Budapest. Ist es uns inzwischen möglich, die politischen und sozialen Umwälzungen innerhalb Ungarns seit 1989 abzuschätzen? Vielleicht, beschäftigen sich doch die SoziologInnen und andere SozialwissenschaftlerInnen damit, diese Transformationen in Zahlen auszudrücken (die dann wiederum von ausgedehnten Verbalanalysen begleitet werden). Äußerst rar hingegen waren Versuche, diese Veränderungen zu visualisieren, und in Kunstprojekten im öffentlichen Raum gab es diese überhaupt nicht. Dies ist einer der Hauptgründe, warum das Projekt »Moszkva tér« als ein einzigartiger Versuch in Ungarns zeitgenössischer bildender Kunst angesehen werden muss.
Wenn wir Kunst als jenen Bereich ansehen, in dem symbolische Güter getauscht werden, könnte uns das »Moszkva tér«-Projekt überraschen, und zwar durch eine Vielzahl an Arbeiten, welche die klassischen Formen kapitalistischer Ökonomie als ihren Ausgangspunkt und ihr konstituierendes Element verstehen. Diese Arbeiten bieten entweder Dienstleistungen an (etwa Carey Youngs »Conflict Management«-Stand, an dem auch professionelle Mediatoren mitarbeiten) oder fordern das Publikum zur bezahlten Mitarbeit auf (etwa János Sugárs »Time Patrol«, ein auf dem Platz abgestellter Wohnwagen, in dem Leute für zehn Minuten ununterbrochenen Sprechens 4.000 Forint bekommen). Sugárs Arbeit kann auch als alternatives wirtschaftliches Modell für die Finanzierung kultureller Produktion angesehen werden: Die von ihm gesammelten Texte werden in einem Heft veröffentlicht, das direkt am Platz verkauft wird, wodurch wieder neue Ausgaben finanziert werden können.
Balázs Beöthy hingegen kehrt die übliche Ökonomie des Bettelns um, indem er BettlerInnen Geld an PassantInnen austeilen lässt und dadurch subversive Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Sozialschichten provoziert. Diese Arbeit kann aber auch als Metapher für das gesamte Projekt gesehen werden, das auf dem Moszkva tér (Moskau-Platz) stattfindet – einer der komplexesten und kontroversesten öffentlichen Räume der Stadt. Nicht nur, dass dieser Platz ein wichtiger Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs ist, er ist auch ein berühmt-berüchtigter Schwarzmarkt und vorübergehendes Zuhause für Obdachlose. Auf einer Seite des Platzes befindet sich ein großes Einkaufs- und Erholungszentrum, in dem sich Kapital und »Neureiche« aus den Buda-Hügeln treffen.
Bik van der Pols Hommage an den ungarischen Künstler Miklós Erdély könnte als Metapher für die Bemühungen um eine ungarische Kunst im öffentlichen Raum verstanden werden. Während der Revolution 1956 stellte eine kleine Gruppe von Menschen (darunter Erdély) Schachteln in Budapests Straßen auf, um Geld für die Familien der Märtyrer zu sammeln. Bik van der Pol goss eine Version dieser Schachteln in Bronze, die nun nicht nur als Denkmal dient, sondern auch einen Umschlagsplatz für Gegenstände schafft, welche die einen nicht mehr brauchen und andere nehmen können. Meistens ist die Schachtel leer.
Das wirft eine grundsätzliche Frage in Bezug auf Kunstprojekte im öffentlichen Raum auf, aber auch in Bezug auf ihr Erscheinungsbild in diesem bestimmten lokalen Kontext. Im Fall von Museen und Galerien werden Menschen zum Publikum, sobald sie den Ausstellungsraum betreten. Tauchen Kunstwerke, die ohnehin schon nicht den Erwartungen der Menschen an Gegenstände der Hochkultur entsprechen, auch noch außerhalb ihres Sanktuariums auf, dann wird es für gewöhnliche PassantInnen problematisch, ja geradezu unmöglich, Publikum zu werden. Entweder, weil sie diese Objekte nicht als Kunst wahrnehmen, oder weil sie diese schlicht aus traditionellen ästhetischen Gründen ablehnen. Dennoch wird die Kunst im öffentlichen Raum hauptsächlich von öffentlichen Geldern finanziert.
Das »Moszkva tér«-Projekt versucht diese Fragen auf eine komplexe Weise zu stellen, sich ihnen zu stellen. Beispiel dafür ist ein Radioprogramm, das Teil von Bik van der Pols Projekt ist, in welchem er unterschiedlichsten Leuten eine Plattform bietet, auf der sie Beobachtungen und Gedanken zu diesem Platz formulieren können. Ein anderes Element – das Bistro auf der Terrasse des Metrogebäudes – dient nicht nur als Informationspunkt für die gesamte Veranstaltung, sondern auch als Treffpunkt für Menschen, die vielleicht nicht einmal wissen, dass sie gerade Teil eines Kunstprojekts sind.
Teilnehmende KünstlerInnen:
Sándor Bartha, Balázs Beöthy, Bik van der Pol (Rotterdam), Sándor Bodó, bp, Roza El-Hassan, Ágnes Eperjesi, Andreas Fogarasi (Wien/Paris), Tibor Gyenis, HINTS Institute for Public Art, IPUT (Superintendant: Tamás St.Auby), Stefan Keller (Zürich), Kis Varsó/Little Warschau, Andreja Kuluncic (Zagreb), Ilona Németh
(Dunajská Streda, Slowakei), János Sugár, Péter Szabó, Péter und Csaba Csiki (Cluj, Rumänien), Carey Young (London).
Kuratiert von Dóra Hegyi, organisiert vom Ludwig Museum Budapest – Museum of Contemporary Hungarian Art.