Heft 2/2003 - Time for Action


Spiegelverkehrtes Gedenken

»Wonderyears« befasst sich mit der »Rolle der Shoah und des Nationalsozialismus in der heutigen israelischen Gesellschaft«

Hito Steyerl


Eine Autobahn von einer Brücke aus gesehen. Es ist dunkel. In Zeitlupe fahren Autos heran, werden immer langsamer, halten schließlich mitten auf der Fahrbahn. Menschen steigen aus, und verharren fast regungslos, von hinten durch die Scheinwerfer im Gegenlicht angestrahlt. Nach einer kurzen Weile fahren sie weiter. Dieser Moment der Erstarrung ist zentraler Bestandteil eines Videoloops mit dem Titel »Trembling Time« von Yael Bartana. Was hier dokumentiert wird, ist eine Gedenkminute am israelischen Soldaten-Gedenktag, welcher der Erinnerung an diejenigen gewidmet ist, die im Kampf um Israel gestorben sind. In dieser Momentaufnahme wird auch das Thema der Ausstellung »Wonderyears« metaphorisch kondensiert: eine israelische Gedenkpolitik mit vielfältigen politischen Implikationen.

23 israelische KünstlerInnen befassen sich in der speziell für diesen Anlass kuratierten Ausstellung mit der Darstellung der Shoah und des Nationalsozialismus im heutigen Israel. »Wonderyears« wurde in einem zweieinhalbjährigen Diskussionsprozess von einem KuratorInnen-Team erarbeitet, von dem ein Teil in Israel und ein Teil in Deutschland lebt. Zentral ist die Auseinandersetzung mit einer Form der Shoah-Gedächtnispolitik in Israel, die von vielen der KünstlerInnen als festgefahren, ritualisiert und auch relativierend wahrgenommen wird. In seinem Katalogbeitrag verortet Moshe Zimmermann diese Thesen im historischen Kontext. Die Erinnerung an die Shoah sei – im Unterschied zu anderen Gedenkformen in der Diaspora – in Israel politisch vereinnahmt und nicht nur zum nationalen Gründungsmythos, sondern auch zur Legitimation gegenwärtiger Politik gegenüber der arabischen Welt geworden. Diese Übertragung der Situation der Shoah auf den Nahen Osten habe jedoch eine massiven Relativierung der Verbrechen der Deutschen nach sich gezogen, so Idith Zertal, und somit eine Opfer-Täter Dichotomie in die politische Landschaft der Gegenwart überführt, die sich als Sackgasse erweise. Dies kann vielleicht verkürzt als die innerisraelische Perspektive angesehen werden, ohne die die Ausstellung laut Katalog nicht verstanden werden könne. Viele Arbeiten, die diese Gedenkpolitik kritisieren, haben in einem deutschen Kontext noch einen ganz anderen Widerhall. Denn in Deutschland sind es zumeist Rechte und Nationalkonservative wie etwa Martin Walser, die zum Zwecke der Rehabilitierung des deutschen Nationalbewusstseins Aufrufe gegen eine angeblich zum Ritual erstarrte Gedenkkultur verbreiten. In »Wonderyears« wird Kritik an offiziellen Gedenkdiskursen hingegen vor allem von jungen KünstlerInnen artikuliert, die sich in ebenfalls in der Ausstellung gezeigten Interviews selbst eher dem linken politischen Spektrum zuordnen. So entsteht die absurde Situation, dass die Kritik an offiziellen Gedenkdiskursen in Israel und Deutschland jeweils vom entgegengesetzten politischen Spektrum formuliert wird und spiegelverkehrt komplementäre Gedenkdiskurse entstehen. Wo in Israel die Gedenkkultur patriotisch durchdrungen sein mag, wird sie in Deutschland zumindest von Rechten als nestbeschmutzerische »Dauerpräsentation unserer Schande« (Walser) verstanden und eher zögerlich in die neue Nationalkultur der Berliner Republik einbezogen.
In dieser komplizierten Situation entstehen Querschläger in der Lektüre der israelischen Arbeiten, vor allem dort, wo es um die Ironisierung und Banalisierung von Naziklischees geht. Zu den prominentesten Sujets, die in »Wonderyears« bearbeitet werden, gehört zum Beispiel Hitler, der in verschiedenen Arbeiten als Witzfigur dekonstruiert werden soll (Tamy Ben-Tor, Boaz Arad). Auch andere Nazi-Sujets wie Bilder von Nazigrößen (Dina Shenhav), gotische Schriftzüge (Avi Pitchon), Hakenkreuze und Nazidominas (Anat Ben-David), Operettenliedchen und anderer Nazikitsch werden appropriiert, parodiert und verballhornt. Diesen Hang zum Pop erklärt die Kuratorin Adi Nachman damit, dass andere, vor allem modernistische Kunststile schon zu sehr in die offizielle Erinnerungskultur integriert seien. In einem deutschen Kontext rufen diese Subversionsversuche auch Erinnerungen an die formal ähnlich operierende Tabubruchskultur der achtziger Jahre wach, die unentschlossen zwischen harmloser Ironie und faszinierter Identifikation lavierte. Durch diese Arten der Darstellung werden simple Klischees über den Nationalsozialismus nach dem Motto »Hitler als krankhafter Einzeltäter« eher wiederholt als dekonstruiert.

Neben dieser mehrfach vertretenen Herangehensweise finden sich jedoch auch etliche Versuche, die klischeehaften Zugänge nicht ironisch zu überspitzen, sondern einfach andere zu finden. Zu den spannendsten Arbeiten gehört die Videoprojektion »Joseph« von Lior Shvil. Das in Buchform kadrierte Video erzählt in scherenschnittartigen Vignetten die zionistische Modellgeschichte des Joseph, der zur Armee geht, das Land bebaut, etc. Die in harten Schwarzweiß-Tableaus erzählte Legende formuliert durch ihre harten Kontraste nicht nur die Dichotomien der zionistischen Mythologie. Sie nutzt die schwarzen Figuren auf weißem Grund auch, um auf diesem Umweg die in Israel marginalisierte Geschichte eines schwarzen Helden zu erzählen, und thematisiert so ein auf dem Konzept der »Whiteness« basierendes Verständnis von Nation. Auch die Arbeit »Sapta« von Hila Peleg-Lavi positioniert sich jenseits der Parodie. Sie basiert auf den Fotos ihrer Großmutter, die offensichtlich im Nachkriegsdeutschland ein vergnügtes Leben führte. Indem sich die Künstlerin in den Kleidern und Posen ihrer Großmutter re-inszeniert, identifiziert sie sich mit deren Selbstbewusstsein und ihrer Lebensfreude und distanziert sich somit vom Mythos des ewigen Opfers. Das Video »Collected Silences« von Doron Solomons arbeitet hingegen dokumentarisch. Es zeigt einen weiteren Gedenktag, diesmal den für die Opfer der Shoah. Auch hier hält das öffentliche Leben inne – Menschen erstarren auf der Straße und auf Gedenkfeiern. Solomons Video zeigt jedoch die vielfältigen Reaktionen auf die staatlich verordnete Gedenkminute. Neben verlegenem Herumstehen und ausdruckslosen Mienen zeigt das Video auch Momente echter Fassungslosigkeit. So entsteht ein breiteres Panorama von Reaktionen auf die offizielle Gedenkkultur, in der beliebige PassantInnen ganz verschieden adressiert und fixiert werden.

David I. Cohen-Tzedek wiederum montiert zwei Musikstücke ineinander – ein Liebeslied von Eduard Mörike und einen Ausschnitt aus dem orthodoxen jüdischen Gebetsbuch. So entsteht ein sadomasochistisches Liebesduett. In Mörikes Lied wird Liebe als ebenso unerfüllbares wie sadistisches Spektakel fantasiert, in dem die Erfüllung darin besteht, dass Mädchen sie brav wie Lämmer auf der Schlachtbank über sich ergehen lassen. In dieses Lied hineinmontiert ist ein Passus aus dem Gebetsbuch. Dort wird wiederholt, dass man die Juden wie die Lämmer für die Schlachtbank bestimmt habe. Hier ergänzen sich zwei Fantasien: die eine von der masochistischen Wiederholung eines auf ewig festgeschriebenen Opferstatus, die andere, sadistische, von der Erfüllung der Liebe durch endlose Qual dieses Opfers. Beide Fantasien ergänzen sich. Die Arbeit lässt sich auch als Metapher für die in Deutschland und Israel spiegelverkehrt komplementären Gedenkdiskurse lesen, welche die Herausbildung eines universalistischen, nicht ausschließlich national kodierten Modus des Gedenkens als derzeit fast unlösbare Aufgabe erscheinen lässt.

 

 

NGBK und Kunstraum Kreuzberg Bethanien, 26. April bis 1. Juni 2003