Heft 1/2004 - Diadochenkultur?
»To veil or not to veil«, ist eine Frage, der sich muslimische Schülerinnen nach dem endgültigen Kopftuchverbot in französischen Schulen ebenso zu stellen gezwungen sehen wie amerikanische Musliminnen, die sich nach dem 11. September islamophoben Angriffen ausgesetzt sahen. Die »Wahl« zwischen Verhüllung oder Entblößung als eine Frage der kulturellen und politischen Positionierung von Frauen ist im Grunde so alt wie der Zusammenstoß islamischer Gesellschaften mit dem europäischen Kolonialismus. Und seither ist die Frage des Schleiers eine, die andere, wesentlichere Fragen ideologisch verbrämt. Erinnern wir uns etwa an das Argument der »Befreiung« der afghanischen Frauen in George W. Bushs Operation »enduring freedom«, so erscheint uns die vor hundert Jahren getroffene Feststellung der ägyptischen Feministin Malak Hifni Nasif aktuell, wonach die Fokussierung auf die Schleierfrage lediglich ein »Ablenkungsmanöver« sei. Die Rede vom Schleier als Symbol der Unterdrückung der Frau wäre demnach nicht nur eine, die soziale und politische Reformen zur Besserstellung von Frauen ersetze, ihre diskursive Prominenz wäre auch vom Westen vorgegeben, aufgegriffen vielfach von westlich orientierten Männern der Oberschicht, die die angebliche »Rückständigkeit« ihrer Kultur (ist gleich ihrer Frauen) an der Oberfläche bekämpfen wollen. Ablenkungsmanöver von der Ebene des Politischen auf die von Bekleidungsregeln, ob im Persien des Reza Shah oder im Europa der Gegenwart, wo es nicht selten die konservativsten Männer sind, die angesichts des Kopftuchs zu Feministen werden, zeigen eine historische Vielfalt und zugleich die Konstanz von symbolischen Kämpfen, die über die Körper(hüllen) von Frauen ausgetragen werden.
Gibt es überhaupt irgendein kulturelles Zeichen in den westlichen Medien und Diskursen, das zugleich so omnipräsent, so instrumentalisierbar und in seiner Bedeutungsvielfalt so unverstanden ist wie der Schleier/das Kopftuch, zu dem doch auch jede/r irgendeine Meinung hat? Ein derart ideologisch überfrachtetes Symbol gesellschaftlicher, kultureller und politischer Kämpfe zum Gegenstand einer Ausstellung zu machen, erhöht noch jenes Gefahrenpotential, das Versuchen, falsche Bilder durch andere zu ersetzen, an sich schon eignet. »Veil« ist aber ein überzeugender Beweis für die Möglichkeit, sich ins tiefe Wasser von Stereotypen zu stürzen und dabei für differenzierende Navigationen Anker zu setzen, weil hier zwar ein sowohl historisch wie motivisch facettenreiches Spektrum von Praktiken des Verschleierns ausgebreitet ist, aber eine kulturhistorisch-soziologische Zusammenschau vermieden bzw. ansatzweise in einem informativen Katalog beigestellt wird. »Veil« ist der Fall einer Ausstellung, die sich direkt aus der Arbeit von zwei kulturell »übersetzten« Künstlerinnen, Zineb Sedira und Jananne Al-Ani, entwickelt hat, das heißt aus langjährigen künstlerischen und lebenspraktischen Auseinandersetzungen mit kulturellen Differenzen, ihren Symbolisierungen, ihren diskursiven Verfestigungen und den Möglichkeiten ihrer Neuverhandlung. Auf einer solchen Arbeitsgrundlage konnte sich in Zusammenarbeit mit dem Londoner Institute of International Visual Arts (inIVA) ein kuratorisches Projekt entwickeln, das sich jeglicher Polemik oder »politischer« Verpackung verweigert und stattdessen auf die Sprachmächtigkeit ästhetischer Produktionen setzt, deren Qualität weniger in der Lust an der Behauptung als in der Öffnung von Fenstern auf die Multidimensionalität des Schleiers unter wechselnden Rahmenbedingungen liegt.
Angesichts verfestigter Vorstellungen ist der Ausstellung vorrangig an einer Verkomplizierung gelegen. Dies zeigt sich schon in der pointierten Auswahl der wenigen nicht-zeitgenössischen Arbeiten. Mit den Marokko-Fotografien des französischen Psychiaters Gaëtan de Clérambault ist ein westlicher Blick auf orientalische Frauen präsent, der vom orientalistischen Mainstream seiner Zeit, des frühen 20. Jahrhunderts, abweicht, da er sich nicht für ein wie auch immer imaginiertes Dahinter, sondern für die Kleidung und ihre Handhabung selbst interessiert. Clérambault, der sich zuvor schon in theoretischen Studien mit der Beziehung von Frauen zu Textilien beschäftigt hatte, dürfte – ohne dass dies eindeutig wäre – etwas wie eine Sprache des Schleiers im Sinn gehabt haben, eine Rhetorik der Hülle als weiblicher Kommunikationsform. Jedenfalls erscheinen die Frauen – bei aller Enigmatik – als Interpretinnen einer Konvention, und das macht diese Aufnahmen zu (im Westen) frühen Zeugnissen der subtilen performativen Dimensionen des sozialen Kontakts in islamischen Gesellschaften, die mit der genderspezifischen Reglementierung auch von Verbalsprache und Augenkontakt spielen. Die berühmten »Femmes Algériennes«, 1960 aufgenommen von Marc Garanger im französischen Militärdienst, bilden zu dem respektvollen Interesse Clérambaults den Gegenpol einer kolonialen Brutalität und ihrer Politik des Sichtbarmachens des Unsichtbaren. Garangers frontale »Porträts« zwangsweise entschleierter Frauen, die für Identitätsausweise angefertigt wurden, repräsentieren wie kaum ein anderes Dokument die enge Verschränkung von Herrschaftswillen und Frauenpolitik. Frantz Fanon hatte kurz vor der Entstehung von Garangers Fotos die politische Doktrin der französischen Kolonialverwaltung in klare Worte gefasst: »Wenn wir die Strukturen der algerischen Gesellschaft zerstören wollen, und damit ihre Fähigkeit zum Widerstand, so müssen wir uns zuallererst der Frauen bemächtigen; wir müssen sie finden hinter dem Schleier, wo sie sich selbst verstecken, und in den Häusern, wo sie von ihren Männern außer Sicht gehalten werden.«
Die koloniale Gewalt, die Garangers Bilder nach wie vor ausstrahlen, der Missbrauch ihrer Subjekte, macht die Ausstellung der Fotos unter Kunstwerken nicht unumstritten, wie anlässlich einer Diskussion in Oxford deutlich wurde, als eine junge Schwarze sie als eine Fortsetzung des Missbrauchs kritisierte. Tatsächlich hätte man diese Bilder etwas bewusster »framen« können, und es erscheint problematisch, sie in relativ großformatigen neuen Abzügen zu ästhetisieren. In scheinbar paradoxer Weise ist es jedoch für die kuratorische Absicht der Ent-Viktimisierung der islamischen Frau bedeutsam, in den mimischen Antworten der Entschleierten auf diese zugespitzte Konstellation von Repräsentation und Macht auch das Scheitern der visuellen Eroberungspolitik zu erkennen. Mit der physischen Enthüllung trifft der imperiale Blick in diesen weiterhin verschlossenen Gesichtern auch auf jenes Widerstandspotential, das Gillo Pontecorvo in seinem Film »The Battle of Algiers« (1965) so anschaulich macht. Die mit Laien und echten BefreiungskämpferInnen gedrehte Doku-Fiktion in Spielfilmlänge wirkt in ihrer Konfrontation von quasi-legitimen Operationen der Fremdherrschaft und terroristischen Methoden des Widerstand äußerst aktuell. Für »Veil« ist vor allem die Rolle der Frauen und die Funktion des Schleiers im Befreiungskampf interessant, wobei »Battle of Algiers« hier zumindest drei Phasen unterscheidet, die einander in relativ raschem Wechsel ablösen. Während die Verschleierung zunächst als antikolonialistische Verweigerung, als Beharren auf kulturellen Traditionen verstanden wird, folgt eine Phase der strategischen Verwestlichung, um den Frauen des Widerstands ein unauffälliges Bewegen durch die europäischen Viertel zu ermöglichen und dort ihre Bomben zu deponieren. Als die polizeilichen Kontrollen dann aber grundsätzlich alle betreffen, erhält die Wiederverhüllung der Körper eine neue Funktion als Tarnkappe direkt am Leib getragener Waffen und Sprengsätze. Mit all diesen Wechseln in der weiblichen Erscheinung gehen entsprechende Solidarisierungsbewegungen auch unter nicht-militanten algerischen Frauen einher. In einem völlig anderen Kontext, den USA nach dem 11. September, gab es ähnliche demonstrative Gesten. Während religiöse Instanzen den verunsicherten Kopftuchträgerinnen angesichts der Bedrohung die Entschleierung freistellten, legten viele Frauen, die nie ein Kopftuch getragen hatten, dieses aus Solidarität mit ihren zu Feindbildern gemachten Geschlechtsgenossinnen an.
Die Kuratorinnen selbst haben zu ihrer Ausstellung zurückhaltende, poetische Videoprojektionen beigesteuert. Zineb Sedira rekonstruiert in »Silent Sight« – das Video zeigt nur die Augenpartie einer Frau – Erinnerungen an ihre Pariser Kindheit in der algerischen Community, die sich um das Verhältnis des Mädchens zur verschleierten Mutter drehen, um visuelle Distanz und emotionale Nähe, um die Angst, die Mutter unterwegs zu verwechseln oder zu verlieren. Der gesprochene Text schließt mit Sätzen zu Entfremdung und Zugehörigkeit: »I think I got used to it. She felt protected by it. It was part of her home, my home.« Jananne Al-Anis »Untitled« zeigt das Bild einer Frau, die den Kopf vornüber beugt und sich ihre langen Haare bürstet. Paradoxerweise tritt hier das nach der Logik des Schleiers zu verbergende Haar an dessen Stelle, es verbirgt das Gesicht und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Aktion der Hände. Diese scheint eine Formalisierung anzustreben, eine bildhafte Fassung der vom materiellen Schleier losgelösten Verhüllungsidee.
Hier ist auf abstrakte Weise ein Gedanke angesprochen, der in der Ausstellung immer wieder auftaucht, die Frage nach Äquivalenten und Variationen der dem Schleiermotiv innewohnenden Unterscheidung von privater und öffentlicher Identität. So auch in den »Me«-Videos von Ghazel, kurzen Sequenzen, die oft in witzig-ironischer Weise die Künstlerin in ihrem Tschador bei allen erdenklichen Tätigkeiten zeigen, sowohl im Iran als auch im Westen. Ob sie in dem unpraktischen Kleidungsstück kocht, eisläuft oder rasenmäht, im Tschador als laszives Model posiert oder ihn ganz praktisch als Wetterschutz nutzt, der Schleier wird zum alltäglichen, multifunktionalen und kontextabhängigen Objekt. Während einige Szenen die Widersprüche zwischen einem modernen Leben und religiös motivierten Kleidungsregeln artikulieren, betonen andere Handlungsfähigkeit, Kreativität und Interpretationsspielraum im Rahmen der Regeln. Von Übersetzungsleistungen weiblicher Subjekte in den Übergangsräumen differenter Gesellschaften handelt auch Emily Jacirs »From Paris to Riyadh (Drawings for my Mother 1998-2001)«. Mit den Zeichnungen erinnert sich Emily Jacir an eine als Kind beobachtete Praxis ihrer Mutter, die über Jahre hinweg, im Flugzeug sitzend, die nackten Körperteile in westlichen Modezeitschriften schwarz übermalte, um so die saudi-arabische Zensur zu passieren. Jacir konfrontiert hier zwei Blickregimes, die in ihrer Bewertung von Sichtbarkeit divergieren – sie fordern bzw. verbieten – und sich dennoch in ihren (ökonomischen bzw. religiösen) Normierungsbestrebungen des Weiblichen treffen.
Während in diesen Arbeiten die Verhandlung kultureller und sexueller Differenzen in persönlich-biografischen Geschichten situiert ist, geraten direktere Adressierungen wie das Riesenfoto einer verschleierten Freiheitsstatue der Moskauer AES art group eher plump. Als eine dritte Variante steht neben Mitra Tabrizians Panorama zu den iranischen Umbrüchen des letzten Jahrhunderts eine großformatige Fotoarbeit von Faisal Abdu` Allah, in der Leonardo da Vincis Abendmahl in zwei Varianten neu inszeniert wird. Dieselben, zum Teil bewaffneten, schwarzen Protagonisten sind einmal »traditionell-arabisch« gekleidet, das andere Mal im amerikanischen Gangstarap-Stil. Christlich-abendländische Ikonografie wird hier an ihre verschleierten orientalischen Wurzeln rückgebunden und mit afroamerikanischen Provokationen einer weißen kulturellen Hegemonie verknüpft. Indem die Kostümierung beider Gruppen dem Differenz-Chic von Werbung und Medien angenähert ist, bringen Abdu` Allahs Fotos die Bedrohungsbilder westlicher Werte und ihre gleichzeitige Kompatibilität mit dem Kapitalismus zusammen.