Heft 4/2003 - Artscribe
Zürich. Wenn heutzutage die Rede von Popmusik ist, befindet der Redner, gleichwohl wie der Akteur selbst, sich nicht mehr einer fest umrissenen Größe gegenüber, sondern immer schon mittendrin.1 Pop streamt, Pop ist überall. Wurden früher mit der Erfindung oder Erweiterung der Zeichensprache eines Stils oppositionelle und abgrenzende Markierungen gezogen, so ist zur Zeit eine Standardisierung der gesamten ehemals klar voneinander getrennten oder aufeinander bezüglichen Zeichensysteme zu bemerken. Die Distinktionskraft der Stile, deren Geheimsprache und Maskeraden ist mittlerweile als Abgrenzungsmodus zu einer gesellschaftlichen Realität unscharf geworden bzw. verschwimmt in einer bloßen Anhäufung von Zeichen, aus der sich alle bedienen. Um einer Vereinnahmung durch den Mainstream zu entgehen, wird die Konstruktion von neuen Zeichensystemen nicht mehr so offen ausgetragen. Dies zeigt sich derzeit in der Selbstorganisation kleiner Labels, Verwendung von ständig wechselnden Pseudonymen und der unablässigen Zirkulation von zitierenden Soundfragmenten und Remixen, die problemlos am eigenen PC produziert werden. (Pop-)Historisch gesehen entspricht dieser Vorgang der ganz normalen Logik einer Erneuerung von subkulturellen Praxen. Denn immer noch kennzeichnet das Wissen darum, »wer’s wie gemacht hat, und mit wem zusammen«, den Connaisseur der Szene.
Die Shedhalle hat mit der aktuellen Ausstellung den Versuch einer Bestandsaufnahme unternommen, die sie in den drei Formaten Archiv, Vorträge/Diskussionen und Konzerte präsentiert (Programm unter: www.musik-didactique.net). In der Ausstellungssituation wird dieser formale Ansatz von der ständigen Anwesenheit einer Bühne mit DJ-Pult und Mikrofonen repräsentiert. Weiters sind in der Ausstellungshalle, neben dem Archiv und der Bühne, die Überreste der Eröffnungsperformance von Chicks on Speed zu sehen. In lässig an die Wand gepinselten Lettern ist zu lesen: »The Fake (abgeänderter Schriftzug des Magazins »The Face«) – Chicks on Speed« und »More is moi«. Auf einem kleinen Monitor ist die Dokumentation der Performance zu sehen: Auf Stoffbahnen wird mittels Siebdruck das Coverbild der neuesten Chicks on Speed-Platte gedruckt, um danach daraus T-Shirts zu nähen, die im Publikum verteilt werden. Die Do-it-yourself-Message schlägt offensichtlich ein taktisches Unterlaufen der Modeindustrie vor.
Den Hauptteil der Ausstellungssituation nimmt jedoch eine mobile, inmitten der riesigen Shedhalle positionierte Kiste, gebaut aus Holz und LKW-Planen, ein. Durchbrochen von mehreren Regalen und Eingängen wird eine Art Medialounge sichtbar, in deren Inneren man sich auf leuchtenden, orangefarbenen Hüpfbällen verschiedener Größe niederlassen kann, um das Archiv zu benutzen. Es ist als eine Art »open source« gestaltet, aus der man sich der verschiedenen Medien bedienen kann. Das Archiv besteht aus einer Plattensammlung, die sich aus hauptsächlich deutschsprachigen »Szenelabels« wie Gigolo Rec., Force Inc./Mille Plateaux, Sonig, Mego oder Ladomat zusammensetzt, einer eher unorthodoxen Sammlung von Musikvideos und -DVDs (»Best Of«-Compilations, etwa von der Zeitschrift »Intro« bzw. einer HipHop-Camp-Dokumentation von Red Bull, daneben Videos von Terre Thaemlitz) sowie aus einer breit angelegten Sammlung von Texten und Büchern zu Poptheorie und -literatur. Für die Benutzung der verschiedenen Medien steht ein jeweils geeignetes technisches Gerät bereit. Doch wo anfangen? Jedes Archiv begegnet einem auf den ersten Blick als schweigendes Depot von repräsentativ angenommenen Objekten, die einem bestimmten Zusammenhang verpflichtet zu sein scheinen. Den Medien wird unterstellt, dass sie untereinander eine kulturelle Resonanz herstellen können. Beim Durchflanieren und Ausprobieren schwankt man zwischen Kontemplation und unruhigem Umhersuchen, stellt vermeintliche Lücken fest, hinterfragt den Repräsentationsgehalt der Objekte. Man ist unbemerkt schon mittendrin im Archiv und stellt Relationen her. Die beredten, zum Teil historisierenden Texte zur Poptheorie bilden einen krassen Gegensatz zu den in ihren Boxen »schweigenden« Plattencovern und deren Pseudonymkultur. Dieses Schwanken zwischen Handlungsunfähigkeit und dem Wunsch, sich am Archiv bedienen zu wollen, geht einher mit der offen eingestandenen Fragmentarität des Materials. Denn offensichtlich geht es hier auch nicht darum, etwas zu speichern, sondern es zu übertragen.
Während der Öffnungszeiten legt im Archiv in wechselnden Besetzungen ein DJ »thematisch« auf. Diese Performances könnte man als Vorlegen einer temporären Form eines historischen Entwurfes lesen, der am nächsten Tag jedoch schon wieder durch ein neues Set überlagert wird, und somit die Relativität, Temporalität und Bezüglichkeit im Umgang mit elektronischer Popmusik deutlich macht. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Formate und Ansprüche, seien sie künstlerischen, politischen oder popkulturellen Anliegen verpflichtet, verlangen offensichtlich nach einer Performanz, deren Botschaft sich erst dann von einem Rauschen abzuheben beginnt, wenn man die Spuren gut hinter-, neben- oder übereinander legen kann.
1 Vgl. Christian Höller, »Leben in, mit, durch und trotz Pop« in: Jochen Bonz (Hg.): Popkulturtheorie, Mainz 2002.