, welche das siedende Gebräu aus Furcht und Schrecken ableitet bzw. von dessen genuinen Ursachen ablenkt, nämlich von den Kräften, die am anderen, »flüchtigen« 11 und nicht belangbaren Ende der globalen Hierarchie operieren.
Globale Antworten
Höller: Mit der zunehmenden Globalisierung sehen Sie das »Zeitalter des Raumes« zu Ende gehen und ein »Zeitalter der Geschwindigkeit« heraufziehen. Den 11. September 2001 haben Sie diesbezüglich als besonders markanten Einschnitt beschrieben, der auf das »symbolische Ende des Zeitalters des Raumes« 12 verweist. Was die langen Nachwirkungen dieses Ereignisses betrifft, so wäre es interessant, ausführlicher über die Rolle des Terrorismus in Bezug auf die genannte Verschiebung zu sprechen. Zum einen dürften ja territoriale Überlegungen bei den 9/11-Angriffen durchaus zentral gewesen sein, etwa wichtige US-Wahrzeichen bzw. den Feind auf dessen eigenem Grund und Boden zu treffen. Zum anderen wurde uns dramatisch vor Augen geführt, dass selbst die neue Machtstruktur, die territorial ungebunden auf Geschwindigkeit und Beschleunigung beruht, keine bessere Immunität gegen solche Attacken bietet als das alte Regime der territorialen Festigkeit.
Bauman: Nun, der »freie Handel«, den keine lokale Macht bremsen kann, soll ja auch die physische Besetzung und Verwaltung bestimmter Territorien, etwa um dann Reichtümer ausbeuten zu können, überflüssig machen. Dies nehmen die global agierenden Mächte mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis. Schließlich stellen die Verwaltung eines Territoriums, die Erledigung der Tagesgeschäfte sowie die Etablierung von Recht und Ordnung eine lästige Verpflichtung dar, die schwierig und kostspielig ist und die man besser den Günstlingen und Speichelleckern überlässt (also »den Irakern selbst«, »den Afghanen selbst« oder den »Juniorpartnern in der Koalition«). Diesbezüglich gibt es nur wenige Ausnahmen, etwa Ölfelder, die karg gesät und anfällig für terroristische Erpressung sind und die eine zentrale Rolle für die »Lebensweise« spielen, welche die globalen Mächte als Privileg aufrechterhalten möchten und um deretwillen sie globale Kriege anzetteln.
Die andere Sache, die Sie ansprechen, betrifft den Terrorismus, der heute genauso wie die globalen Kräfte, die er angreift, extraterritorial agiert. Territoriale Kriege sind aus diesem Grund auch großteils irrelevant, was dessen Ausbreitung bzw. Eindämmung betrifft – auch wenn die Generalsstäbe der global agierenden Armeen dies nicht zugeben, wenn sie ihren raison d’être nicht ernsthaft untergraben wollen. TerroristInnen sind die unwahrscheinlichsten Opfer territorialer Kriege. Der proklamierte »Krieg gegen den Terrorismus« mag so gut wie alles zerstören, nur nicht den Terrorismus, der das erklärte Ziel dieses Krieges ist. Indem diese Kriege die lebens- und gesellschaftserhaltenden Routinen zerfetzen und aufreiben, machen sie im Prinzip die angegriffenen Territorien noch empfänglicher für terroristische Aktivitäten als zuvor.
Der Terrorismus lebt, so wie die anderen globalen Mächte auch, davon, nicht lokalisierbar zu sein. Er ist nicht »punktgenau« auszumachen, da er sich von den regulären Frontlinien und Schlachtfeldern fernhält. Vielmehr lebt er von Überraschungseffekten, sporadischen »Hit-and-Run«-Schlägen, auf die wieder lange Intervalle der Unsichtbarkeit folgen. Seine Stärke liegt genau in dem Geschick, Routinen zu durchbrechen und dort zuzuschlagen, wo man es am wenigsten erwartet hätte. Gegen dieses Phänomen hat territoriales Handeln schlichtweg keine Chance.
Der Kampf um mehr Sicherheit, der vor dem Unerwarteten schützen soll und von dem man einmal geglaubt hat, dass er durch immer dickere Stadtmauern und immer tiefere Wassergräben siegreich herbeigeführt worden wäre – dieser Kampf ist im »nach-räumlichen Zeitalter« aussichtslos geworden. Sein greifbarster, vielleicht der einzige greifbare Effekt liegt darin, dass er die Räder der globalen Kräfte ölt, deren Alter Ego er darstellt bzw. die er nachäfft und karikiert. Der Terrorismus ist vielleicht eine nicht vorhergesehene, aber nichtsdestotrotz unvermeidbare Konsequenz von Extraterritorialität und »Geschwindigkeitsregime«. Ein anderer Nebeneffekt ist das Wachstum der »Sicherheitsindustrie«, der ein langer, unaufhaltsamer Boom garantiert ist, und zwar absurderweise genau aufgrund ihrer Unwirksamkeit.
Höller: Sie weisen immer wieder darauf hin, dass es »keine lokalen Lösungen für globale Probleme« 13 geben kann, oder anders formuliert, dass »eine effektive Antwort auf Probleme der Globalisierung nur global sein kann«. Eine solche globale Antwort, etwa die Möglichkeit der demokratischen Kontrolle der extraterritorial agierenden ökonomischen Kräfte, hängt ganz entscheidend von der Einrichtung, der buchstäblichen Institution, einer globalen politischen Arena ab. Bislang zeichnen sich aber weder die Konturen einer solchen Arena ab noch ist klar, welches neue politische Subjekt – etwas, das dringend erforderlich ist – diese Arena bevölkern könnte. Die ökonomische Elite wird diese Rolle ganz sicher nicht übernehmen; nationale Regierungen und internationale Diplomatie sind für diese Aufgabe einfach nicht gerüstet; und selbst die »diffusen und sporadischen Antiglobalisierungsproteste« sind, wie Sie schreiben, »nur ein schwächliches Pendant zur konzentrierten Macht der multinationalen Konzerne, so tapfer und hingebungsvoll sie auch sein mögen« 14. Wer könnte also dieser neue politische Akteur sein? Und wie könnte der Weg zu besagter globaler Arena aussehen?
Bauman: Wir befinden uns gerade in einem Stadium der Experimente, vielleicht noch ganz am Anfang. Die Folgen der beschleunigten Globalisierung lassen sich noch nicht richtig abschätzen, und die sozialen Fähigkeiten, um ihnen entgegenzutreten bzw. sie zu zähmen, müssen erst erlernt werden. Vermutlich wird dies hohe Verluste mit sich bringen. Es ist einfach noch zu früh, um sagen zu können, welche endgültigen Formen die Kohabitation der Menschen auf dem Planeten annehmen wird. Nur eines lässt sich jetzt schon sagen: Allen gegenwärtigen und zukünftigen Anstrengungen muss die Aussicht einer »globalen Gemeinschaft« als verbindlicher Horizont dienen, nach dem sich die Richtigkeit jedes einzelnen Schrittes bemisst. Die zentrale Frage ist, um wie viel wir damit einer adäquaten Reaktion auf die Tatsache näher kommen, dass wir voneinander abhängig und daher auch füreinander verantwortlich sind. Ohne eine Praxis der Solidarität wird dies nicht gehen, schließlich bemisst sich auch die Tragfähigkeit einer Brücke nach der Stärke ihres schwächsten Pfeilers (und nicht nach dem statistischen Durchschnitt aller Brückenpfeiler). Entsprechend sollte auch die Solidarität einer Gemeinschaft am Wohlergehen und an der Würde ihrer schwächsten Mitglieder gemessen werden. Nimmt man diesen Standard her, so sind wir schockierend weit vom Horizont einer planetarischen Gemeinschaft entfernt.
Dazu nur kurz ein paar Beispiele: Die UNO bettelt gerade um 2,2 Milliarden Dollar, um dem vom Krieg verwüsteten Irak humanitäre Hilfe angedeihen zu lassen. Bislang sind sie auf eine Summe von etwa 390 Millionen gekommen, wobei die USA, die in erster Linie für die Zerstörung verantwortlich sind, 275 Millionen gespendet haben. Gleichzeitig haben die USA 55 Milliarden Dollar für die Kriegsführung ausgegeben, 450 Millionen alleine, um den Irak zu bombardieren. Für den Preis von zwei Cruise Missiles könnte man beispielsweise die 270.000 Hungeropfer in Angola einen Monat lang ernähren. Und mit 5,6 Milliarden Dollar, also einem Zehntel des Kriegsbudgets, könnten Schulen für die 115 Millionen Kinder errichtet werden, die weltweit ohne Schulbildung aufwachsen. Wenn man in Bezug auf den Irak etwa bedenkt, dass die meisten Wiederaufbauverträge (im Wert von 1,5 Milliarden Dollar) an amerikanische Firmen vergeben wurden und sich die amerikanisch-britischen Verbände 900 von 1.000 Ölquellen im Süden des Landes gesichert haben, so weist insgesamt wenig darauf hin, dass dieser Krieg geführt wurde, damit die Angreifer ihren Reichtum mit den verarmten Opfern teilen können, oder um das Elend der Welt lindern. Zwanzig Prozent der Menschheit besitzt heute 86 Prozent der globalen Reichtümer (vor zwanzig Jahren waren es »bloß« 76 Prozent), was den ärmsten zwanzig Prozent ganze 1,3 Prozent des Reichtums übrig lässt.
Die »globale Zivilgesellschaft« bildet sich vielleicht erst mit dem Aufbau einer planetarischen Demokratie aus. Aber dazu ist sicher etwas anderes erforderlich als auf Demonstrationen zu gehen und Protestaufrufe zu unterschreiben; in dieser Hinsicht hat es zuletzt kaum einen nennenswerten Fortschritt gegeben. Was jedoch in den weltweiten Antikriegsprotesten zu Tage kam, war eine Art »planetarischen Gemeinschaftsgefühls«, die schlagartige Entdeckung, dass die Menschen überall auf der Welt ähnliche Hoffnungen und Ängste teilen. Wir haben uns derart daran gewöhnt, die Welt in unterschiedliche, inkompatible und einander feindliche Ethnien, Kulturen und Religionsgemeinschaften einzuteilen, dass wir uns wundern, wie sie jemals friedlich miteinander auskommen sollen. Die Bilder menschlichen Elends, das der Krieg verursacht hat, förderten aber eine versteckte Wahrheit zu Tage, nämlich dass unter all der Fragmentierung eine miteinander geteilte Menschlichkeit liegt – was eine erste Voraussetzung für eine »planetarische Gemeinschaft« sein könnte. Dennoch sind es die Differenzen, die mit viel Aufwand gepflegt werden und unsere Energie verschlingen.
Darüber hinaus teilte die Antikriegsbewegung die Schwäche jeder »One Issue«-Bewegung: Sie verpuffte und verschwand, sobald das fragliche Thema nicht mehr auf der Tagesordnung stand, wobei nur wenige menschliche Bande bzw. wenige Spuren im Denken und alltäglichen Handeln zurückblieben. Es war also wieder einmal eine Art Karneval, und wenn der Karneval aus ist, gehen die Leute nach Hause und kümmern sich um ihre Alltagsgeschäfte. Eine Massenbewegung rund um ein einzelnes Thema aufzubauen, hat aber noch weitere Nachteile: Es verbünden sich dabei Gruppen und Leute mit höchst unterschiedlichen Motiven und Zielen, und vorübergehend vergessen sie ihre Kontroversen. Die Gründe für ihre Unstimmigkeiten und Feindschaften werden dabei bloß suspendiert, nicht jedoch direkt angesprochen oder gar beseitigt. Dieser Anschein von Einheit macht es im Endeffekt sogar noch schwieriger, mit den Differenzen, oder was immer die zeitweiligen Kampfgefährten entzweit, zu Rande zu kommen. Sobald der vereinigende Anlass wegfällt, nehmen auch die Unterschiede wieder überhand, oftmals verstärkt durch die frische Erinnerung an die neuerliche Frustration.
Kein entscheidender Schritt in Richtung globaler Zivilgesellschaft oder planetarischer Gemeinschaft kann erzielt werden, wenn man sich nicht schnurstracks mit der globalen Ungleichheit und Ungerechtigkeit beschäftigt, die unserem gegenseitigen Misstrauen, unseren Vorurteilen und Feindschaften zugrunde liegen. Und wenn keine ernsthafte, konzertierte Anstrengung unternommen wird, sie zu lindern bzw. auf lange Sicht ganz aufzuheben.
Englische Originalversion online.
1 Zygmunt Bauman: Liquid Modernity. Cambridge/Oxford 2000; ders.: The Individualized Society. Cambridge/Oxford 2001; ders.: Society Under Siege. Cambridge/Oxford 2002; ders.: Liquid Love. Cambridge/Oxford 2003.
2 Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust. Cambridge/Oxford 1989; deutsche Ausgabe: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1994.
3 Vgl. dazu auch das biografische Interview von Madeleine Bunting,
»Passion and Pessimism«, in: The Guardian, 5. April 2003; http://books.guardian.co.uk/review/story/0,12084,929598,00.html
4 Globalization. The Human Consequences. Cambridge/Oxford 1998.
5 Vgl. Bauman: Society Under Siege.
6 Vgl. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis/London 1996, S. 27 ff.
7 Bauman: Society Under Siege, S. 18.
8 Zur Widersprüchlichkeit und Gegenläufigkeit der Globalisierungsprozesse vgl. etwa David Harvey: Spaces of Hope. Berkeley/Los Angeles, 2000, S. 60 ff.
9 Vgl. Bauman: Globalization, S. 77 ff.
10 Vgl. Bauman: Society Under Siege, S. 90 ff. und ders.: Liquid Love, S. 135 f.
11 »Flüchtige Moderne« heißt dementsprechend auch die deutsche Ausgabe von Baumans »Liquid Modernity«, die im Juli 2003 im Frankfurter Suhrkamp Verlag erscheint.
12 Bauman: Society Under Siege, S. 87.
13 Ebda, S. 18 und 110.
14 Ebda., S. 217.