Seit Mitte der neunziger Jahre formiert und institutionalisiert sich im angloamerikanischen Raum das interdisziplinäre Feld der Visual Studies. Im Gegensatz zu hiesigen Bemühungen um eine Entgrenzung der Kunstgeschichte in Richtung Bildwissenschaft und Bildanthropologie zeichnen sich die in den Visual Studies vertretenen Ansätze durch eine wesentlich stärkere kulturhistorische und diskursanalytische Orientierung aus. Ausgangspunkt ist die Annahme der radikalen kulturellen Kontingenz von Sehen und Sichtbarkeit. Historische Formationen des Sichtbaren und die korrelierenden Alltagsrituale des Sehens und Gesehenwerdens sind damit Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Machtanalyse. Untersucht wird, wie sich in einem komplexen Wechselspiel von Apparaten, Institutionen, Diskursen und Körpern jeweilig spezifische Ordnungen der Sichtbarkeit generieren, die wiederum als gesellschaftlich Imaginäres die entsprechenden Subjekte der Wahrnehmung konfigurieren.
Nach Christian Kravagnas »Privileg Blick« (1997) und Tom Holerts »Imagineering« (2000) liegt mit dem von Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer herausgegebenen Band »Visuelle Kultur: Körper, Räume, Medien« eine weitere Aufsatzsammlung vor, die den Versuch unternimmt, dem Ansatz der Visual Studies im deutschsprachigen Raum Gehör zu verschaffen. Unter dem schlagwortartigen Titel wäre eine hier noch ausstehende Bestandsaufnahme der Visual Studies zu erhoffen gewesen, die deren theoretische und methodische Orientierungen konturiert zur Darstellung bringt und in kritischer Differenz für hiesige Debatten fruchtbar macht. Stattdessen begnügen sich die Herausgeber in ihrer Einleitung mit einer jargonhaften Verdichtung der gängigen angloamerikanischen Einführungsliteratur. So wird ein potenziell kritisches Vokabular in apodiktischer Verkürzung fetischisiert und damit zugleich abgeschliffen und banalisiert. Trotz dieses ernüchternden Einmaleins vermeintlich avancierter Kulturkritik finden sich im Band einige wertvolle Beiträge. Hervorzuheben sind der übersetzte Auszug aus Iain Bordens »Skateboarding, Space and the City«, Anna Schobers »Close Ups in der Kinostadt« und vor allem Robert Pfallers »Die sichtbaren Sachen und das gesellschaftlich Imaginäre«. Gerade Pfallers Überlegungen zu Begriff und Funktion der »anonymen Illusion« als gesellschaftlichem Imaginären zeigen dabei einen produktiven Weg auf, ein Modell visueller Kultur zu entwickeln, das sich abseits des gängigen Theoriebestands der Kritik des Visuellen bewegt.
James Elkins positioniert sich mit seiner jüngsten Veröffentlichung als »kritischer« Vermittler auf dem blühenden Markt der angloamerikanischen Einführungsliteratur zum Thema. »Visual Studies: A Skeptical Introduction« versteht sich als Schulbuch, und zwar im doppelten Sinn: Zum einen will es in Geschichte, Methodik und Theorie der Visual Studies einführen, zum anderen Empfehlungen für die Entwicklung von Studiengängen im Feld geben. Dabei sind Elkins’ Ausführungen durch einen frappierenden Mangel an Abstraktionsvermögen gekennzeichnet. Hier herrscht die Diktatur der Liste und die Logik der Wunderkammer: Dies alles gibt es also. Was bei mehrseitigen Aufzählungen von diversen amerikanischen und europäischen Studienprogrammen, Publikationen und Gegenstandsbereichen der Visual Studies gerade noch als ermüdender Beleg ihrer zunehmenden Verbreitung und Diversifizierung angehen mag, wird spätestens beim Versuch einer theoretischen Bestimmung des Feldes durch AutorInnenlisten untragbar. In einer weiteren Liste, einer 10-Punkte Reformagenda, formuliert sich dann auch Elkins’ »Skepsis« gegenüber dem Status Quo der Visual Studies. Diagnostiziert wird im Kern ein Mangel an historischer Tiefe, eine zu schmale theoretische Bandbreite und eine zu geringe Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Bildgebungsverfahren. Ob diese Diagnose zutrifft, mag diskutabel sein. Elkins’ erratische Ausführungen sind dabei jedenfalls keine Hilfe.
Mit Jonathan Crarys »Aufmerksamkeit« ist bereits im letzten Jahr immerhin ein wichtiger Repräsentant der Visual Studies in deutscher Übersetzung erschienen. Crary führt hier sein Projekt einer diskursanalytischen Genealogie des modernen Betrachters mit leichter Akzentverschiebung fort. Während die »Techniken des Betrachters« die Ablösung des im Modell der Camera Obscura repräsentierten kartesianischen Wahrnehmungs- und Erkenntnissubjekts und dessen konsekutive Verleiblichung in der physiologischen Optik des frühen 19. Jahrhundert nachzeichnen, konzentriert sich seine neue Studie auf das im ausgehenden 19. Jahrhundert in sozialen, ästhetischen und philosophischen Zusammenhängen virulent werdende Problem der Aufmerksamkeit. Die kulturelle Schlüsselstellung, die das Problem der Aufmerksamkeit zu dieser Zeit einzunehmen beginnt, versteht Crary als Symptom und Antwort auf eine sowohl epistemologisch wie auch sozial begründete »Krise der Wahrnehmung«. Der Ressource Aufmerksamkeit kommt dabei in beiden Fällen die Rolle einer Vermittlungsinstanz zu, die neue Formen »perzeptueller Synthesis« hervorbringt. In erkenntnistheoretischer Perspektive verspricht die Kategorie der Aufmerksamkeit, dem durch die Entdeckung der körperlichen Eigentätigkeit von Wahrnehmung instabil gewordenen Subjekt eine neue, wenn auch temporär variable Kohärenz zu verleihen; also sowohl die flüssig gewordenen Bewusstseinsinhalte im Blick des Subjekts auf sich selbst zu organisieren wie auch das destabilisierte Verhältnis von Subjekt und Welt zu regulieren. Im Reich des Sozialen wird hingegen Aufmerksamkeit zum Gegenstand perzeptuell operierender Technologien der Macht, welche die durch die Sprengkraft kapitalistischer Entwicklungsdynamiken atomisierten Individuen als kontrollierbare Masse reorganisieren. Hier beschreitet Crarys Denken im Grunde die gangbaren Wege einer Theorie des Panoptismus und der Gesellschaft des Spektakels. Interessant sind seine Ausführungen aber vor allem deshalb, weil er immer wieder auf die unauslöschliche Ambiguität von Aufmerksamkeit hinweist, die er auch als wesentliches Strukturmoment der Bildwerke der frühen ästhetischen Moderne identifiziert. Die durch normierende Kontrolltechniken »transfixierte« und immobilisierte Aufmerksamkeit der Moderne, dieses »Bollwerk der Dissoziation«, droht permanent in ihr Gegenteil umzuschlagen: in einen schwebenden und unproduktiven Zustand der Trance, der sich der externen Reglementierung entzieht. Gerade in der Analyse der Zweischneidigkeit der kulturellen Phänomene der Moderne kann Crarys Arbeit als modellhaft dafür gelten, wie eine »Geschichte der Gegenwart« im Bereich der Visual Studies auszusehen hätte.