Heft 3/2003 - Netzteil


Kunst ohne KünstlerInnen

Interview mit der türkischen Medienkunstgruppe xurban über die Problematiken »östlicher« Gegenwartskunst

Aras Ozgun


Die zeitgenössische türkische Kunstszene ist der neoliberalen Kulturökonomie nur zu einem relativ geringen Grad untergeordnet, obwohl es zwischen beiden Bereichen auch gut sichtbare Übergänge gibt. Doch auch hier gelten die Regeln des Firmensponsorings; die einzigen Veranstaltungsorte in Istanbul, welche die öffentliche Ausstellung heimischer und internationaler Kunstproduktionen gewährleisten, finanzieren sich auf diese Art und werden noch dazu von zwei Kuratoren monopolisiert, die einander nicht ausstehen können – nicht aus ästhetischen Gründen, sondern weil der Topf einfach nicht groß genug ist. Nichtsdestotrotz ist in Istanbul im Zuge der kulturellen Austauschsysteme, welche die Global Economy mit sich bringt, immer häufiger zeitgenössische Kunst aus anderen Teilen der Welt zu sehen und heimische KünstlerInnen, wenn sie von Haus aus wohlhabend oder einfach nur verwegen genug sind, sich auf die Konsequenzen einzulassen, haben jetzt bessere Chancen, die Kunstszene in den USA oder Europa live zu erleben. Dort werden sie als erstes mit der Schwierigkeit konfrontiert, gegen europäische und amerikanische KollegInnen antreten zu müssen, welche wiederum über ungleich höhere finanzielle Ressourcen verfügen, sei es durch Stipendien, Sponsoring oder andere Mittel – selbst Sozialhilfe stellt für anatolische KünstlerInnen ein unerreichbares Maß an finanzieller Sicherheit dar. Es stellt sich allerdings noch ein weiteres Problem: Ähnlich wie von einem türkischen Anthropologen ganz selbstverständlich erwartet wird, dass er das Dorfleben in Anatolien untersucht, geht man auch bei türkischen KünstlerInnen davon aus, dass sie sich mit den Problemen des Frau- oder Schwulseins in einer fundamentalistischen, patriarchalischen Gesellschaft auseinandersetzen, exotische Bilder von Armen in den Straßen der Slums von Istanbul zeigen, von den kulturellen Schwierigkeiten und der traurigen Orientierungslosigkeit türkischer MigrantInnen berichten oder aber, dass sie an perverse erotische Fantasien vom Orient appellieren, die sich noch aus den Überresten desinformierter kolonialistischer Vorstellungen speisen. Andere kritische Themen sind europäischen und amerikanischen KünstlerInnen vorbehalten, insbesondere, wenn es um deren urbane Kultur oder politischen Systeme geht. Auch die thematische Auseinandersetzung mit anderen Regionen oder Arbeiten, die von Merkmalen anderer Kulturen geprägt sind, haben dieses »Lizenz«-Problem – entweder man gehört der entsprechenden Kultur an oder man kommt aus dem Westen. Irgendwann wird es dann wieder attraktiver, nach Istanbul zurückzukehren und dort davon zu profitieren, »als KünstlerIn eine Weile in New York gearbeitet zu haben«, um unter vernünftigeren Lebensbedingungen an dem arbeiten zu können, was einen interessiert.

Und doch bieten diese Bedingungen einen fruchtbaren Raum, der für türkische und andere gleichermaßen nicht-westliche KünstlerInnen gewisse Vorteile bringt und durch sie auch der Kunstwelt eine potenzielle Öffnung schafft; gemeint ist der intellektuelle Reichtum des Aufwachsens in einer von Gegensätzen geprägten Übergangsphase. Eine bestimmte Gruppe von KünstlerInnen, die in den achtziger Jahren aufgewachsen sind oder Jüngere, die ein gewisses politisches Bewusstsein entwickelt haben, konnten sich mit früheren gesellschaftlichen Bedingungen vertraut machen, ohne sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Sie folgten weder dem Avantgardismus der siebziger, noch kauften sie dem Neoliberalismus der neunziger Jahre seine »neuen Werte« ab. Sie interessieren sich nicht für den Kunstmarkt, distanzieren sich von der firmengesponsorten Kunstwelt und versuchen, innerhalb des allgemein nutzbaren öffentlichen Raums verortet zu bleiben – wobei diese Art des gemeinnützigen Raums im Westen durch die zunehmende Privatisierung öffentlicher Bereiche immer mehr verschwindet. Sie sind keine »professionellen KünstlerInnen«, sie verdienen ihren Lebensunterhalt am äußeren Rand der Kulturindustrie oder durch andere Arten von intellektueller Arbeit, was ihnen die Freiheit gibt, ohne die durch kommerzielle Mechanismen oder den Wettbewerb um Stipendien auferlegten Einschränkungen zu arbeiten. Mit dieser Kombination stehen sie in der Tradition einer hoch intellektuellen, experimentellen und politischen Kunstpraxis – etwas, das die Türkei in der offenen und politisierten Atmosphäre der siebziger Jahre vermissen ließ und das heute durch die Institutionalisierung der zeitgenössischen Kunst auch im Westen weitgehend aufgegeben, ignoriert oder dekontextualisiert worden ist – und kultivieren so den bio-politischen Bereich des Alltags. Unterstützt wird dies durch eine Art umgekehrten technologischen Vorteil: Obwohl sie mit ähnlichen digitalen Technologien arbeiten wie ihre europäischen oder amerikanischen KollegInnen, können sich diese »KulturproduzentInnen« gebrauchsfertige Technologielösungen meistens nicht leisten, was sie im Gegenzug dazu zwingt, ein besonderes technisches Können zu entfalten, ihre Technologien praxisnaher anzuwenden und manchmal sogar eigene Technologien zu entwickeln.

In kürzester Zeit hat sich so in der Peripherie des Empires die viel versprechende Situation einer neuen kollektiven Subjektivität ergeben sowie eine neue Form von künstlerischer Praxis, eine Kunst ohne »KünstlerInnen« und »Kunstinstitutionen«: etwas, das in den »Nervenzentren« vermutlich unmöglich geworden ist.

Das Kollektiv xurban zählt zu diesem neuen Typus von »KulturproduzentInnen« – oder »fortgeschrittenen AmateurInnen«, wie sie sich selbst nennen. Sie leben in Ankara/Istanbul/New York und arbeiten mit Fotografie, Video, Computergrafik, Installationen und interaktiven Medien. Sie signieren ihre Gemeinschaftsprojekte als Kollektiv und sehen die kollektive Arbeit als Möglichkeit, die problematische Identität von KünstlerInnen überwinden und aus der künstlerischen Praxis heraushalten zu können. Ihre Kollektivarbeiten wurden in den vergangenen Jahren auf der Venedig Biennale, in Istanbul, den USA und Deutschland ausgestellt. Außerdem nehmen sie heuer an der Istanbul Biennale teil.

Aras Ozgun: Ihr arbeitet als Kollektiv. Welche Ressourcen und Konsequenzen ergeben sich aus der »kollektiven Arbeit« und wie bewertet ihr eine kollektive Form künstlerischer Produktion in Bezug auf »die Subjektivität der KünstlerInnen«?

xurban: Die kollektive Arbeit macht mehr Spaß als die Vorgehensweise eines selbstreflexiven künstlerischen Egos. Das prozessorientierte künstlerische Kollektiv ist nicht auf so etwas wie göttliche Inspiration, Träume, Kindheit und persönliche Lebenserfahrung angewiesen. Der Dialog innerhalb des Kollektivs wird zu einer intellektuellen Projektion, vorwiegend politischer Natur. In diesem Sinne wächst das »Kreative« über sich hinaus, und »ich/wir« verständigen uns über eine gemeinsame ethische Haltung zu den Objekten der »künstlerischen Arbeit«.

Aras Ozgun: Sicherlich kann man im Bereich der künstlerischen Produktion und Verbreitung von gewissen strukturellen Unterschieden zwischen Ost/Türkei und West/anderswo sprechen. Worin bestehen diese Unterschiede und wie beeinflussen sie die künstlerische Produktion – formal und inhaltlich? Wie verhalten sich diese strukturellen Unterschiede zur Subjektivität der KünstlerInnen? Wie sieht eure Erfahrung im Umgang mit diesen Unterschieden aus – in eurer Arbeit hier und dort? Welche politischen Konsequenzen haben diese Unterschiede in einem allgemeineren Kontext?

xurban: Diese Frage ist schwierig zu beantworten, denn innerhalb der verschiedenen Arten von »Okzidenten« gibt es immer auch »Oriente« und umgekehrt. Das ausgedehnte transnationale Territorium ist zwar mit einer quasi-homogenen kulturindustriellen Schicht überzogen, dennoch sind die sich zufällig ergebenden Merkmale der verschiedenen Schauplätze sehr spezifisch. Je weiter man nach Osten kommt, desto mehr scheinen die archäologischen Schichten der politischen Realitäten miteinander zu verschmelzen. Anders als das westliche Erbe müssen sich die nicht überlieferten »Geschichten« dieser Verschmelzung und Umkehrung (Unterdrückung/Widerstand) feldarchäologischer Methoden bedienen, das heißt, der Beobachtung und Ausgrabung in situ. Der Irak ist ein treffendes Beispiel aus der jüngsten Geschichte. Uns geht es nicht um die strukturellen Unterschiede der Kunstproduktion, wir konzentrieren uns auf die wahrnehmbare Seite dieser Schichtung, darauf, wie die Schichten miteinander verschmelzen und wie eine Beobachtung aussehen kann, die wiederum die Gesamtheit mit einbezieht, egal ob im Osten oder Westen. Die Werkzeuge dieser Suche sind dann insofern auch universell, als das Kollektiv das Privileg besitzt, in beiden geografischen Bereichen operieren zu können. Während der Diskurs der hegemonialen Weltherrschaft an den genannten Schauplätzen durch die Praktiken der jeweiligen Verwaltungen lizenziert wird, versuchen wir, uns mit Alternativen zu Militarisierung und territorialer Vorherrschaft auseinander zu setzen. Aufgrund unserer ethischen Haltung wissen wir, dass die Beobachtung bzw. Sammlung dieser Alternativen mehr wiegt als eine reaktionäre Position.

Aras Ozgun: Könnt ihr etwas zu eurem jüngsten Projekt sagen?

xurban: Für unser Projekt für die 8. Istanbul Biennale haben wir eine Art Mission geplant. Sie besteht in der Aneignung und Überführung eines Treibstofftanks aus Südostanatolien, der Beschaffung der notwendigen Mittel für eine Überlandfahrt von Istanbul in die Region und zurück und der Dokumentation der Aktion mit verschiedenen Medien wie Fotografie, Video, Ton etc. Die Arbeit selbst wird die Ausstellung eines obsolet gewordenen Objekts sein, das früher für den transnationalen Transport von Öl genutzt wurde, sowie des Prozesses/Protokolls seiner Beschaffung.
Vor gar nicht allzu langer Zeit waren fast alle Lastwagen im Güterverkehr zwischen der Türkei und dem Irak mit speziellen Stahltanks – eigens angefertigt, um an der Unterseite der Fahrzeuge montiert zu werden – für den Schmuggel von Dieseltreibstoff zurück in die Türkei ausgerüstet. Vogelfrei und unnütz erinnern diese an den Überlandstraßen verstreut liegenden Tanks an einen einst florierenden Tauschhandel. Wir möchten eine archäologische Feldstudie dieser Behältnisse durchführen (als handele es sich um Jahrtausende alte Amphoren aus Anatolien) und eines davon mit zurückbringen – als Objekt höchster Plastizität, ja sogar Ehrfurcht.
Wir glauben, dass diese Odyssee von Istanbul in den Südosten und zurück eine Panorama-Ansicht des Landes, der Leute und der Landschaft offenbaren wird. Der Preis ist ein besonderes Objekt, einst mobil, nun geerdet, das wiederum eine andere hoch dotierte Substanz enthält. Die grenzüberschreitende, transnationale Reise des Behältnisses und der (ehemals) darin enthaltenen Substanz wird am Ausstellungsort als seinem finalen Bestimmungsort zu Ende gehen. Wir stellen uns diesen Ort sehr steril vor, in reinem Weiß gehalten und extrem hell ausgeleuchtet, so dass es zu einer totalen Entfremdung des ausgewählten Objekts und der Videodokumentation seiner Beschaffung sowie der räumlichen Bedingungen ihrer Existenz kommt.
Für xurban war der Informationsfluss über verschiedene Netzwerke von jeher ein wichtiges Thema; der physische Transfer der Mitglieder war dagegen nie eine notwendige Bedingung. Mittlerweile ist uns bewusst geworden, dass in allen globalisierten Transfersystemen wertvollen Gütern (etwa Öl) eine ungeheuer hohe Priorität beigemessen wird, während Menschen zu Subjekten der Eindämmung werden, deren internationale Mobilität eingeschränkt wird. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, uns ein Objekt anzueignen, das in einer Zeit der Eindämmungspolitik durch Zoll- und Grenzkontrollen große Entfernungen zurückgelegt hat. Hier ergibt sich ein Kontrast zu den Jahrtausende alten Handelstraditionen des »fruchtbaren Halbmonds«. Die Gegenüberstellung der historischen und zeitgenössischen Bedeutung dieses Prozesses hat für uns einen hohen Stellenwert.
»The containment contained« ist ein ehrgeiziges xurban-Projekt. Der »Südosten« gilt schon seit Jahrzehnten offiziell als Gebiet erhöhter Alarmbereitschaft und birgt in diesem Sinne seine eigenen Risiken sowie den Anschein einer Distanz, was uns betrifft. Insofern ist die Reise selbst eine Reflexion über Geografie und die Ausgelaugtheit der dortigen Bevölkerung, die aber erhellt wird von dem Mitgefühl, das wir alle aus unserer Sicht in diesem Teil der Welt erleben, ganz besonders in schwierigen Zeiten wie diesen.

Aras Ozgun: Was kannst du zu den intellektuellen Ressourcen eurer künstlerischen Praxis sagen; welche Art von Ideen, Themen, Problematiken beeinflussen eure Arbeit? Wie verortet und definiert ihr eure Arbeit innerhalb der zeitgenössischen Kunstszene, sowohl in der Türkei als auch der »Kunstwelt« im Allgemeinen?

xurban: Die Mitglieder von xurban gleichen Jägern in einer urbanen Landschaft. Das »Flanieren im Rückwärtsgang« führt uns stets an die desolaten, vernachlässigten, verfallenen und verlassenen Schauplätze der Metropole als Zeichen der Zeit. Diese Abscheu vor dem »Bürgerlichen« ist nicht neu, doch birgt die kindliche Faszination für das Katastrophale auch die Hoffnung auf Erlösung; das haben wir mit den Underdogs der Städte gemeinsam. Außerdem haben wir bemerkt, dass diese Sensibilität in den unterschiedlichen geografischen Zonen, Ost und West, existiert und immer dann die Oberhand gewinnt, wenn wir uns in Gesellschaft der Unterdrückten befinden. Bei der derzeitigen Verteilung von internationalem Kapital und Macht ist dies ganz besonders ausgeprägt. Wie wir auf unserer Website dokumentieren, sind viele der für uns interessanten Themen fotografisch gesehen mit dem archäologischen Ausgrabungsort Stadt als Katastrophengebiet verbunden. Nun folgen wir den Zeichen der erweiterten Katastrophe in eine pittoreske Landschaft, die früher auf unberührte Natur schließen ließ.
Die Aufzeichnung archäologischer Untersuchungen und Abläufe wird für gewöhnlich durch das Sammeln und Zueinander-in-Beziehung-Setzen von fotografischen Bildern ermöglicht. Wir neigen dazu, simultan an verschiedenen Schauplätzen existierende Situationen (etwa in New York und Istanbul) übereinander zu legen oder zeitgenössische und archäologische Trümmerschichten aus allen Jahrtausenden einander gegenüberzustellen. Das unterstützt uns in der Annahme, dass mögliche Alternativen zu bestehenden unterdrückerischen Systemen wiederkehren: Nur außerhalb des Staates und der Welt der Unternehmen ist es möglich, die wahrhaft zivilen Grundlagen des Daseins zu enthüllen.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen