Heft 1/2004 - Netzteil


Digitales Russland

Eine Moskauer Großausstellung zwischen elektronischer Kunst und internationaler Unterhaltungsindustrie

Herwig G. Höller


»Ein neues Bezugsystem – digitales Russland gemeinsam mit X«1. Die Ausstellung, die diesen Titel trägt, wolle keine Netzkunst zeigen bzw. Kunst, die mit digitalen Technologien verbunden ist, sondern – so die Kuratorin Evgenija Kikodze von der Galerie Gel'man – Kunst (russischer, teils ukrainischer Provenienz) NACH dem Digitalen. Die durchaus ambitionierte Großausstellung, die Ende Dezember 2003 im Moskauer »Zentralen Haus des Künstlers« (CDCh) – einem zur Kunstgemischtwarenhandlung heruntergekommen Kunsttempel der Sowjetzeit – eröffnet wurde, präsentierte eine bunt zusammen gewürfelte Auswahl von mehr als dreißig künstlerischen Positionen: viel Malerei mit digitalen Querbezügen, etwa kunstgeschichtliche Screenshots von Georgij Pusenkov, Kerim Ragimovs Actiongame-
Szenen, platte Photoshopmontagen von Aleksandr Saburov und Slava Mizin, digital nachbearbeitete Fotografien aus der Serie »Half Action Life« von AES, 3D-Drahtgeflechte von Nadeêda Zubareva, Fotos von Dmitrij Prigov über den »Computer in der russischen Familie« (als Leselampe), oder die Dokumentation einer Polit-Demonstration mit Microsoft-Icons im öffentlichen Raum von Diana Maãulina & Artkamikadze.
Dass Russland dennoch nicht ganz digitalisiert sein kann, dass noch nicht jeder gehobene Mittelklassehaushalt über den
letzten Schrei an Unterhaltungselektronik verfügt, zeigte sich im »Engagement« eines internationalen Elektronikkonzerns, der sich nicht nur in den Untertitel der Ausstellung »hinein sponserte«, sondern dessen »Arbeiten« auch nahezu ein Drittel des Katalogs
ausmachen und prominent über die gesamte Ausstellung verteilt in schicken Glaskästen ausgestellt wurden.
Netzkunstansätze bzw. die VertreterInnen der russischen Netzkunst der neunziger Jahre suchte man hingegen nahezu vergeblich. Lediglich Aleksej Shulgin, der in den letzten Jahren künstlerisch vor allem im realen Raum gearbeitet hat, war am Rande mit einem Datenhelm vertreten. Der Prototyp des gemeinsam mit dem Aristarch Cernysev konzipierten Geräts erlaubt systematisch verzerrte
Blicke auf die Welt außerhalb des Helms. Kernstück des Helms ist die von Cernysev entwickelte »Shine Box«2, mit der ein »neues Fernsehzeitalter« eingeläutet werden soll.
Das kleine Kästchen, welches der Medienkünstler gar zur Serienreife führen und zu einer gängigen Komponente von Fernsehapparaten machen wollte, erlaubt eine Fülle statischer wie dynamischer Deformationen des gezeigten Fernsehbildes. Und reduziert damit das jeweils gewählte Fernsehprogramm zu einem mehr oder weniger ästhetischen Hintergrundrauschen bar jedes erkennbaren Informationsgehaltes. Abgesehen von dem Helm verwendete Cernysev die »Shine Box« auch in der ebenfalls ausgestellten Installation »Final adjustment«, die insbesondere jugendliche BesucherInnen zur Gewalt gegen (gepolsterte) Fernsehgeräte motivierte: Durch konventionelle Reparaturversuche des gestörten Bildes – in Form von Schlägen auf das Gerät – wandelte sich allerdings lediglich die Art der Bildstörung.
Völlig anders sind die Videos und Bilder der Künstlergruppe »Sinij sup« (Blue soup), die sich – zwei Mitglieder sind Designer des Moskauer Privatfernsehsenders STS – ebenfalls auf massenmediale Wirklichkeit beziehen lassen. War die Gruppe zuvor durch minimalistische, in der Regel abstrahierte zweidimensionale Videominiaturen aufgefallen, so zeigt man nun Dreidimensionales. Kurze 3D-Animationsvideos wie eine überdimensionale Light-Box, die eine computergenerierte 3D-Landschaft mit drei Frauen zeigt, erscheinen oberflächlich
brillant, wirken aber äußerst inhaltsleer. Oder wie kürzlich in einem Gerichtsgutachten3 zu lesen war: Die Hauptfunktion von »Sinij sup«-Videos sei die »Verstärkung depressiver
Stimmungen« bzw. das »Verunschärfen der Realität«.

 

 

1 http://www.russiadigital.ru; X ist der Name eines internationalen Unterhaltungselektronikkonzerns.
2 http://www.shining-tv.com
3 http://www.sakharov-center.ru/exhibitionhall/hall_exhibitions_religion_ostorojno.htm
Zum dritten Mal seit 1999 wird dieser Monate gegen zeitgenössische Kunst, konkret gegen die Ausstellung »Achtung, Religion!« (Andrej-Sacharov-Zentrum, Februar 2003), wegen Schürens von religiösem Hass (in Bezug auf die »Russisch-orthodoxe Kirche«) ein strafrechtlicher Prozess geführt.