Heft 1/2004 - Netzteil


Jenseits der Regelhörigkeit

Wie Videospiel-Kunst Bedeutungen von Software ändert

Alessandro Ludovico


Das Videospiel ist ein Medium mit eigener Sprache, die durch Regeln, Stereotypen und eigentümliche Feedback-Schleifen, resultierend aus der Interaktion mit dem Bildschirm, erzeugt wird. Gleichzeitig ist es eines der populärsten und durchdringendsten Medien, das Traum und Realität in all ihren Widersprüchlichkeiten repräsentiert. Eines der Schlüsselelemente ist das Spielen selbst, diese universale und instinktive Interaktionsmethode, die dem Vergnügen der direkten Belohnung zugrunde liegt. Mehr und mehr KünstlerInnen hacken sich in den Code der Spiele, um das Unterhaltungsparadigma zu dekonstruieren, fügen soziale Werte hinzu, rekontextualisieren die virtuellen HeldInnen und ihre Handlungen und unterwandern die Regeln konventioneller Gegenüberstellung. Auf diese Art werden die Bedeutungen definitiv geändert, die digitale Landschaft eindeutig manipuliert.

Das trifft etwa auf Joan Leandres wegweisende Experimente zu, die in einem eigenen Projekt namens retroyou.org ihren Ausdruck fanden. Er verändert versteckte Parameter, die Gesetze der Physik, die räumliche Ordnung und dadurch gleichzeitig auch die kollektive Bilderwelt elektronischer Spiele. Ähnlichkeiten dazu existieren im »subtraktiven« Ansatz von Cory Arcangels »Super Mario Clouds«, in dem von einem Super-Mario-Konsolenspiel nur noch Himmel und Wolken übrig bleiben und so eine beständige, minimalistische und konzeptuelle Landschaft entsteht. Oder etwa in der künstlichen Transparenz, die Tom Betts »QQQ« in populäre Spiele »einpflanzt«, um so ihre dreidimensionale Struktur zu enthüllen.

Unterschiedliche Kunstausstellungen wurden in den letzten Monaten der Videospiel-Kunst gewidmet: »« im Institute for Contemporary Art in Kapstadt, »Bang the Machine« im Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco, »Game Art« im Weltkulturerbe Völklinger Hütte in Völklingen oder »Games – Computerspiele von KünstlerInnen« im Phönix West in Dortmund. Auf der letztgenannten Ausstellung wurden die Arbeiten von Leandre, Arcangel und Bett gemeinsam mit einer Vielzahl anderer Arbeiten präsentiert, die alle grundsätzlich auf die »Videospiel-Kultur« im Ganzen bezogen waren. Die zuvor erwähnte Bildschirmsucht etwa wird in »Shooter«, einem faszinierenden Video von Beate Geissler und Oliver Sann, beeindruckend in Szene gesetzt: Aus Sicht des Bildschirms wurden auf LAN-Parties Ego-Shooter-SpielerInnen und ihre schnell wechselnden Gefühlsausdrücke (Glück, Verwirrung, Konzentration) gefilmt. Und klassische Videospielkonventionen wie der Kampf gegen die Invasion von Außerirdischen können, in einen realen Kontext übertragen, über die sicheren Grenzen des Bildschirms hinaus die Unbestimmtheit einer natürlichen Landschaft durchscheinen lassen. »Space Invaders« (http://www.space-invaders.com), worin Pixelmosaike aus dem gleichnamigen Spiel in ein urbanes Gebiet einbrechen, inszeniert Angriffe auf verschiedene Städte auf der ganzen Welt und zeichnet sie anschließend auf einer Karte ein. Die symbolischen »Eindringlinge« tauchen plötzlich auf Brücken, Museumswänden, in der Nähe von Eingangstoren, auf Gehsteigen – oder wo immer ihr Macher sie insgeheim anbringen kann – auf. Laut Eigenaussage handelt es sich dabei »um eine Art elektronischen Virus«. Virtuelle Charaktere auf die Straße zu bringen, ist eine Frage der Rekontextualisierung, aber ebenso eine der »Identität«. Sich auf dem digitalen Bildschirm widergespiegelt zu finden, heißt, die Identität zu wechseln bzw. oft auch, einen vorgeformten Charakter zu personifizieren.

Im von Mathias Fuchs und Sylvia Eckermann entwickelten »fluID« (http://www.t0.or.at/~fuchs-eckermann/fluID), geht es hingegen darum, die eigene Identität zu finden, zu zerstören, sie einer anderen Person zu klauen oder zu leihen. Anfangs wird eine öffentliche Repräsentation ausgehandelt – die SpielerInnen beginnen ohne Gesicht, Kleidung und Geschlecht –, die anschließenden Zwischenstadien haben hypnotischen Charakter und reichen von Spiegeln, die das eigene Bild reflektieren und verzerren, bis hin zu endlosen Duplikaten der eigenen Repräsentation – ohne die Möglichkeit, dies alles selbst zu steuern. Die »Konstruktion« des Selbst ereignet sich auf der anderen Seite des Schirms und favorisiert Perspektiven, die im letzten Jahrzehnt ins Blickfeld gerückt sind.

Einer der Hauptzweige der Videospielkunst nutzt die offenen 3D-Engines (Doom, Quake, Marathon und andere), um eine neue Art von Erzählungen in einer gesellschaftlich akzeptierten Ästhetik zu schaffen: aus subjektiver Perspektive. In der Folge erwächst
ein Verständnis für die Strukturen, das es erlaubt, über kulturelle Produktionsmittel selbst zu verfügen, um unabhängige Inhalte zu schaffen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung garantieren. Dies ist eine Form von kulturellem Widerstand, der die Realität in eine neue narrative Repräsentation verwandelt und so der Gut-Böse-Dichotomie, wie sie 99 Prozent der kommerziellen Spiele durchzieht, ein Ende setzt. Soziale und politische Inhalte werden mit genügend Sarkasmus transportiert, wie etwa der Kampf gegen die Auswüchse genetischer Manipulation in Cmielewski/Starrs »Bio-tek kitchen«.

Jeremiah Johnson (Nullsleep) hingegen ersetzt in seinem »SARS Kung Fu Hack« (http://www.8bitpeoples.com/nullsleep/treasure/SARS_Kung_Fu.html) im alten Arcade-Stil den Kampfsport Kung Fu durch den SARS-Virus (beide aus »dem Osten kommend« und gefährlich). Die einzig verbleibende Verteidigung besteht nicht etwa darin, schnell zur Seite zu springen und anzugreifen, sondern im Anlegen ikonischer Schutzmasken. Eine alltägliche Plage tritt an die Stelle epischer Herausforderung, und ihre ungleich drastischeren Effekte zeichnen die erschreckten SpielerInnen. Ein anderer visueller Klassiker ist die isometrische Perspektive von schräg oben, die von John Haddock in seiner Serie »Screenshots« genutzt wurde, um berühmte Fotos in Screenshots zu übersetzen, sprich: in Archetypen der (gedruckten) statischen Erscheinung von Videospielen. Auch im »Fake Screenshot Contest« (http://www.tmpspace.com/fakescreen/screenshots.php) wird der Screenshot als Artefakt benutzt, in diesem Fall als »Existenzbeweis« des Spiels. Die Score-Tabellen sind hier Maßstab einer echten Handlung und übersteigen damit die festgelegte Funktion, Zeuge für die Regelhörigkeit der SpielerInnen zu sein. Ebenfalls ein Schritt in die Richtung einer aktiven, kritischen und befreiten Konstruktion von Videospielen.

 

Übersetzt von Brandon Walder