Bozen. Sie steht einfach da, mit dem Rücken zur unbewegten Kamera. Um sie herum strömen die Fußgänger zielstrebig durch das Zentrum Tokyos. Wie in einem Ameisenhaufen drängen sich die PassantInnen zwischen die Frau und die Kamera, überschneiden sie teilweise und auch ganz, so dass sie sich für kurze Augenblicke in Luft aufzulösen scheint. Doch dann taucht sie wieder auf, völlig unverändert, unbewegt. Das kann jedoch nichts daran ändern, dass die Frau für ihre Umwelt Luft ist, von niemandem beachtet oder auch nur bemerkt. Als Individuum stemmt sie sich gegen die Masse und wird doch nur von ihr übergangen.
Dieses Video von Kim Sooja, »A Needle Woman« (1999-2001), ist so etwas wie das Kernstück der Ausstellung »Moltitudini – Solitudini« im Museion Bozen. Für 2006 hat die Stadt die Eröffnung eines neuen Museums für zeitgenössische Kunst angesetzt, doch bereits im Vorfeld gibt es hier eine Reihe von ambitionierten Ausstellungen zu sehen. Für »Moltitudini – Solitudini« wurde Sergio Risalti eingeladen, der ehemalige Leiter des Palazzo delle Papesse in Siena, der dort vier Jahre lang ein innovatives, von der Öffentlichkeit jedoch kaum beachtetes Programm gestaltete. Thema der Ausstellung ist laut Katalog das »Spannungsfeld zwischen Menschenmenge und Individuum, zwischen Massendasein und Vereinsamung«. Was wie eine Hohlformel für eine konzeptleere Gruppenausstellung klingt, entpuppt sich als eine durchaus angemessene Beschreibung für diese zwar lose, aber durchaus gelungene Sammlung verschiedener Ansätze der Auseinandersetzung mit dem Gefühl der Entfremdung des Subjekts von seiner Umwelt. Letztlich ist die Ausstellung jedoch zu verstehen als eine Reaktion auf die Destabilisierungseuphorie der neunziger Jahre, die angetrieben von den Gender Studies individuelle Freiräume und multiple Identitäten zelebrierte. Seit kurzem ist dagegen ein neues Verlangen nach Stabilität und Sozialität zu beobachten, das sich auch in der Besinnung auf die universalen Ideale der Moderne und auf Utopien niederschlägt (siehe die »Utopia Station« auf der diesjährigen Biennale in Venedig). »Moltitudini – Solitudini« versammelt Positionen, die sich dieser Sehnsucht auf analytische, melancholische oder wie bei Kim Sooja auf konstative Weise annehmen.
Noch drastischer als Kim Sooja demonstriert Francis Alÿs die Abgestumpftheit der Masse. »Re-enactment« (2000) zeigt in Realzeit wie der Künstler eine Pistole kauft, lädt und, sie locker in der Hand haltend, unbehelligt durch das Zentrum von Mexico City läuft. Alÿs führte diese Aktion zweimal durch, beim ersten Mal dauerte es über zwei Stunden, bis er festgenommen wurde. Wie bei Kim Sooja vermittelt sich hier in der öffentlichen Haltung keine Toleranz gegenüber Andersartigen, sondern reines Desinteresse.
Humorvoller beobachtet Alÿs Gruppenverhalten in »Sunpaths« (1999), in sechzehn Aufnahmen des zentralen Platzes von Ciudad de México zu verschiedenen Tageszeiten. Lediglich ein monumentaler Fahnenmast dekoriert diese unfreundliche, große Anlage, welche die Menschen stets nur passieren. Wie von übernatürlichen Kräften geleitet, orientieren sich die Wege der PassantInnen dabei am Schatten des Mastes. Allein im Morgengrauen scheint es für einen kurzen Moment Bewegungsfreiheit zu geben, da der Mast noch keinen Schatten wirft, und die Menschen verteilen sich ungeordnet über die gesamte Fläche des Platzes. Einen solchen Moment des Ausbruchs aus der freiwilligen Unterordnung unter ungeschriebene Gesetze zeigen auch Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger in ihren »Lift-ups« (1998-99). In den 60 Fotos von Lenzlinger umarmt Steiner fremde Menschen von hinten und hebt sie in die Luft. Als nahezu gewaltsamer Eingriff in die Privatsphäre zwingen diese Umarmungen ihre »Opfer« zur spielerischen Auflösung von Distanz und Konventionen. Doch egal ob männlich oder weiblich, Hindus, Buddhisten, Christen oder Moslems, die so Ausgehebelten reagieren fast alle ausgelassen und fröhlich.
Es ist eine Stärke der Ausstellung, dass es neben diesen analytisch-distanzierten Arbeiten auch solche gibt, in denen sich unmittelbar die ambivalente Sehnsucht nach zwischenmenschlichem Austausch und Geborgenheit bei gleichzeitigem Verlangen nach Rückzug und Isolation spiegelt. So spielen Andrea Zittels Miniaturinseln »Deserted Islands« (1997), die sie erstmals beim letzten Skulpturen Projekt Münster zeigte, genau mit dem Verlangen nach Interaktion und der Bewahrung der Möglichkeit des Rückzugs. Denn obwohl sie nur Platz für eine Person bieten, stoßen sie ständig auf weitere im Wasser treibende Inseln und bieten so die Möglichkeit einer unaufdringlichen Sozialität. So abschreckend diese Unverbindlichkeit heute auf viele wirken mag, so war sie doch ein Merkmal des weit verbreiteten Nomadenkults der neunziger Jahre. Exemplarisch wird in Bozen deshalb ein Lounge-Wohnwagen vom Atelier van Lieshout gezeigt: »Maxi Capsule Hotel Luxus« (2002). Während diese scheinbar so funktionalen Wohneinheiten in den Neunzigern tatsächlich als Gegenentwürfe zum bürgerlichen Einfamilienhaus gehypt wurden, hat sich dieses Freiheitspathos mittlerweile umgekehrt. Denn die Vorstellung vom Reisen, ohne jemals die eigenen vier Wände zu verlassen, wirkt heut ebenso eskapistisch wie spießig. Es kann jetzt offensichtlich nicht mehr darum gehen, immer weiter verästelte alternative Räume an den Rändern der Gesellschaft zu schaffen, vielmehr sind konzertierte Aktionen und weiter greifende Interaktion mit der Umwelt erstrebenswert. »Moltitudini – Solitudini« – mehr noch als die »Utopia Station« – zeigt dies deutlich.